Die Grenzgängerin

In Britta Mühlbauers Thriller „Inventurdifferenz“ greift eine Frau zur Selbstjustiz

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Marlies Wolf arbeitet für eine Wiener Security-Firma. Als Personenschützerin eingesetzt zu werden, ist der Traum der jungen Frau. Doch vorerst hat sie sich in weniger aufregenden Fällen zu bewähren. Da stellt zum Beispiel eine Baumarkt-Kette „Inventurdifferenzen“ in einer ihrer Filialen fest: Waren verschwinden, ohne dass ihr monetärer Gegenwert in den Bilanzen erscheint. Undercover beginnt Marlies in der Filiale zu arbeiten und lernt bei der Gelegenheit Hanna Amberg kennen, eine Frau mit universitärer Vergangenheit, deren Job als Filialleiterin sie offenkundig unterfordert.

Britta Mühlbauers dritter Roman „Inventurdifferenz“ braucht ein wenig, um in die Gänge zu kommen. Er nimmt den Leser zunächst mit auf einen exotischen Schauplatz. In die Karibik hat sich Marlies Wolf abgesetzt, weil sie in ihrem Drang nach Gerechtigkeit zu weit gegangen ist. Zudem hofft sie, hier die ebenfalls aus Wien verschwundene Hanna Amberg wiederzufinden. Doch Hanna hat ihre Spuren geschickt verwischt und stellt sich der Konfrontation mit Marlies erst ganz am Schluss des Buches. Allein in einem Hotel, das von Frauen geführt wird, gehen Marlies‘ Gedanken zurück nach Europa und in die Zeit ihrer Kindheit und Jugend.

Letztere verbrachte sie, die sich schon immer als Außenseiterin gefühlt hat – als Zeichen für diese Absonderung, aber auch für den sie gelegentlich unvermittelt überfallenden Jähzorn  trägt sie ein Feuermal im Gesicht –, hauptsächlich mit ihrer Freundin Valerie Binder. Die begegnet ihr nun überraschenderweise wieder, als Marlies versucht, näher mit der sie faszinierenden Hanna bekannt zu werden. Doch das einst so vertraute Verhältnis will sich nicht sofort wieder einstellen. Auch weil Valerie immer noch mit Alex Grabner Umgang zu pflegen scheint, der, als die drei in eine Schule gingen, ständig versuchte, einen Keil zwischen die beiden Mädchen zu treiben. Inzwischen scheint er gar in die Gesellschaft von Leuten geraten zu sein, denen man lieber aus dem Weg geht.

„Frauen leben in einer permanenten Inventurdifferenz … Sie erbringen ihr Leben lang Leistungen, die ihnen nicht vergütet werden“, bringt Hanna Amberg an einer Stelle des Romans ihr konkretes Problem als Filialleiterin mit der generellen Opferrolle der Frau in der Gesellschaft in Verbindung. Zur Unterstützung dieser These führt das Buch seinen Lesern fast durchgängig männliche „Helden“ vor Augen, die ihre Macht gegenüber Frauen skrupellos ausspielen. Da ist der Patensohn des Baumarkt-Chefs und -Namensgebers König, René Müller, ein schmieriger Typ, der glaubt, auf Grund seines engen Verhältnisses zum Firmengründer unantastbar zu sein. Da ist Siggi Kammerer, Marlies‘ Chef und Geliebter, der seinen Untergebenen gegenüber – Marlies eingeschlossen – mit Zuckerbrot und Peitsche arbeitet. Da sind die wechselnden Verhältnisse von Valeries Mutter, Lilo Binder, an denen die Frau zu zerbrechen droht. Und da sind die Mädchenhändler, die Valerie eines Nachts beobachtet, worauf sie überfallen, gefoltert und vergewaltigt wird und anschließend als unliebsame Zeugin sterben soll.

Diese grausame Tat ist die Initialzündung, die es noch braucht, um Marlies‘ Hass eine Richtung zu geben. Indem sie Alex Grabner das Geständnis abpresst, an dem Verbrechen gegen die im Koma liegende Valerie beteiligt gewesen zu sein, und den Mann anschließend tötet, stellt sie sich allerdings außerhalb des Gesetzes. Allein sie kehrt mit ihrer Tat die Rollenverteilung in der Gesellschaft für dieses eine Mal um, wird selbst zur Täterin und rächt damit all jene, die immer die Opfer sind und diesen Status auch gewöhnlich ohne viel zu murren annehmen.

Britta Mühlbauers Roman „Inventurdifferenz“ endet dort, wo er begann: Eine Frau sucht, nachdem sie radikal mit ihrem alten Leben gebrochen hat, einen Neubeginn weit weg von Wien. Was schließlich von ihr bleibt, ist der Bericht über ein Leben, als der dieses Buch daherkommt. Es der Kategorie „Thriller“ zuzuordnen, griffe zu kurz. Denn es besitzt einen Mehrwert, der bereits in dem dem Text vorangestellten Zitat von Terry Eagleton aufscheint: „Es ist nicht so, daß die Welt mit mehr weiblicher Beteiligung besser dran wäre; es ist so, daß die Welt ohne eine „Feminisierung“ der menschlichen Geschichte wahrscheinlich nicht überleben wird.“

Titelbild

Britta Mühlbauer: Inventurdifferenz. Roman.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2013.
384 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783552062276

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