Unvermeidliche Jugend

Julia Kissinas „Frühling auf dem Mond“ bannt das Kiew der späten Sowjetunion in einer Geschichte vom Erwachsenwerden

Von Alexandra SauterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Sauter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der „Greisenklapse“ besucht Julia mit ihrer sich leidenschaftlich sorgenden Mutter die kranke Vera. Ein Blinder führt sie auf den richtigen Gang, eine Wahrsagerin schließt sich dem Zug an. Die Mutter scheuert das „Skelett“ Vera, Julia trägt angewidert volle Bettflaschen zur Toilette. In jungen Jahren, während der Besatzung der Ukraine, war die deutschstämmige Vera in einen Nazi-Offizier verliebt. Das Kind, das sie gebar, als der Offizier abgezogen war, hat sie getötet, ihren Namen nach dem Krieg in einen russisch klingenden geändert. So will es die von Hass und Gram verwirrte Bettnachbarin wissen, sie habe Vera schließlich damals das Tuch geschenkt, in dem diese später ihr Kind erstickt habe. – Julia und die Mutter lauschen verschreckt den Niederlagen der Weggesperrten und ahnen zugleich, dass draußen, jenseits des trostlosen Altenheims, doch nur die Niederlagen aller anderen auf sie warten.

Die Ich-Erzählerin Julia wird im Kiew der 1970er-Jahre groß, einer Stadt, die unaufhaltsam zerstört wird, wie Julia unentwegt wahrnimmt. Allein oder mit dem schreibenden Vater wandert sie durch den Untergang, während die kümmervolle Mutter Objekte zum Pflegen und Hegen erspäht. Verwandten, Freunden der Eltern, eigenen Bekannten begegnet Julia, tragischen, komischen, absurden Schicksalen, alle verwoben mit den Umschwüngen des vergangenen Jahrhunderts und der Ödnis der Sowjetunion. Onkel Wolodja etwa, mit der „Rostbratlache“ und guten Beziehungen zu Dynamo Kiew, baut eines der zahllosen Heldendenkmäler ab, welche die kommunistischen Lande schmücken. Rasch und zu einem ansprechenden Preis hat er den Marmor für den vorhersehbaren Wiederaufbau zur Hand. Drei Jahre Haft erhält er für sein Experiment, ein wenig Markt in der Planwirtschaft zu etablieren, und wird in der vermeintlichen Freiheit im Schlaf von Gefängnisfreunden erschossen. Die Lehrerin Swetlana Karpowna wiederum zelebriert statt physikalischer Versuche ihre Ekstase ob der Heldentaten Gagarins vor einer irritierten Klasse. Ihr Busen quillt, sie singt, weint und verkehrt den Physikunterricht zur Sexualkunde.

Es gibt kein Gelingen im Sozialismus, auch nicht im Rückblick. Im Verfallen und Absurden wird er greifbar. Als System, das sich vorausschauend gab und die Menschen einer planlosen Wirklichkeit auslieferte. Als Gesellschaftsform, die alle zu Eigentümern von allem erklärte und niemanden dazu bewegte, sich einer Sache anzunehmen. Wo Ordnung fehlt, wandeln die Menschen auf Umwegen und flüchten in den Ersatz: in halbe oder falsche Geschäfte und Orgasmen wie Onkel Wolodja und Swetlana Karpowna, in Geisterbeschwörungen wie Julias Schulfreundin Olga oder ein fremdes kulturelles Gebaren wie der Frauenhände küssende selbsterklärte Pole Ju.A. Wo Ordnung fehlt, zerfällt das Leben in Episoden wie solche, die Julia Kissinas „Frühling auf dem Mond“ in kurzen Kapiteln vorstellt.

Wer sich kümmern möchte, tut es also im Kleinen wie Julias Mutter. Wem aufgeht, dass grundlegend etwas nicht stimmt, zieht immer häufiger das enge Zimmer der weiten Welt vor, wie Julia in ihrem aufkeimenden „Weltekel“. Entlang vieler widersinniger Ereignisse und Bekanntschaften und entgegen dem Untergang wächst sie heran – weil das eben so ist, unvermeidlich und zwangsläufig, Wachstum, Menstruation, erster Rausch, Verliebtheit und Enttäuschung und dann, schließlich erwachsen. Früh erkennt Julia, „dass das Gute nicht belohnt und das Böse nicht bestraft wird. Und wie es irgendwann einmal der Schwimmer gesagt hatte, hat Gott damit rein gar nichts zu tun, er schickt uns nur durch verschiedene Zufälle und verfolgt spöttisch sein albernes Ziel.“

Julias Heranwachsen spannt ein loses Netz um menschliche Schicksale, ordnet scheinbar, was ohne tieferen oder höheren Sinn ist. So wie der Zufall bestimmt, was geschieht, ist es mit dem Wann und Wie dieses Geschehens. Die Zeit stellt sich Julia wie ein Haus vor, in dem alle Geschichten, die längst vergangenen und die zukünftigen, einen Raum haben: „In manchen Räumen wird die Vergangenheit gerade erst geboren, in den hinteren Zimmern dagegen sind Ereignisse im Gange, die ich nicht kenne, und die Zukunft ist schon im Verfall begriffen. Vor allem aber sehe ich, dass alle diese Zimmer weder systematisch noch chronologisch angeordnet sind. Während ich gehe, schlagen die Türen der einen für immer zu, und andere tauchen in den fensterlosen Mauern unvermutet auf.“

Plastisch, bildlich verarbeitet Julia, was ihr widerfährt und was sie davon versteht. Über verquere gedankliche Umwertungen gelangt sie zu Wahrheiten. Für wichtiger als Glück etwa hält sie den Humor, diesen „schützenden Sirup, der unseren inneren Menschen umgibt“. Die Einstellung trägt einen durchs Leben, nicht das Streben nach einem Ergebnis – auch das ein wenig sozialistische Wirklichkeit.

Julia Kissinas Romandebüt überzeugt dort, wo Lebensläufe lakonisch beschrieben sind, und in jenen großen und ruhigen surrealen Bildern wie dem Haus der Zeit. Es strengt an, wo all die kleinen Handlungen und Bewegungen intensiv dekoriert sind. Beigaben – Adjektive, Adverbien, wie’s und irgendwie’s zuhauf – offenbaren einen Vergleichsdrang. Vor allem zahlreiche Synästhesien hemmen die Sinne beim Lesen, anstatt sie zu fordern. Allzu oft lesen wir eben doch nur von „wundervollen Worten […] leuchtend wie Schnee in der Sonne“ oder vom konkreten Schnee, der „nach Kälte und Feuchtigkeit“ roch. „Poetischen Übermut“ nennt das der Verlag im Klappentext.

Julias Geschichte braucht jenen Übermut nicht. Eine traurige Geschichte ist es: Ein Mädchen wächst in den Pessimismus hinein. Und eine schöne, denn sie zeigt, wie sich Fantasie und Kreativität ihren Weg bahnen, auch oder vielleicht deshalb, weil die Welt um Julia herum nicht stimmt. Eine Welt, in der man sich den Frühling, wenn er schon nicht auf Erden stattfindet, zumindest auf dem Mond vorstellen kann.

Titelbild

Julia Kissina: Frühling auf dem Mond. Roman.
Übersetzt aus dem Russischen von Valerie Engler.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
249 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783518423639

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