Die Gattung und der Anspruch auf Wahrheit

Jean Bertrand Miguoué untersucht Peter Handkes Jugoslawientexte

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Peter Handke 1996 seine „Winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina“ veröffentlichte, war die Empörung fast ungeteilt. Dass da jemand – so der Untertitel der Buchfassung – kurz nach dem Höhepunkt der jugoslawischen Zerfallskriege „Gerechtigkeit für Serbien“ einforderte, wirkte auf die meisten Betrachter mindestens als politische Verirrung eines weltfremden Poeten, wenn nicht gar als perfide Leugnung eines Völkermords.

Inzwischen siecht der Streit um Handke erschöpft dahin. Sogar die entschlossensten seiner Gegner haben es aufgegeben, um jede neue Äußerung Handkes einen Skandal zu entfachen. Vor allem aber sind seitdem acht oder zehn weitere „humanitäre Interventionen“ von NATO-Staaten durch die diversen betroffenen Lande gezogen. So hat sich die Erkenntnis verbreitet, dass man vielleicht besser doch nicht jeder Schuldzuweisung seitens der westlichen Regierungssprecher und ihrer Mediengefolgschaft Glauben schenken sollte.

So hat sich auch der Ton der Literaturwissenschaft gegenüber der „Winterlichen Reise“ und den anderen Jugoslawien-Texten gewandelt. Wirkte etwa die Neuauflage des text+kritik-Bandes zu Handke von 1999 wie eine Fortsetzung des NATO-Kriegs mit drucktechnischen Mitteln, so gehört seit einigen Jahren der Anspruch, Handkes politische Poetik oder poetische Politik in ihrer Komplexität zu erfassen, in Aufsätzen zum Standard einleitender Absätze und wurde zuweilen sogar eingelöst. Auch Jean Bertrand Miguoué formuliert zu Beginn seiner Innsbrucker Dissertation diese Absicht. Tatsächlich gelingt es ihm, trotz der bereits umfangreichen Diskussion über die Textgruppe wesentliche neue Aspekte zu benennen.

Das betrifft zum einen die Gattungsfrage. Miguoué untersucht vor allem einen Essay (den „Abschied des Träumers vom Neunten Land“), ein Theaterstück („Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg“) sowie die beiden umstrittensten Texte, die „Winterliche Reise“ und den ein halbes Jahr darauf erschienenen „Sommerlichen Nachtrag“, die er im Zusammenhang der Reiseliteratur verortet; was an ihnen in diesem Kontext nicht aufgeht, ist klar benannt. Gattungen zu diskutieren erweist sich als keineswegs antiquiert: Die Frage, wer spricht (und mit welcher Art von Wahrheitsanspruch), ermöglicht eine an vielen Stellen genauere Wahrnehmung der Texte, als sie bisher geleistet wurde.

So vermag Miguoué Fehllektüren zu widerlegen. Zum anderen aber betrachtet er lektüreleitende Momente wie den Publikationsort (die meisten der Texte dieser Gruppe erschienen vor der Veröffentlichung in Buchform in der „Süddeutschen Zeitung“) und die Wahl der Überschriften in Zeitungs- und Buchversion. Auch dadurch wird nachvollziehbar, wie die vereinfachenden Lesarten zustande kamen. Miguoué berücksichtigt zudem, dass sowohl Handke als auch seine zahlreichen Gegner und weniger zahlreichen Verteidiger mit ihren Wortmeldungen Positionen im literarischen, publizistischen und politischen Feld zu besetzen versuchten – ohne dass er dies als Motivation verabsolutierte.

