Max Frisch im Tessin

Die umfangreiche zweisprachige Publikation „Max Frisch. Berzona“ dokumentiert die gleichnamige Ausstellung des Museo Onsernonese anlässlich des 100. Geburtstags des Autors

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Das Dorf, wenige Kilometer von der Grenze entfernt, hat 82 Einwohner, die Italienisch sprechen; kein Ristorante, nicht einmal eine Bar, da es nicht an der Talstraße liegt, sondern abseits. Jeder Gast aus den Städten sagt sofort: Diese Luft! dann etwas bänglich: Und diese Stille! Das Gelände ist steil: Terrassen mit den üblichen Trockenmauern, Kastanien, ein Feigenbaum, der Mühe hat, Dschungel mit Brombeeren, zwei große Nußbäume, Disteln usw. Man soll sich hüten vor Schlangen. Als Alfred Andersch, schon seit Jahren hier wohnhaft, auf das kleine Anwesen aufmerksam machte, war das Gebäude verlottert, ein altes Bauernhaus mit dicken Mauern und mit einem turmartigen Stall, der jetzt Studio heißt, alles mit Granit gedeckt. Das Tal (Val Onsernone) hat keine Sohle, sondern in seiner Mitte eine tiefe und wilde Schlucht, in die wir noch nie hinabgestiegen sind; seine Hänge sind waldig, darüber felsig und mit den Jahren wahrscheinlich langweilig. Im Winter habe ich es lieber. Die einheimische Bevölkerung lebte früher von Strohflechterei, bis auf dem Markt zu Mailand plötzlich die japanischen Körbe und Hüte und Taschen erschienen; seither ein verarmendes Tal.“

So beschreibt Max Frisch auf einer der ersten Seiten seines zweiten großen Tagebuchs Berzona im Val Onsernone samt dem Haus, das er für sich und seine zweite Frau Marianne Oellers 1964 dort gekauft hatte, unter der Aufsicht eines einheimischen Architekten umbauen ließ und am 15. Mai 1965, pünktlich zu seinem vierundfünfzigsten Geburtstag, bezog. Aus Anlass des 100. Geburtstages von Frisch im Jahr 2011 hat das Museo Onsernonese in Loco in einer Sonderausstellung Werk und Persönlichkeit Frischs – mit einem deutlichen Akzent auf den prägenden Eindrücken der Tessiner Welt – in den Mittelpunkt gerückt. Die jetzt vorliegenden vier Bände im Schuber dokumentieren ein Ereignis, das – nach Auskunft der Ausstellungsmacher – für das Museum bis dato völlig ungewohnte Besucherzahlen mobilisierte, ein breites öffentliches Echo fand und das Bedürfnis weckte, sich auch nach dem Ende der Schau weiter mit diesen wichtigen Facetten im Leben und Werk des weltbekannten Autors beschäftigen zu können. Letzterem arbeitet die in deutscher und italienischer Sprache erschienene Publikation auf vorbildliche Art und Weise zu.

Natürlich sind Ausstellungen, die mit Blick auf ein breites, weder literaturgeschichtlich vorbildetes noch unbedingt leseerfahrenes Publikum konzipiert werden, nicht dazu geeignet, ein fachwissenschaftliches Surplus in Szene zu setzen. Neue Erkenntnisse bezüglich jener Werke, in denen Berzona und das Tessin eine – mehr oder weniger große – Rolle spielen, waren deshalb weder zu erwarten noch geplant. Dank der Zusammenarbeit mit dem Max-Frisch-Archiv Zürich dokumentieren Schau und Katalog aber zuverlässig, wie sehr Frisch an der Tessiner Landschaft hing und welche Inspirationen er und die Vielzahl der Gäste, die er über die Jahre hinweg in dem geliebten neuen Wohnsitz empfing – darunter Uwe Johnson, Hans Mayer, Kurt Hirschfeld und viele andere –, aus der Konfrontation mit Land und Leuten zu gewinnen wussten.

