Erziehung durch den Krieg – Erziehung zum Krieg

Arndt Weinrichs Studie untersucht die Wahrnehmung des Ersten Weltkriegs zwischen Kindheitserfahrung und Mythosproduktion

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Erste Weltkrieg wird in der Geschichtswissenschaft als „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts gedeutet. Nicht nur Millionen getöteter Soldaten sowie die Auflösung zahlreicher monarchisch geprägter Staatsgebilde standen an seinem Ende. Noch nachhaltiger und mit verheerenden Langzeitfolgen prägte die tiefe, mental-kulturelle Sinn- beziehungsweise Orientierungskrise, die nach 1918 zu bewältigen war, das Erleben der Alterskohorte der um 1900 Geborenen. Dementsprechend kann der Erste Weltkrieg aus Perspektive der Generationengeschichte als Teil eines größeren Kontextes gedeutet werden, der einerseits auf der politischen Systemebene und andererseits im kulturellen Moderne-Konzept der Europäer verheerende Auswirkungen hatte.

Im Rahmen seiner Düsseldorfer Dissertation hat Arndt Weinrich systematisch die Rezeption und Deutung des Ersten Weltkrieges in der organisierten männlichen Jugend der Weimarer Republik untersucht. Ihm geht es darum, welche Rollen die Frontkämpfer-Typen „als soldatisch-männliches Identifikationsangebot und Rollenvorbild in der Jugendkultur der Zwischenkriegszeit“ einnahmen. Dank einer quellengesättigten Analyse, die vor allem jugendspezifische Propagandatexte fokussiert, kann er systematisch aufzeigen, welche Wahrnehmungs- und Erinnerungsprozesse die Kriegserfahrung beziehungsweise -mythisierung evoziert hat: „Der Quellenkorpus […] besteht neben disparaten Archivbeständen, Einzelpublikationen der behandelten Verbände bzw. ihrer Führerschaft sowie der innerhalb der Jugendverbände rezipierten Kriegsliteratur und Tageszeitungen im Wesentlichen aus einer Auswahl relevanter Jugend- und Jugendführerzeitschriften der 1920er und 1930er Jahre.“

Im ersten großen Teil seiner Studie zeigt er die herausragende Rolle des Ersten Weltkrieges für die biografische Selbstkonstruktion vor allem bürgerlicher Jugendlicher. Die Folgen des Ersten Weltkriegs stellten die Weimarer Republik vor extreme Herausforderungen, brach doch zugleich die „Welt der Väter“ zusammen. Vor dem Hintergrund der Kriegsniederlage, verbunden mit den harten Bedingungen des als so genannter Diktatfrieden empfundenen Versailler Vertrags erschienen der Einsatz der Bevölkerung sowie die Opfer der Kriegsjahre weitgehend sinnlos. Mit den Worten von Weinrich: Die bürgerliche Erinnerungskultur „konservierte wesentliche Elemente der aggressiven deutschen Kriegskultur und trug sie in die Weimarer Republik hinein.“

Hier liegen sicherlich die Wurzeln für die Allgegenwart des Krieges und der Kriegstoten in der politischen Kultur Weimars. Die junge Republik wurde durch diese „Kindheitserfahrung“ nachhaltig belastet. Im anschaulichen und sehr facettenreich gestalteten Kapitel „Helden- und Opfergedenken in der Jugendkultur der späten 1920er und frühen 1930er Jahre“ verdeutlicht der Historiker die Omnipräsenz des Heldenkultes in der Weimarer Zeit. Dies ist verknüpft mit einer fortdauernden Politisierung des Kriegsgedenkens – auch über die Grenzen des Bürgertums hinaus: Durch den Vergleich ausgewählter Bünde der bürgerlichen Jugendbewegung mit dem Katholischen Jungmännerbund Deutschlands und dem sozialdemokratischen Jungbanner wird präzise herausgestellt, dass sich Ende der 1920er-Jahre ein Opferdiskurs durchsetzte, der an leidenschaftliche Kontroversen über den Sinn des Krieges und die Lehren, die aus dem Weltkrieg zu ziehen seien, anknüpfte: „Der Krieg wurde damit psychologisiert und zum ‚inneren Erlebnis‘ stilisiert.“

Des Weiteren kam es dazu, dass ein explizites Bekenntnis zu soldatischen Normen und Werten breite Bevölkerungskreise dominierte, obwohl – paradoxerweise – die Kriegsschrecken in lebendiger Erinnerung blieben. Unter Rückgriff auf Mechanismen und Medialitäten von Sinn-Konstruktionen untersucht Arndt Weinrich insofern en passant die Konjunkturen der Wahrnehmung und Instrumentalisierung des Ersten Weltkriegs.

