Er vertrat das Konzept einer diasporischen Existenz

R. B. Kitaj wird fünf Jahre nach seinem Tod in einer großen Retrospektive gewürdigt

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn Kunst auch keine oder nur wenig Wirkung auf die Politik hat, so wird doch das politische Bewusstsein – das Gefühl unserer sozialen Existenz – von der Kunst beeinflusst. Es ist und bleibt eine Tatsache, dass ein Gemälde mehr aussagen kann als nur etwas über seine eigene Entstehungsgeschichte, und es kann mit diesem „Mehr“ erstaunliche, betroffen machende Bilder hervorbringen. Das wird im Werk des US-amerikanischen Künstlers R. B. Kitaj besonders deutlich, der 30 Jahre in Europa – vor allem in London – lebte, 1997 nach Los Angeles zurückkehrte und 2007 aus dem Leben schied. 1976 sagte er: „Ich halte es für richtig, dass ich mich als fortschrittlicher Künstler oder Radikaler um eine sozialere Kunst bemühe“. Seine Vorstellung von einer „sozialeren Kunst“ hat wenig mit sozialem Realismus zu tun. Sie gleicht mehr einer bruchstückhaften Historienmalerei. Kitaj versuchte, Geschichte durch die Brille anderer Medien zu sehen – Bücher, Literatur- und Kunstwerke, Fotos, Bruchstücke aus Filmen und ähnlichen „Rohmaterialien“ –, die er zu einer gemalten Montage zusammenbaute. In Bildkommentaren legte er seine Quellen offen, um die Motivverknüpfungen und Sinnschichten seiner Bilder kenntlich zu machen.

So entstand eine Malerei, die sich die Ereignisse der Geschichte anverwandelt und sie mit neuen Erkenntnissen beschreibt. Bilder von Führern der Arbeiterbewegung wie Bakunin, Rosa Luxemburg oder La Passionaria (der spanischen Politikerin Dolores Ibarruri Gomez), von Gehetzten und Verfolgten, wurzellosen Kosmopoliten, Verlierern im Spiel der Macht, zahlreiche allegorische Selbstporträts, Szenen aus dem Holocaust, Szenen der Diskriminierung, der Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Wenn die mediterrane Welt auftaucht, ist es nicht das üppige Arkadien eines Picasso oder Matisse, sondern entweder das vom Krieg zerrissene Katalonien oder das verwahrloste levantinische Ambiente von Kavafis’ Alexandria. Das war sein eigentliches Generalthema: „Die zersplitterte Welt und das heimatlose Subjekt in ihr, das sich am deutlichsten in der jüdischen Identität nach dem Holocaust offenbarte“ (Cilly Kugelmann).

Ja, Kitaj hatte sich für ein Leben im Exil entschieden. In Cleveland, Ohio, geboren, wurde er von einem Wiener Juden adoptiert und wuchs im Norden des Staates New York auf. Nachdem er in die Handelsmarine eingetreten war und in der US-Army gedient hatte, studierte er an der Cooper Union in New York, der Wiener Kunstakademie, der Ruskin School of Art in Oxford und am Londoner Royal College of Art. An der Ruskin School in Oxford hörte er den Kunsthistoriker Edgar Wind, der ihn mit der Methode von Aby Warburg bekannt machte. Die ikonografischen Tafeln von Warburgs Bilderatlas dienten Kitaj als Schule des vergleichenden Sehens und regten ihn zu seinen Bildern der frühen 60er-Jahre an, die durch ein collageartiges und scheinbar absichtsloses Nebeneinander der Motive gekennzeichnet sind. 1960 wechselte er an das Royal College of Art in London, wo er unter anderem mit David Hockney Freundschaft schloss und zu einer Leitfigur der jungen Londoner Künstlerszene wurde. Seine Bildmethode, die fragmentarische Collagierung von Bild- und Schriftzeichen, lässt Bezüge zur Londoner Pop Art erkennen. Schließlich beschloss er, ständig in London zu bleiben, und betrachtete sich als Vertreter der „School of London“ – ein von ihm geprägter Begriff. Gleichzeitig sah er sich selbst als den ewigen Außenseiter, als den Juden der Diaspora, als Künstler im Exil. Seine „diasporistische“ Kunst sollte eine Synthese, ja ein Resumée der Malerei der Moderne sein.