Die vier Teile der Publikation sind jeweils einem thematischen Aspekt gewidmet. Informiert das schmalste Bändchen des Schubers nach einer Einleitung, in der das Onsernonetal, sein Museum und die Konzeption der Ausstellung zum 100. Geburtstag Max Frischs kurz beschrieben werden, über die Lebensstationen des Schriftstellers, widmen sich die folgenden 3 Bände Tal und Haus (Band 2) dem Schriftstellerleben Frischs (Band 3) und seinen literarischen Themen (Band 4). Dabei ist den Ausstellungsmachern scheinbar kein noch so kleiner Textsplitter des Autors zum Tessin und seinem Leben inmitten dieser beeindruckenden Landschaft und mit seinen traditionsverbundenen Menschen entgangen. Genauso beeindruckend wie die Akribie bei der Textauswahl ist aber auch die Fülle an Fotomaterial, das, teils bis dato nicht veröffentlicht, zur Illustration von Frischs Leben in Berzona und den sich damit auseinandersetzenden Texten versammelt

wurde.

Natürlich ist die große Alterserzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“ (1979) das literarische Werk Frischs, in dem das Tessin am intensivsten reflektiert wird. In die Geschichte eines allein in einem abgelegenen Bergtal lebenden Mannes, den ein Unwetter dazu bringt, über die Geschichte der Menschheit und seinen eigenen Verfall und bevorstehenden Tod nachzusinnen, hat Frisch ganz unmittelbar Erfahrungen einfließen lassen, die er über die Jahre hinweg im Onsernonetal machte. Aber auch das „Tagebuch 1966-1971“ (1972) und die Erzählung „Montauk“ (1975) enthalten eine Fülle von Passagen über Tal und Dorf. In der Konfrontation mit Fotos sowie den Aussagen von Freunden und Bekannten Frischs von Peter Bichsel über Lars Gustafsson und Elisabeth Borchers bis zu Dieter Noll, Siegfried Unseld und Uwe Johnson machen diese Textsplitter deutlich, mit welch großen Erwartungen der Autor das Abenteuer Berzona angegangen ist und wie sich das alltägliche Leben im Tal auf seine Weltsicht, das persönliche Befinden und seine Schreibinteressen auswirkte.

Von besonderem Interesse für den Rezensenten war im Übrigen das Schreiben, welches Frisch 1963 an Jean Rudolf von Salis richtete mit der Bitte, er möge als so prominenter wie einflussreicher Schweizer Bürger seine Hand „dafür ins Feuer […] legen, dass es für den ausverkauften Tessin kein Schaden wäre, wenn auch ich dort ein Grundstück erwerbe“. Als so genannter „Auslandschweizer“ benötigte der Schriftsteller nämlich die Unterstützung dreier Bürgen, die der Eidgenössischen Fremdenpolizei in Bern gegenüber schriftliches Zeugnis von der Unbescholtenheit desjenigen ablegen mussten, der ein auf schweizerischem Boden gelegenes Grundstück zu erwerben gedachte. Launig fährt der Brief vom 25. Dezember an den bekannten Historiker, Schriftsteller und Publizisten fort: „Die Sache hat Eile, sonst kommt mir ein andrer Käufer vielleicht zuvor, und ich verende in einem Haus in der Toscana oder am Wannsee (West).“

