Schattenspiele

Goce Smilevski hat einen extravaganten Roman über Sigmund Freuds Schwester Adolfine geschrieben

Von Galina HristevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Galina Hristeva

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Freud sells“, denkt man beim Anblick des Romans „Freuds Schwester“ des jungen mazedonischen Autors Goce Smilevski. Das zuerst auf Mazedonisch erschienene Buch, für das Smilevski 2011 den European Union Prize for Literature erhalten hat, ist inzwischen in mehr als dreißig Sprachen übersetzt worden. Man erwartet eine weitere Freud-Biografie mit eventuell etwas verlagertem Schwerpunkt, womöglich eine der zahlreichen Freud-Bashing-Studien, an denen es in den letzten Jahrzehnten nicht gemangelt hat (vgl. etwa Eva Weissweiler: Die Freuds. Biographie einer Familie. Köln 2006). Und doch ist „Freuds Schwester“ kein Buch nur über Freud, kein Roman nur über die Psychoanalyse, keine Biografie und trotz der Ich-Perspektive auch keine Autobiografie von Freuds Schwester Adolfine. Ebenso wenig bietet das Buch aber „ein großes und schillerndes Panorama der Zeit um 1900“, wie der Klappentext verspricht. Und trotzdem ist es ein Roman über die Jahrhundertwende, aber ein schmalspuriger und dies nicht nur, weil aus der Perspektive einer einzigen Figur erzählt wird und ein sehr exzentrischer.

Smilevski ist nicht der erste Autor, welcher der Faszination der Jahrhundertwende erliegt. Im Unterschied zu anderen Schriftstellern aber, die Augen nur für den Charme dieser Zeit, für den verführerischen Reiz einer „fröhlichen Apokalypse“ (Hermann Broch) hatten oder neben dem Untergang auch den Neubeginn sahen, hat Smilevski die Jahrhundertwende in einen alldurchdringenden, beinahe zersetzenden Schmerz getaucht. Neben Freud und dessen Schwestern Adolfine, Pauline, Marie und Rosa lässt er auch Gustav Klimts Schwester Klara sowie Kafkas Schwester Ottla wiederauferstehen. Die Jahrhundertwende aus der Sicht der Schwestern großer Männer – und aus der Sicht der Insassen psychiatrischer Anstalten, zu denen zeitweise auch Klara und Adolfine gehören. Und nicht zuletzt, ja sogar zuallererst im Roman aus der Sicht einer Insassin des Konzentrationslagers Theresienstadt – Adolfine Freud. Fin de Siècle-Bilanz im Angesicht des Todes – aber nicht des mehrfach von Dekadenzautoren um 1900 imaginierten, überschwänglich heraufbeschworenen und ästhetisierten Todes, sondern des sicheren und lautlosen Vernichtungstodes im KZ, der Adolfine bevorsteht: „Ich sah, wie sich alle Greisinnen so schnell wie möglich auszogen. Mit halb erstarrten Fingern rissen wir uns die Kleider vom Leib, waren nackt, mit nichts an uns als der schlaffen Haut, den hängenden Brüsten und Bäuchen, den mit blauen Adern überzogenen Beinen, den verkrümmten Händen und dem fauligen Atem, der sich mit dem säuerlichen Geruch unserer Körper vermischte.“

„Am Anfang meines Lebens war der Schmerz“, so beginnt Adolfines Rückblick auf ihr Leben und somit das dichte und oft undurchsichtige Gewebe dieses Romans. Von der Protagonistin entfaltet wird ein umfangreicher Schmerzkatalog, der auch für den Leser leicht die Grenze des Erträglichen sprengen würde, wäre nicht Smilevskis beinahe hypnotische Kunst der Wiedergabe dieses Schmerzes. Adolfine leidet an ihrer Mutter und an deren wiederholten Äußerung „Hätte ich dich doch nie geboren.“, an der abgöttischen Liebe der Mutter zu ihrem „goldenen Sigi“, Sigmund Freud. Sie leidet unter der Entfremdung ihres Bruders Sigmund, mussten sich doch die ehemals wie „verbundene Gefäße“ zusammengehörenden Geschwister früh voneinander lösen. Schmerz beim „Anblick des Unterschieds zwischen unseren Körpern“, beim „Gedanken an das Erwachsenwerden und die Trennung von der Kindheit, von der Vorahnung, dass mein Leben und sein Leben nicht weiterhin gemeinsam verlaufen, sondern getrennt auf den Tod zuschreiten würden“. Schmerz infolge des Verlusts des Geliebten Rainer und des Verlusts der Leibesfrucht einer großen Liebe, von der nur ein blutiger Fleck an der Wand übrig geblieben ist. Schmerz wegen des Todes der Freundin Klara und bittere Pein und Verwundung, vom Bruder Sigmund nicht in die Freiheit des Exils mitgenommen worden zu sein, während sein Hund mitreisen durfte. Am eindringlichsten vermittelt wird dieser überbordende, maßlose Schmerz durch einprägsame Einzelszenen wie derjenigen, in der Freud vor der bestürzten Adolfine masturbiert oder derjenigen, in der er von seinem Hund bei der Abreise nach London in den Finger gebissen wird.

