Weltreise auf einem Dreirad

Walle Sayers neuer Gedichtband „Strohhalm, Stützbalken“ – und ein Seitenblick auf sein vorletztes Buch „Zusammenkunft. Ein Erzählgeflecht“

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Walle Sayer, 1960 in der Nähe der württembergischen Bischofsstadt Rottenburg geboren, ist ein Meister der kleinen Form, ein Künstler aphoristischer Notate und lakonisch verdichteter Pointen wie vor allem im vorletzten Buch „Zusammenkunft. Ein Erzählgeflecht“. So heißt es beispielsweise bei „Gewichtsangabe“: „Ich wiege soviel wie ein leerer Kühlschrank und verschwende Fleischerhaken statt Kleiderbügel. Die Trostpreise sind immer aus Schokolade gewesen und immer zuviel war der Reiseproviant für meine zurückgelegten Holzwege. Ein Zuckerschlecken ist meine jetzige Arbeit und verfettet von zuviel Schmachten mein Herz. Kalorientabellen soll ich hineinfressen in mich, mich halten an den Speiseplan der Kirchenmäuse. Mit hingeworfenen Perlen wurde gemästet, was in meiner Pfanne brutzelt. In guten Zeiten wie diesen, zehre ich von meinem Kummerspeck.“

Sayer, Träger renommierter Auszeichnungen wie dem Thaddäus-Troll-Preis, dem Förderpreis zum Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg oder dem Berthold-Auerbach-Preis, ist ein Poet des verdichteten Augenblicks, wie er im neuen Gedichtband „Strohhalm, Stützbalken“ eindrucksvoll unter Beweis stellt. Ob in Gedichten wie „Und alles Erfundene nur vorauserzählt war“ – „Als ich / aus ausgespülten Senfgläsern / Apfelsaft trank. / Nichts anderes kannte. / Mich einmal auf die Sackwaage stellte / und einen halben Zentner wog. / Irgendwann einen schlotternden Maßanzug trug, / in den ich hineinwuchs, / bis er paßte. //“ – in wenigen Bildern eine ganze Welt erzeugt wird oder im Gedicht „Fenstervignette“, das aus den drei Zeilen „Ein Eiszapfen / träufelt Augentropfen / in das Starren der Tonne“ besteht: Meist entsteht dabei jener „Primärberührungseffekt“, von dem der Konstanzer Schriftstellerkollege und Literaturwissenschaftler Hermann Kinder im Zusammenhang mit Walle Sayers Kunst spricht, wie auch im Klappentext zitiert.

Sayer entpuppt sich in den in sieben Kapiteln eingeteilten Gedichten von „Strohhalm, Stützbalken“ einmal mehr als Bewahrer einer längst vergangenen Welt, als ein Chronist, der das Bedeutende im Unbedeutenden aufzuheben vermag, als ein Geschichtsschreiber, der die „Versehrtheit der Welt“ erkennt, ohne in Larmoyanz zu versinken, als ein Bewahrer des Abseitigen: „Im Märchenraffer wird es dann gewesen sein. / Daß es einmal war“, heißen die beiden letzten Verse des Gedichts „Anwandlung“. Oder wie es das Gedicht „Reisesegen“ auf den Punkt bringt: „Rhabarberstauden werfen einen Palmenschatten, / und die Wetterhexe liegt im Sonnenstudio, / solange bis der Weiher eine Eisglatze hat. / Und jede Weltreise beginnt auf einem Dreirad, / eine staubige Hauptstraße hinunter, / an drei Misthäufen vorbei. / Und nur in einem Koffer ohne Boden / ließe sich alles mitnehmen. //“

Ob als einer, der „auf dem abgerissenen Kalenderblatt: / sich selbst den Tag quittier[t]“//, wie im Gedichtband „Strohhalm, Stützbalken“ oder wie der „Stubenhocker“ im „Erzählgeflecht“, der sinniert: „Und wozu sollte ich verreisen, wenn ich dem Drachen nachsehen kann, den die Kinder steigen lassen“: Immer wieder nimmt uns Walle Sayer mit auf eine Reise in jene Gefilde, die immer waren und doch nie. Insofern ist dem Schriftsteller Karl-Heinz Ott zuzustimmen, der über Sayers Kunst bemerkte: „Bei ihm begegnen wir einer Welt, die noch in ihrer Erdenschwere etwas Lichtes und Schwebendes besitzt, und für Augenblicke von allem Werkeln und Machen erlöst ist.“

Was will man mehr von berührenden poetischen Bildern? Was will man mehr als eine bedeutende Andacht des Unbedeutenden? Was will man mehr als eine glückliche Verbindung von Luftleichtem und Geerdetem, wie der Lyriker und Übersetzer Jürgen Brôcan Sayers Poetik umschreibt. So bleibt zu hoffen, wie auch André Hatting in seiner Besprechung von „Strohhalm, Stützbalken“ im Deutschlandradio bereits bemerkt hat, dass Sayer deutschlandweit „ja auch mit Anfang fünfzig noch entdeckt werden“ kann.

Titelbild

Walle Sayer: Zusammenkunft. Ein Erzählgeflecht.
Klöpfer, Narr Verlag, Tübingen 2011.
223 Seiten, 19,50 EUR.
ISBN-13: 9783863510091

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Titelbild

Walle Sayer: Strohhalm, Stützbalken. Gedichte.
Klöpfer, Narr Verlag, Tübingen 2013.
116 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783863510565

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