Ein dritter Aspekt, den Miguoué betont, ist die Vielstimmigkeit der Texte. Das überzeugt ganz hinsichtlich des Theaterstücks, das besonders unter einer ideologisierten Rezeption zu leiden hatte: Unvermittelt identifizierten Handke-Kritiker einzelne Figurenreden mit der Position des Autors. Zwar ist unverkennbar, dass tatsächlich einige Figuren eher die Meinungen Handkes aussprechen als andere. Doch weiß Miguoué zu zeigen, dass sich durch das szenische Arrangement Brechungen ergeben, die einer eindeutigen Lesart entgegenstehen. Weniger überzeugt das Verfahren, Handke Vielstimmigkeit zuzuschreiben, beim Essay und bei den Reisetexten. Bei letzteren weist Miguoué zwar den intertextuell erzeugten Bedeutungsgewinn nach, der durch Handkes vielfältige Bezüge auf jugoslawische Schriftsteller entsteht. Doch dürfte allein dadurch noch keine Polyphonie zustandekommen – gibt es doch den einen Autor, der auswählt, arrangiert und damit alle Verfügungsgewalt behält, die Zitate und Anspielungen seiner Sichtweise zuzuordnen.

Miguoué, der keineswegs antiserbische Stereotype nachbetet, sondern eine konzise Darstellung von Vor- und Verlaufsgeschichte des Konflikts in seine Arbeit integriert hat, beschäftigt sich sehr kritisch mit Handkes Bild der Serben. Der Ansatz verdankt sich der postkolonialen Orientalismus-Debatte und lässt sich sehr gut auf den Gebrauch von Balkan-Bildern übertragen. Ist die Abwertung des Fremden der häufigere Fall, so gibt es doch auch einen Exotismus, der das Fremde zur Kritik des Eigenen nutzt. Dies hat zur Voraussetzung, dass das Fremde ein unbeschädigtes Ganzes ist. Die Erkenntnis, dass Handke mit einem solchen Gegenbild operiert und es nach der Westwendung des zuvor von ihm geliebten Slowenien auf Serbien und zuletzt auf serbische Enklaven im Kosovo übertragen hat, ist zwar nicht neu; doch mit großer Schärfe stellt Miguoué den Essentialismus heraus, der Voraussetzung dieser Gegenbildlichkeit ist. Ein Volk muss eine konkrete, nichtgeschichtliche Einheit bilden, um eine Alternative zur geschichtlich gewordenen, abstrakten Warenwelt des Westens zu bieten; und dass es ein solches Volk nicht gibt, ist Grund der immer neuen Verschiebungen, die Handke vornehmen muss. Ob die Relativierungen, die er auch einfügt, von Selbstironie und Erkenntnis zeugen oder nur eine Immunisierungsstrategie sind, bliebe zu diskutieren.

Das Buch hat einen Mangel: die Theorieverliebtheit seines Autors. Die ausführlichen begrifflichen Diskussionen, die sogar das im Genre der Dissertation Übliche und von manchen Gutachtern Geforderte bei weitem sprengen, sind nicht nur auf die Einleitung beschränkt. In immer neuen Variationen beschweren sie die Lektüre auch der Interpretationskapitel. Nun sind die zahlreichen erwähnten Ansätze alles andere als kompatibel. Wer – zurecht – die Politik der Jugoslawien-Texte an frühere Überlegungen Handkes rückbindet, sollte besser nicht mit Roland Barthes den Tod des Autors verkünden; wer ihn sterben lässt, sollte ihn kaum als Akteur im Rahmen von Pierre Bourdieus Feldtheorie auferstehen lassen. Wer sich ideologiekritisch eines postkolonialen Zugriffs bedient, sollte nicht in Frage stellen, ob Literatur überhaupt Wirklichkeit abbildet – denn ein Problem kann eine Darstellung ja nur sein, wenn es eine Wirklichkeit gibt, an der sie gemessen werden kann und auf die sie verfälschend einwirkt.

Hier wäre eine Straffung der Arbeit hilfreich gewesen. Die Erkenntnisse, die Miguoué tatsächlich liefert, werden durch den Theorieüberhang leider verdeckt.

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Jean Bertrand Miguoue: Peter Handke und das zerfallende Jugoslawien. Ästhetische und diskursive Dimensionen einer Literarisierung der Wirklichkeit.
Innsbruck University Press, Innsbruck 2012.
290 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-13: 9783901064401

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