Adolfine, Klara und die anderen weiblichen Figuren in diesem Roman sind keine Heldinnen, sie lehnen sich jedoch auf ihre Art und Weise gegen die Dominanz der Männer, ihrer Mütter und der gesellschaftlichen Normen auf. So versucht Klara Sigmund Freud davon zu überzeugen, dass die Irrenhäuser „voller normaler Frauen“ seien. Adolfine und ihre Freundinnen wagen es zuweilen, ihre weiblichen Sichtweisen auszusprechen und sie den überlegenen Standpunkten der Männer entgegenzusetzen, etwa als Adolfines Freundin Sarah Sigmunds Auffassung, Glück sei „nur ein episodisches Phänomen, […] die plötzliche Erfüllung hoch aufgestauter Wünsche oder Bedürfnisse“, korrigiert: „Das würde ich nicht Glück nennen […]. Ich denke, dass Glück etwas ist, wofür es keine Definition gibt. Du spürst es einfach.“

Sigmund Freuds Ehrgeiz, das Ich zu heilen, steht Adolfines Geständnis, welches das Scheitern von Freuds Bemühungen dokumentiert, entgegen: „Mein ganzes Leben lang fühlte ich mich, als hätte jemandes Blick mein Dasein zerstört, und zugleich suchte ich ein Lebewesen, das dieses Bruchstückhafte meines Ichs heilen würde.“

Fast die Hälfte des Buches dreht sich um den Wahnsinn. Ein Wahnsinn, der aus dem Schmerz geboren wird. Wahnsinn als „Flucht aus dem Schmerz in die Dumpfheit, und manchmal eine Flucht aus dem Schmerz in einen noch größeren Schmerz“. In diesem Teil des Buches reißen wie im Wahnsinn auch die Fäden des Romans ab. Staunend sieht man sich mit einem von Lücken und Rissen durchzogenen, in Reflexionen, Exkursen, Zitaten und, Sentenzen zerfransten Text konfrontiert, der nur noch von einigen Wiederholungen zusammengehalten wird. Und dann plötzlich – mitten im Schmerz und in der „Dumpfheit“ des Wahnsinns – der Sprung in eine Karnevalsfeier im „Nest“, der psychiatrischen Anstalt, in die sich Adolfine und Klara geflüchtet haben. Mit Dr. Goethe als Chefarzt und einem beschwipsten Freud, der seine Schwester besucht – mit einer Narrenkappe auf dem Kopf. Mitten im Karneval wiederum die ‚gelehrte‘ Debatte zwischen Dr. Goethe und Dr. Freud über den Nutzen der Psychoanalyse – eine übersteigerte, bizarre Version der zahlreichen Diskussionen zwischen Freud und Adolfine – mit der zentralen Aussage von Dr. Goethe: „Die Wasserspülung reinigt die Toilettenschüssel sehr effizient vom Unrat, aber ich bin nicht ganz überzeugt, dass ihre Psychoanalyse die menschliche Seele vom Unrat reinigen kann.“

Sucht man nach dem historischen Prototyp von Dr. Goethe, kommt man auf Georg Groddeck, den Baden-Badener Arzt und Psychoanalytiker, der schon für Thomas Manns Dr. Krokowski aus dem „Zauberberg“ Modell gestanden haben soll. Wie Groddeck, der bekanntlich auf den Bäuchen seiner Patienten herumtrat, trampelt Dr. Goethe in Smilevskis Buch auf dem Wahnsinn seiner Patienten, hält in seiner Anstalt Vorträge, macht die moderne Rationalität und gelegentlich auch Sigmund Freud und die Psychoanalyse auf satanisch-diabolische Art und Weise lächerlich. In ihrer Drastik und Frivolität erinnert die gerade zitierte Wasserspülungstheorie von Dr. Goethe an Thomas Weltleins Theorien aus Groddecks Roman „Der Seelensucher“ (1921). Für Dr. Goethe bedeutet die Irrenanstalt die Freiheit schlechthin, wie er seinen weiblichen Patientinnen erklärt: „Sie genießen die Freiheit dieses Gefängnisses, wie sie unser Spital hier nennen, im Gegensatz zu der Unfreiheit und der Gewalt, die Sie da draußen gespürt haben“.