Inspiriert von einer Ausstellung von Degas’ Pastellen im Pariser Petit Palais 1975, nahm Kitaj die Pastellkreide in sein Repertoire auf. Die Hinwendung zur Zeichnung veränderte allmählich seine Bildkonzeption. Anstelle der Bildmontagen bemühte er sich mehr und mehr um eine neue Einheit von Ort, Zeit und Raum. Durch die verstärkte Reflexion der eigenen jüdischen Identität gelangte Kitaj zudem zu neuen Bildlösungen, ohne jedoch die künstlerische Strategie von Zitat und Montage aufzugeben. In den letzten Londoner Jahren setzte sich Kitaj immer stärker mit dem Themenkreis der „jüdischen Passion“ auseinander, inspiriert durch Freundschaften mit den jüdisch-amerikanischen Schriftstellern Philip Roth und Aaron Applefield.

Die Kitaj-Retrospektive in der Hamburger Kunsthalle, der schon andere Stationen in Berlin, Chichester und London vorausgegangen sind, ist die erste nach dem Tod des Künstlers und kann zudem auf dessen persönliches Archiv und den schriftlichen und dokumentarischen Nachlass zurückgreifen. Dem Betrachter wird bis 10. November 2013 die Möglichkeit gegeben, die entsprechenden Bild- und Textquellen des Künstlers zu studieren, die collagenartige Kombination der Zeichen und die vielschichtige Überlagerungen von Bedeutungen, und völlig neue Einblicke in sein so komplexes Werk zu gewinnen. Denn die Texte im Bild und die Textkommentare zu seinen Bildern gehörten für Kitaj untrennbar zusammen. Denn vornehmlich von der vergleichenden ikonologischen Methode des Kunsthistorikers Aby Warhol war ja Kitajs Malerei seit seiner Oxforder Studienzeit beeinflusst worden. Es ist zudem die Hamburger Kunsthalle gewesen, die schon 1980 Schlüsselwerke des Künstlers, das Collage-Gemälde „Reflections on Violence“ (1962) wie auch den Siebdruck-Zyklus „Mahler becomes Politics, Beisbol“ (1964-67), in Museumsbesitz überführt hatte.

Der aufwändig gestaltete Katalog assistiert der Ausstellung, kann aber auch als eigenständige monografische Text-Bild-Darstellung gelesen werden. In seiner Anlage nimmt er bewusst Bezug auf den Bildatlas Aby Warburgs und stellt die Bildtafeln Kitajs in 10 Dekaden vor: Eine fragmentierte Welt, Katalonien – Schlüsselerlebnis des Diasporischen, Kitaj – Kommentator seiner Zeit, Freunde, Galerie der Charaktertypen, Der verborgene und der öffentliche Jude, Entstellte Körper, Obsessionen, Die Bibliothek als diasporische Heimat, Rückzug. Darin eingestreut sind einzelne Beiträge zu speziellen Themen. Einleitend umreißt Hubertus Gaßner die Beziehung Kitajs zu Aby Warburg und weist darauf hin, dass die collagierten Tafeln von Warburgs Bildatlas Kitaj die Bestätigung für seine Art der netzarigen Bildorganisation gegeben haben. Vor allem setzt er sich mit dessen noch in Oxford 1958 entstandenen Gemälde „Erasmus Variations“ auseinander, das wegweisend für Kitajs weiteren Werdegang werden sollte. Eckhart Gillen widmet sich dem „verborgenen Juden und bekennenden Diasporisten“ Kitaj, während Edward Chaney Kitaj als „echten Warburgianer“ definiert und dessen Beziehungen zu Edgar Wind, dem früheren Assistenten Warburgs und nunmehr Kitajs Oxforder Lehrer, Ernst Gombrich, dem Direktor des Londoner Warburg Institutes von 1959 bis 1972, und zum Warburg Institute selbst untersucht. Martin Roman Deppner berichtet über seine Beschäftigung mit Kitajs in der Hamburger Kunsthalle befindlichen Collage-Gemälde „Reflections on Violence“, die auch zu einem Briefwechsel und zu Gesprächen mit Kitaj über dessen Diaspora-Erfahrungen, Talmud-Studien und multiperspektivischen Kunstdialog geführt hatte. David N. Myers, eng befreundet mit Kitaj, als dieser wieder nach Los Angeles zurückgekehrt war, beschreibt das Tagesritual des Künstlers, der, vor allem auch, nachdem er seine geliebte Frau Sandra verloren hatte, eine besondere Vorliebe für Cafés hatte – hier prägte Kitaj sein jüdisches Selbstgefühl als Diasporist aus. Inka Bertz schreibt über Kitajs Manifeste des Diasporismus und Michal Friedlander geht Kitajs Beziehung zur jüdischen Religion anhand seiner Rabbiner-Darstellungen und seines Verhältnisses zu diesen Männern nach. Cilly Kugelmann arbeitet Kitajs „Tate-War“ auf, die Attacken, die anlässlich seiner Retrospektive in der Tate Gallery 1990 britische Kritiker mit ihm und er mit ihnen führte und die sein Gefühl einer ‚splendid isolation‘ nur noch vertiefen sollte. Die Autorin gibt ihrem Beitrag ein aufschlussreiches Interview mit Richard Morphet, dem damaligen Kurator der Retrospektive in der Tate Gallery, bei. Eine persönliche Sicht auf den späten Künstler in Los Angeles bringt Tracy Bartley ein, die 1999 Kitajs persönliche Assistentin wurde und heute als Studioleiterin des R. B. Kitaj Estate tätig ist.