Den Weltbürger Max Frisch stellt Band 3 der Publikation in den Mittelpunkt, indem er die „Etappen eines Nomadenlebens“ samt etlichen „Versuche[n] der Sesshaftigkeit“ akribisch verfolgt – von des Autors Geburtshaus in der Zürcher Heliosstraße 31 bis zu seiner Sterbewohnung in der Stadelhoferstraße 28 (ebenfalls in Zürich). Außerdem versucht sich der Band an einer Chronologie von Frischs „Versuche[n] mit Liebe“ von der Schauspielerin Else Schebesta, mit der der Schriftsteller 1932 kurz liiert war, bis zu Karin Pilliod-Hatzky, der einzigen Verbindung seines Lebens, die in seinem literarischen Werk nicht zu Buche schlug, und präsentiert in alphabetischer Reihenfolge die wichtigsten Freunde, Kollegen und Gäste des Autors, darunter auch Alfred Andersch, der, seit 1958 in Berzona lebend, Frisch auf die Gegend und das zum Verkauf stehende Gebäude aufmerksam gemacht hatte. Wenn man sich hier und da in diesem Band auch ein paar genauere Informationen wünschte – was natürlich an die Grenzen des Ausstellungskonzeptes gestoßen wäre –, verdienstvoll sind auf alle Fälle die vielen Hinweise auf die Verbindung von Leben und Werk. So stehen sämtliche biografischen Informationen immer in engstem Zusammenhang mit der Genese von Frischs Texten und verdeutlichen dabei noch einmal, wie eng Leben und Schreiben gerade bei diesem Autor im Zusammenhang gesehen werden müssen.

Band 4 schließlich bündelt noch einmal die literarischen Themen und Motive Frischs in Form einer Zitatensammlung zu den Unterpunkten Identität („Wer bin ich? – Werden um zu sein“), Schreiben („Schreiben um zu leben – leben um zu schreiben“), Freundschaft, Liebe und Ehe, Alter, Altern und Tod sowie Landschaften. Etwas zu sehr an den Rand werden meines Erachtens dabei die das Werk des Autors nahezu komplett durchziehenden Motive der Bildnisproblematik, des Rollenspiels und seine teils einen ordentlichen Schuss Machismo enthaltenden Aussagen zum Verhältnis zwischen den Geschlechtern gedrängt. Auch zum homo politicus Frisch und dessen insgesamt doch recht schwierigem Verhältnis zu seinem Heimatland – speziell im Zusammenhang mit der so genannten „Fichenaffäre“ Ende der 80er-Jahre muss wohl von einer gehörigen Distanz zur „offiziellen“ Schweiz gesprochen werden – hätte es ruhig das eine oder andere Textdokument mehr geben können.

Die letzten Jahre seines Lebens sind bei Max Frisch wieder enger mit dem Haus im Val Onsernone verbunden. Nach der endgültigen Trennung von Marianne – die Ehe wird 1979 geschieden – sieht es zunächst für eine Weile so aus, als erinnerten Haus und Garten ihn an eine Zeit, deren Unbeschwertheit auf ewig verloren gegangen ist. Zwar werden noch Freunde ins Tessin eingeladen, doch spielt der Autor schon mit dem Gedanken, das Grundstück samt Haus zu verkaufen. Erst die gemeinsamen Jahre mit seiner letzten Lebensgefährtin Karin Pilliod ab 1983 lassen Frisch das Leben im Tessin noch einmal in vollen Zügen genießen. Dabei bewahrheitet sich in einem anderen, neuen Lebenszusammenhang, was bereits 1975 in der autobiografischen Erzählung „Montauk“ zu lesen war: „Zu beschreiben wäre ein steinerner Tisch, ein Bauernhaus, das Gemäuer ziemlich verlottert, das Gebälk zum Teil morsch. Wir kommen von Rom, VIA MARGUTTA, aus einer Untermiete; mein Leben lang bin ich Mieter oder Untermieter gewesen. Jetzt möchte ich ein Haus haben mit Dir […]. Die Zuversicht, dass sich das umbauen und ausbauen läßt, übernehme ich, ebenso die zähen Verhandlungen um den Kaufpreis. Eins ist mir von der ersten Stunde an klar: allein, als Junggeselle, könnte ich in diesem Tal nicht hausen.“

Titelbild

Max Frisch: Berzona. [Ausstellung und Publikation wurden im Rahmen der Studien- und Ausstellungsreihe "L'Arca d'Onsernone terra di rifugio e di inspirazioni" entwickelt und realisiert].
Hrsg. vom Museo Onsernonese etc.
Limmat Verlag, Zürich 2013.
528 Seiten, 64,00 EUR.
ISBN-13: 9783857916939

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