Von diesem karnevalesken Intermezzo aus stürzt uns Smilevski direkt in den Tod. Freud wird krebskrank, hofft aber aufgrund seines Werkes immer noch auf seine ganz persönliche Unsterblichkeit, während ihm Adolfine diese auszureden versucht: „Du hast den besten Weg gewählt, mein lieber Bruder: Du glaubst, dass du durch deine Werke weiterleben wirst […]. Und schon jetzt, noch am Leben, nährst du dich von dieser Unsterblichkeit, arrogant und überheblich, und verurteilst uns, die Sterblichen, von irgendwo anders her zum Tode.“ Und sie fügt hinzu: „Auch deine Werke, die man lesen und interpretieren wird, solange es Menschen gibt, werden eines Tages sterben, und mit ihnen wird deine Unsterblichkeit sterben“. Auch Adolfine tritt in den Tod. Auf wenigen Seiten rekapituliert sie im letzten Kapitel des Romans ihr Leben, das für sie ein Erinnern ist, während der Tod ein Vergessen ist. Letztendlich zählt sie all ihre Lebenserinnerungen auf – lauter Traumata – und gibt die Vergangenheit, den Schmerz und somit ihr Leben dem Vergessen anheim.

Smilevskis eigenwilliger Roman ist eine dissonante Schmerzsymphonie, die von ihm gezeichnete Welt zuweilen eine Kakophonie. Er destruiert den Glanz der Jahrhundertwende, beraubt die „goldene“ Welt Gustav Klimts ihrer exquisiten Ornamentalität, verwirft die gängige Vorstellung von der Revolte der Söhne gegen die Väter und zieht uns mit der weiblichen Figur Adolfine auf der Suche nach dem Sinn des Lebens gnadenlos in eine klaustrophobe Welt, in den Morast des Schmerzes, des Wahnsinns und der Verzweiflung hinab. Leere statt Sinnlichkeit, Wahnsinn statt Sinnfindung.

Durch ihre ,Zaubersprüche‘ am Ende des Romans vom Schmerz erlöst, lässt Adolfine Theresienstadt hinter sich und entgleitet wie ein Schatten still und lautlos ins Nichts. Erstaunlich und befremdlich, wie schnell und mühelos sich Smilevski Geschichte mit ihren Traumata in ein Schattenreich verwandelt. Zugegeben: ein Dichter verfügt über ein hohes Maß poetischer Freiheiten. Virtuosität ist Smilevski auch nicht abzusprechen. Man fragt sich jedoch am Finale dieses grandios anmutenden Romans: Kann es angehen, dass bei allen poetisch-ästhetischen Vorzügen dieses Romans die Brutalität des Nationalsozialismus, die Martern und Torturen von Theresienstadt dermaßen leichtsinnig überspielt und lediglich als eine weiter nicht zu beachtende Folie für die ,Neubeleuchtung‘ der Jahrhundertwende benutzt werden? Darf in diesem Roman, der das Schicksal von jüdischen KZ-Häftlingen zum Gegenstand hat, alles nur auf die familiären Konflikte, auf die Diskrepanzen und Kollisionen zwischen den Geschlechtern, auf „Schattenspiele“ über die Entfremdung der Geschlechter und rätselhafte Identitäten oder auf Freuds personale Schuld hinauslaufen, seine Schwestern nicht gerettet zu haben? Dass es historische Beweise gibt, die gegen diese Schuld sprechen (siehe etwa Christfried Tögel: Bahnstation Treblinka), sei ebenfalls dahingestellt und Smilevskis diesbezügliche Vorwürfe an Freud ins Reich der dichterischen Freiheit verwiesen. Darf man aber Adolfines tragisches Leben angesichts ihrer Ermordung in Theresienstadt nur auf die ausgebliebenen Mutterfreuden und auf das Unverständnis der männlichen Welt beziehungsweise die Unzulänglichkeiten von Freuds Theorien reduzieren? Darf man den Nazi-Terror fast vollständig durch den Familien- und Männerterror ersetzen?

Nach dem starken Romanbeginn, aus dem weiter oben zitiert wurde, kehrt Smilevski Theresienstadt und allem, was damit zusammenhängt, den Rücken, um einen schmerzerfüllten und doch amüsierten und den Leser amüsieren-wollenden Blick auf die Jahrhundertwende zu werfen und danach alles, auch den „bitteren“ Gasgeruch, nicht nur aus Adolfines Bewusstsein, sondern auch aus dem Bewusstsein des Lesers im Nu und wie ein Magier zu tilgen. Die einzigartige Chance, aus einem höchst brisanten Thema – aus der unerhörten Schande des 20. Jahrhunderts, dass vier der fünf Schwestern eines Mannes wie Sigmund Freud der Nazi-Barbarei zum Opfer fallen konnten – einen monumentalen Roman über geschichtliche Verantwortung und Schuld, über Unfreiheit und Gewalt jenseits des spielerisch eingesetzten Topos von der „Welt als Gefängnis“ zu schreiben – Freuds persönliche Verantwortung aufgrund seiner politischen Kurzsichtigkeit muss hier nicht ausgenommen werden – hat Goce Smilevski jedenfalls verspielt.

Titelbild

Goce Smilevski: Freuds Schwester. Roman.
Übersetzt aus dem Mazedonischen von Benjamin Langer.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2013.
328 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783882210521

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