Schauen wir uns einige der Bildtafeln im Katalog etwas genauer an. Dem Philosophen und Schriftsteller Walter Benjamin hat Kitaj sein Gemälde „The Autumn of Central Paris“ (Der Herbst der Pariser Innenstadt, 1972/73) gewidmet. Er hat ihn in das Zentrum einer heterogenen, beziehungslosen und sozial segmentierten Gesellschaft eines Pariser Künstlercafés versetzt. Ein letztes Mal träumt der Berliner Jude (das Porträt basiert auf einem Foto des amerikanischen Film- und Bühnenschriftstellers George S. Kaufman) von „seinem“ Paris, dem er sein Fragment gebliebenes Hauptwerk gewidmet hatte, bevor er zu dem von den Nazis gejagten Flüchtling wird und in aussichtsloser Lage aus dem Leben scheidet. Kitajs Kommentar: „Mein eigenes Bild habe ich in jenen Herbst vor Benjamins Selbstmord versetzt.“

Man kann bei Kitajs Figuren nie sicher sein, dass sie tatsächlich sind, was sie scheinen. „Marrano (The Secret Jew)“, („Marrano (Der heimliche Jude)“, 1976), dem Bild eines Konvertiten, der sich als Nichtjude auszugeben sucht, legt der Künstler eine Figur aus Giottos „Begräbnis des Heiligen Franziskus“ unter, und dieser Jude ist seiner Existenz so unsicher geworden, dass sich selbst sein Geschlecht nicht mehr eindeutig bestimmen lässt. Dagegen geht in der Pastell- und Kohlezeichnung „His New Freedom“ (Seine neue Freiheit, 1978), in der Kitaj der neuen Freiheit der Katalanen nach Francos Tod 1975 gedenkt, ein Rubens-Porträt von Isabella Brant, Rubens’ Frau, eine unheilige Verbindung mit einem vergrößerten Standbild aus Carl Dreyers Film „Vampyr“ ein. Hier erzählt Kitaj von den Freuden der Verkleidung, wie man sich eine neue Erscheinung geben und damit eine neue Freiheit schaffen kann.

Der Titel des Gemäldes „Desk Murder“ (Schreibtischtäter, 1970-84) wurde ausgelöst von den Nachrufen auf den SS-Obersturmbannführers Walther Rauff, der maßgeblich an der Entwicklung der „Gaswagen“ beteiligt war, welche die Praxis der Massenerschießungen ersetzen sollten. Vorher hatte der Maler die Wandlungen und Veränderungen einer zunächst an Valérys „Monsieur Teste“ sich orientierenden Bildererfindung beschrieben und mit dem Titel „The Third Department“ an die politische Polizei der Hitlerzeit erinnert. Nunmehr lässt er den Ort des Schreibtischtäters sichtbar werden. „Das Büro des Mörders ist leer und mein banales Bild des Bösen fertig, genauso Rauff“.

Einer frühen Arbeit wie „The Murder of Rosa Luxemburg“ (Der Mord an Rosa Luxemburg, 1960), die seinerzeit aus der Beschäftigung mit den „großen Gescheiterten“ des Sozialismus entstanden war, hat er später eine historische Perspektive gegeben, in der dieser Mord als ein Schritt auf dem Wege zum „Dritten Reich“ und zur Massenvernichtung der Juden angesehen wurde. Diese Themen, mit denen sich Kitaj vom Ende der 70er- bis Anfang der 80er-Jahre geradezu obsessiv auseinandersetzte, sind lange in ihm entstanden. „The Autumn of Central Paris“ hat eine solche Thematik bereits vorausgenommen.