Quantitativ im Mittelpunkt der Untersuchung steht das Weltkriegsgedenken der Hitler-Jugend. Im Kontext der nationalsozialistischen Besetzung des öffentlichen Lebens erfüllte es mehrfache Funktionen. Einerseits zielte der Kult um die Gefallenen des „Großen Krieges“ innerhalb der HJ auf die mentale Mobilmachung und Kriegserziehung der Jugend ab. Andererseits sollte durch Kulte und Riten der in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch geschürte Generationenkonflikt mit den „Frontsoldaten“ des Ersten Weltkriegs befriedet und im Sinne der „Volksgemeinschaft“ genutzt werden: „Die Antwort der NS-Jugend […] war offensiv: […] Indem sie sich selbst als Trägerin des ‚Vermächtnisses der Front‘ in Szene setzte, sprach sie Traditions- und Wehrverbänden wie dem Kyffhäuser-Bund und dem Stahlhelm jegliche Berechtigung ab, das ‚Fronterlebnis‘ als Legitimationsfolie für politische Forderungen zu instrumentalisieren.“ Durch die systematische Auswertung der zentralen Archivbestände der Reichsjugendführung und disparater Akten-Überlieferungen der HJ-Gebiets- und Bannführungen, vor allem aber durch die Analyse der in größerem Umfang erhaltenen HJ-Publizistik wird der Weltkriegsdiskurs der sogenannten Hitlerjugend besonders mit Fokus auf die beschriebenen Akzentverschiebungen nachgezeichnet.

Ein eigenes Kapitel widmet sich dem „Langemarck-Gedenken 1919-1945“. Gerade am Beispiel des sogenannten Langemarck-Mythos kann Weinrich eindrucksvoll belegen, welche Kontinuitäten zwischen Weimarer Republik und „Drittem Reich“ bestanden. Das bürgerliche Gefallenengedenken wird nach 1933 weitgehend ungebrochen im Sinne der neuen Staatsideologie funktionalisiert und erinnerungskulturell tradiert. Dabei kam es sogar zu einem „Deutungskampf zwischen der Reichsjugendführung und der Reichsstudentenführung“, da es besonders der HJ um eine öffentliche Monopolisierung der Gedenkpolitik ging.

Zusammenfassend betrachtet liefert die Studie von Weinrich anhand der Organisationen aus der Weimarer Republik und des „Dritten Reiches“ einen plausiblen Zugang zum Kriegsdiskurs zwischen 1918 und 1940 und dem sich abzeichnenden Erinnerungs- und Generationenkonflikt. Besonders plastisch gelingt es dem Autor, die Entwicklung der Symbolik des Ersten Weltkriegs bei der HJ zu bestimmen. Innerhalb dieser Jugendorganisation wandelt sich eine negative Sichtweise unter dem Stichwort „Verlierergeneration“ zu einer feierlichen Erinnerung an die solidarischen und heroischen Erfahrungen während des Ersten Weltkriegs. Die Studie bietet die lohnenswerte Option, Erinnerungsprozesse und Sinnkonstruktionen im Kontext von soziokulturellen, politisch-mentalen (Dis-)Kontinuitäten von Phänomenen zu verfolgen. Das auf gründlicher Recherche beruhende Opus ist nicht zuletzt auch wegen seiner sprachlich-stilistischen Qualität ein gut lesbarer und weit über einen engeren Kreis von wissenschaftlich interessierten Lesern hinaus für ein breites Publikum empfehlenswerter Beitrag. Zugleich gibt die Arbeit eine wesentliche Antwort auf die Frage, wie die Kriegsgeneration auf die jeweiligen Herausforderungen (und speziellen Verführungen) reagiert hat. Demzufolge kann festgestellt werden, dass die Nationalsozialisten in vielerlei Hinsicht auf die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs zurückgreifen konnten. Der Erste Weltkrieg wurde nicht nur für die Mobilmachung zum Zweiten Weltkrieg instrumentalisiert, er bot auch die Folie, um vermeintlich positive Werte wie Tapferkeit, Kameradschaft, Opferbereitschaft und Solidarität der „Heldengeneration“ appellativ beziehungsweise suggestiv im Interesse einer radikaleren Gesellschaftsideologie umzudeuten.

Titelbild

Arndt Weinrich: Der Weltkrieg als Erzieher. Jugend zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus.
Klartext Verlagsgesellschaft, Essen 2013.
352 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783837506440

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch