Aus dem Windschatten

Andrea Grafetstätter untersucht in „Ludus compleatur“ die „Theaterrealisierungsstrategien epischer Stoffe“

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der vorliegende Band 33 der „Imagines Medii Aevi“ aus dem Ludwig-Reichert-Verlag, Andrea Grafetstätters Studie „Ludus compleatur“, stellt die leicht gekürzte Version der zwei Jahre zuvor eingereichten Habilitationsschrift der Verfasserin dar. Die recht umfangreiche Publikation behandelt einen über einen längeren Zeitraum eher im ‚Windschatten‘ der Forschung befindlichen Aspekt mittelalterlicher Literatur, der sich jedoch mittlerweile größeren Interesses erfreut. Das mag nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass ‚Inszenierung‘ – in welcher Form und auf welchem Felde auch immer – aktuell ist, und es von daher interessant erscheint, gerade auch die aufführungsorientierte Umsetzung epischer Stoffe in den Blick zu nehmen.

Dabei wird durch die Autorin die Problematik einer entsprechenden Untersuchung beziehungsweise der Rekonstruktion einer Praxis der darstellenden Kunst im Mittelalter gleich anfangs dargelegt. ‚Drehbücher‘ beziehungsweise schriftliche Regieanweisungen, aus denen eine, die mittelalterliche Aufführungspraxis geistlicher wie weltlicher Schauspiele betreffende, eindeutige oder doch zumindest in ihrer Deutungsbreite auf ein enges Maß hoher Wahrscheinlichkeit zu belegen ist, fehlen weitgehend. Die Form der Realisierungen von Aufführungen lässt sich in zweierlei Hinsicht nur indirekt erschließen, zum einen aus den entsprechenden ‚Theatralisierungen‘ zugrundeliegenden Texten epischer beziehungsweise lyrischer Art, zum anderen aus den sekundären Belegen dafür, dass insbesondere im städtischen Raum des späteren Hochmittelalters und des Spätmittelalters entsprechende Aufführungen stattgefunden haben.

In fünf großen Abschnitten gelingt es Andrea Grafetstätter in überzeugender Weise, die Aufführungs-Umsetzungen der jeweils zugrundeliegenden literarischen Texte darzustellen und auf ihre Stichhaltigkeit hin zu untersuchen.

In der Einleitung „Kontinuität und Diskontinuität im geistlichen und weltlichen Spiel“ werden allgemeinere wie speziellere Rahmen dargelegt, so etwa, wenn der ‚Sitz im Leben‘ dieser Aufführungen dargestellt oder Frauenrollen, Theatralisierungsstrategien epischer Stoffe und Aspekte der Performativität und kulturellen Funktion der Aufführungen thematisiert werden. In diesem Zusammenhang interessant, wenngleich in einzelnen Passagen eher trivialisierend, weil lediglich der bereits festgestellte Sachstand noch einmal umformuliert wird, sind folgende „abschließende Überlegungen“ zur Einleitung, wo es heißt: „Als Ereignis der mittelalterlichen Stadtkultur bilden die geistlichen und weltlichen Spiele einen wesentlichen Faktor zur Gemeinschaftsstiftung oder zur Exklusion; damit stellt eine Aufführung immer ein soziales Ereignis dar, was den Blick auf die Gemeinschaft lenkt, die die Spiele erst ermöglicht und fördert. […] Dieses Kollektiv wird nicht zuletzt über die im Spiel vermittelten Emotionen generiert.“ Damit ist eine wichtige Komponente zur Definition mittelalterlich-urbaner Lebenswirklichkeit angesprochen, die neben der hier in den Fokus gestellten Tradition der Aufführung der jeweiligen Stoffe auch für die Phänomenik spätmittelaterlicher Literatur beziehungsweise spätmittelalterlicher Adaption älterer Stoffe Berücksichtigung finden sollte.

Die Thematisierung von „Komik und Klage im arthurischen Fastnachtsspiel“ ist die erste der drei ‚Säulen‘ anhand derer Andrea Grafetsteätter die allgemeinen Grundlagen ihrer Überlegungen in eine konkrete Anwendung bringt – die beiden anderen sind auf die ‚Neidhartspiele‘ beziehungsweise auf. ‚heldenepische Spiele‘ bezogen. Überraschen mag zunächst, dass die Stoffe der höfischen Artusdichtung, die in der ‚normalen‘ Rezeption doch eher mit dem Element des Tragischen verbunden sind, in einen karnevalesken Kontext verbracht werden. Allerdings verweist die Autorin zu Recht darauf, dass bereits in spätmittelalterlichen Artusromanen Elemente des Komischen (oder eben auch des Grotesken) auftauchen, so dass die theatralische Umsetzung als stringente Konsequenz der spätmittelalterlichen, also bürgerlich überprägten Adaption dieser höfischen Stoffe und Motive – teilweise in weit von der Artusepik entfernt angesiedelten Traditionen wie etwa in Passionsspielen – anzusehen ist, deren Funktion dann nicht zuletzt in einer Eigendefinition dieser aufsteigenden sozialen Gruppen zu sehen ist. Unterfüttert wird diese Argumentation durch eine Reihe von (Text-)Beispielen, die die Breite und Varietät der jeweiligen Adaptionen belegen.