„The Jew Etc.“ (Der Jude usw., 1976-79) zeigt einen wandernden Juden im 20. Jahrhundert, im Exil, unterwegs in eine ungewisse Zukunft. Es ist das Bild eines in Gedanken versunkenen Mannes allein im Eisenbahnabteil. Das Bild oszilliert zwischen Geheimnis und Enthüllung: zwischen Metapher und Andeutung auf der einen, Klarheit und unmittelbare Beobachtung auf der anderen Seite.

„Notre Dame de Paris“ (1984-86) ist eine gemalte Summe seiner Pariser Eindrücke als Traumbild, auf dem sich christliche und jüdische Symbole, Legenden und Allegorien durchdringen. Die Komposition folgt dem Gemälde „Traum des Papstes Innozent III.“ von Fra Angelico, auf dem die Stationen einer Heiligenlegende, die des Mönches Dominikus, dargestellt sind. Über den Vorplatz lässt Kitaj zwei Pfade – einen im Zickzack und einen direkten – zu Lebenswegen werden, „auf denen Männer in Richtung ‚Sünde‘ streunen […], als gäbe es einen besseren oder ‚richtigen‘ oder ,guten‘ Weg.“. Der Diasporist Kitaj ist auf der Suche nach seinem weiteren Lebensweg, der ihn zur Rückkehr nach London und zur jüdischen Hochzeit mit der Malerin Sandra Fisher führen wird.

Im Selbstporträt „The Sensualist“ (1973-84) wiederum erprobt er neue malerische Ausdrucksmittel und adaptiert hier Tizians Gemälde „Die Schindung des Marsyas“. Im Sinne des antiken Mythos von der Doppelnatur des Menschen porträtiert sich Kitaj als ein von seiner Sinnlichkeit gejagter Bohèmien, der zugleich nach intellektueller Klarheit und ästhetischer Schönheit sucht. Mit dem Wechsel seiner Vorbilder – von Degas zu Cézanne – vollzog Kitaj den Übergang von einer zeichnenden, lasierenden zu einer pastosen expressiven Malerei. Selbstporträts nehmen eine wichtige Stellung in seinem Werk ein, sie sind Beleg dafür, dass alle seine Kunst ihren Ursprung in seiner persönlichen Erfahrung und den Komplexitäten seiner Weltanschauung hat.

Ein Leben lang haben ihn Cézannes „Badende“ ebenso fasziniert wie irritiert: In der Pastellzeichnung „The Rise of Fascism“ (1979/80) stellt er drei Frauen in der Tradition der Grazien am Meeresstrand dar. Die nackte junge Frau im Vordergrund, die dem Betrachter provokativ ihr Geschlechtsteil darbietet, ist „das schöne Opfer, den Faschismus stellt die mittlere Figur dar (eine Kleinbürgerliche) und die sitzende Badende steht für alle anderen“. Die schwarze Katze wie der über dem Wasser näherkommende Bomber symbolisieren Unheil, der rote Horizont und der geschwärzte Himmel beschwören eine apokalyptische Stimmung. „If Not, Not“ (1975/76), bei dem die Gemälde „Le Bonheur de vivre“ von Henri Matisse und „La Tempesta“ von Giorgione Pate standen, zeigt gestrandete Menschen, auf den ölverschmutzten Fluten des Flusses schwimmen Zivilisationstrümmer und ein menschlicher Kopf, über der trostlosen Szenerie thront das Torhaus von Auschwitz – es wird als schmerzhafte Vergegenwärtigung des historischen Ereignisses im Bild zitiert. Die in unzusammenhängende Bruchstücke auseinanderfallende Komposition folgt Versen von T. S. Eliot, die eine aus den Fugen geratene Landschaft beschreiben.

In den späten 80er-Jahren hat Kitaj eine Folge von Arbeiten entwickelt, in denen er sich unter dem Stichwort „Germania“ mit Hitlerdeutschland auseinandersetzt, sowohl in dessen rassistischer Anmaßung auf eine mystische Qualität staatlicher Existenz als auch als Schreckensort der Shoa, ein Ort, an dem Juden leben, handeln, leiden, getötet werden. Seine Bilder veränderten sich im Laufe der Jahre. So sind die letzten Arbeiten aus dem Zyklus solche, die Joe Singer, seine Mittelpunktsfigur, und alle mit ihm verbundenen Figuren, in der Situation des Überlebthaben und in einer eigenen Welt Lebenden zeigen. Wir stehen hier vor einer verzweifelten Intensität des Ringens um die wahre Aussage eines jüdischen Malerlebens heute.

Titelbild

Obsessionen. R. B. Kitaj (1932 - 2007). Eine Retrospektive.
Kerber Verlag, Bielefeld 2012.
263 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-13: 9783866786974

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