Etwas umfangreicher geht die Autorin auf die Praxis der ‚Neidhartspiele‘ ein, die vor allem unter dem Aspekt der Körperpräsenz beziehungsweise vor allem ‚Körperkomik‘ dargestellt sind. Diese sind im Kontext der literarischen Stoffe zwar angelegt, jedoch erst im Zusammenhang mit der theatralischen Darstellung dezidiert ausgeführt. Dankbares Element der Inszenierungen waren die Standesunterschiede, die sich im Gegensatz zwischen Adeligen und Bauern – und dort insbesondere hinsichtlich des Versuchs des sozialen Aufstiegs der Bauern – auf komische Weise darstellen ließen und dann auch noch durch die ‚Meta-Figuration‘ des Teufels auf den handlungsrelevanten Punkt gebracht wurden. Die Inszenierung der tatsächlich gegebenen beziehungsweise grotesk überzeichneten bäuerlichen Ungehobeltheit tat, so führt die Autorin weiter aus, offenbar ein Übriges, um den ,Neidhartspielen‘, die trotz tendenziell vorhandener Überschneidung als gesonderte Kategorie neben den Fastnachtsspielen laufen, eine große Beliebtheit insbesondere in den oberdeutschen Städten zu sichern.

Der umfangreichste Part der Untersuchung widmet sich unter der Überschrift „trutz und tratz her Diederich“ ‚Komik, Kampf und Klage im heldenepischen Spiel‘ und bezieht sich vornehmlich auf Motive aus dem Bereich der Dichtungen um Dietrich von Bern. Inszeniert wurden neben Motiven aus dem „Wunderer“ Texte aus dem „Großen Rosengarten“, der sich, da in dieser Tradition neben dem heroischen Zwölfkampf-Schema durchaus auch Aspekte des Absurden und des Grotesken auftauchen, besonders für den in der Heldenepik eher überraschenden Akzent des Komischen eignet.

Dementsprechend kann die Autorin in einem Zwischenfazit hinsichtlich der dramatischen Adaption spätmittelalterlicher Heldendichtung feststellen: „Das heldenepische Ideal kampfbereiter Helden wird in der spätmittelalterlichen Literatur und Dramatik scherzhaft zur Disposition gestellt. Die in den Texten greifbare Komik, die das extradiegetische Publikum zu Lachgemeinschaften vereinen kann, resultiert insbesondere daraus, dass sich die Helden ihren klassischen Rollenanforderungen verweigern. Erwartbares und tatsächliches Verhalten überlappen sich dabei als unvereinbare Skripte.“

Hier legt Andrea Grafetstätter die Fundamente, auf denen sie ihre weitere Argumentation hinsichtlich der Inszenierung heldenepischer Stoffe im späten Mittelalter dezidiert aufzubauen versteht. Neben dem „Rosengarten“ und anderen Stoffen aus dem Dietrich-Umkreis werden die Adaption des „Hürnen Sewfried“ von Hans Sachs sowie Jakob Ayrers Trilogie zu „Hugdietrich“, „Ortnit“ und „Wolfdietrich“ in den Kontext von szenischer Interpretation und Rezeption im späten Mittelalter gestellt. Durchgängig werden die stoff- beziehungsweise motivbezogenen Einzelabschnitte jeweils durch ein zusammenfassendes kurzes Fazit abgerundet, das es ermöglicht, einen raschen Überblick über die Argumentationsstränge der Autorin zu gewinnen.

Unter der Überschrift „Reziprozität der Gattungen“ wird noch einmal der Blick auf die Meta-Ebene gewählt, indem einzelne Aspekte der Inszenierung, der Inszenierungsabsicht, aber auch der Rezeption durch das Publikum aufgezeigt werden. Grafetstätter ermöglicht so auch einen Blick auf den ‚Sitz im Leben‘ der jeweiligen Inszenierungen, wobei allgemeine gesellschaftliche wie spezifisch literatursoziologische Gesichtspunkte überzeugend dargelegt werden. Ein wichtiger Punkt ist in diesem Zusammenhang das gegen Ende noch einmal explizit angesprochene Phänomen der ‚Re-Oralisierung‘ literarischer epischer Texte.

Die sich anschließende, knapp sechzigseitige Bibliografie zu Primärtexten und Sekundärliteratur bietet denjenigen, die sich intensiver mit der Thematik, einzelnen Texten respektive Textbearbeitungen intensiver beschäftigen wollen, eine breite Zugangs-Basis, die die eigene Recherche zwar nicht überflüssig macht, jedoch zumindest den Arbeitsaufwand in Grenzen zu halten hilft.

Besonders geeignet dürfte das vorliegende Werk für eine fortgeschrittene Zielgruppe sein, die speziell an der Frage nach der Theatralisierung literarischer Stoffe im Spätmittelalter interessiert ist beziehungsweise Interesse an der Wechselwirkung zwischen ‚angewandter‘, das heißt inszenierter Literatur, und der Selbstdarstellung und Eigenerwartung sozialer Gruppen und speziell gesellschaftlich dominierender Schichten vornehmlich der spätmittelaterlichen Städte hat. Für diesen Kreis wird sich die Publikation als unentbehrliches Vademecum erweisen.

Titelbild

Andrea Grafetstätter: Ludus compleatur. Theatralisierungsstrategien epischer Stoffe im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Spiel.
Reichert Verlag, Wiesbaden 2013.
456 Seiten, 128,00 EUR.
ISBN-13: 9783895009419

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