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Drei besondere Publikationen zeigen, was ein Buch sein kann

Von Stefan HöltgenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höltgen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Buch als Medium, als „Apparat“ zum Speichern und Übertragen von Informationen, ist ein von der Buchwissenschaft bislang kaum beachtetes Thema. Anstelle des Kanals – also des materialen Mediums Buch – rückt diese seinen Leser, die Wirkung seiner Inhalte oder die Gesellschaft, die es hervorbringt, in den Fokus ihres manchmal ästhetischen, oft aber empirisch-soziologischen Interesses. Doch wie sähe eine Betrachtung des Buches als Medium aus? Es müsste zunächst rein als Material betrachtet werden, entkleidet von seiner Schrift, die den Blätterwald vor lauter Lettern bislang stets unsichtbar gemacht hat. Im Sinne Heideggers: Aus dem nur „zuhandenen“ Texttransportwerkzeug namens Buch müsste zuerst wieder etwas Vorhandenes werden, das uns als es selbst gegenübertritt.

Eine solche Betrachtung lässt sich am besten mit einem Buch anstellen, das in ungewohnter Weise mit leeren Seiten erscheint – etwa als Notizbuch. Dieses fordert den Nutzer nicht nur dazu auf, es zu beschriften, zu vollenden – aus ihm sozusagen ein „echtes Buch“ zu machen, das man lesen kann. Es lädt ihn auch ein, darüber zu reflektieren, was dieses Beschriften bewirkt und was ein Buch als solches auszeichnet.

Im Suhrkamp Verlag sind nun in kurzer Abfolge drei solcher Bücher erschienen: Im Herbst vergangenen Jahres in der „Bibliothek Suhrkamp“ ein Hardcover namens „Notizbuch“, im Frühjahr 2013 dann in der Reihe „suhrkamp taschenbuch wissenschaft“ und „edition suhrkamp“ zwei Taschenbücher mit dem Titel „Notizen“. Bei der Umschlagsgestaltung imitieren alle drei Bände die Reihenoptik – wenngleich Angaben im Inneren über die Herkunft des Layouts (Willi Fleckhaus) und auch die Reihennummer fehlen. Die Taschenbücher haben eine ISBN auf dem hinteren Buchumschlag abgedruckt (allerdings offenbar übernommen von zwei alten Hildesheimer-Büchern desselben Verlags), das Hardcover hingegen nicht. Im Umfang unterscheiden sich alle drei Bücher nur wenig voneinander: jeweils 144 Seiten bei den Taschenbüchern, 112 beim Hardcover, die man entweder selbst zählen kann oder den Verlagsangaben trauen muss, denn paginiert sind die Seiten (natürlich) nicht. Die Mimikri der Notizbücher wird einzig durch ihr Format gestört: Alle drei Bücher sind mit 9,5 mal 15,5 cm deutlich kleiner als ihre „großen Vorbilder“.

Nun böte sich natürlich an, die Mimikri-Veröffentlichungen als reinen Scherz zu betrachten („Ich schreibe gerade mein erstes Buch in der stw-Reihe.“) oder als Ausweis der jüngst in eine Insolvenz eingemündeten Querelen im Hause Suhrkamp; ich will hingegen die eingangs illustrierte Perspektive nutzen, um ein wenig über das Buch als Medium zu sinnieren. Anlass dazu bietet eine Kindheitserinnerung meines Vaters, der als Grundschüler von seinem Deutschlehrer Mitte der 1940er-Jahre eine Sechs für einen Aufsatz kassierte, in welchen er voller Schreibunlust auf das weiße Papier das Alphabet und darunter den Satz: „Marsch, Marsch, alles an seinen Platz!“ aufgeschrieben hatte. Es soll mir im Folgenden daher um die Kombinatorik, die Grenzen und die Entropie des leeren Buches gehen.

Etwa fünf Jahre vor meinem Vater, 1941, hatte der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges in seiner bekannten Erzählung „Die Bibliothek von Babel“ ein ganz ähnliches Experiment vollzogen, indem er eine, nein: die Sammlung von Büchern beschrieb, die alle möglichen Bücher enthält. Unzählige Texte mit Kombinationen aus Buchstaben, die keinerlei Sinn ergeben; hin und wieder jedoch eines, das philosophisch tiefgründige Sentenzen enthält und dann natürlich jene ganz seltenen, in denen die zufällige Kombination vollständige, sinnvolle Texte ergeben hat – und zwar jene, die tatsächlich geschrieben wurden und jene, die überhaupt geschrieben werden können. Borges formuliert als Grundlage für die Bände seiner Bibliothek, dass alle Bücher einen definierten Umfang besitzen, der eine endliche Menge der Zeichen des Alphabetes fassen kann.

Verdeutlicht man sich, dass allein aus den 59 Groß- und Kleinbuchstaben unseres Alphabetes (inklusive der Umlaute und des ß) mehr als 380 Millionen 5-Buchstaben-„Wörter“ von „AAAAA“ bis „zzzzz“ gebildet werden können, ahnt man, wie immens die Zahl der Varianten für ein ganzes Buch mit 144 Seiten wäre – und ist schlicht überwältigt von der unmöglichen Vorstellung der immensen Größe von Borges’ Bibliothek. Dass das Universum weder genügend Bäume noch geschweige denn überhaupt Elektronen enthält, um solch eine Menge möglicher Bücher druckbar zu machen, dürfte klar sein und zeigen, dass das „mögliche Buch“ und damit auch die unmögliche Bibliothek ein Gedankenexperiment bleiben müssen. Allerdings eines mit Konsequenzen!

Denn fünf Jahre vor Borges und zehn vor der Anweisung meines Vaters an die Aufsatzbuchstaben und sein Papier, im Jahre 1936, hat der britische Mathematiker Allan Turing die Idee solch eines „möglichen Buchs“ genutzt, um daraus eine ideelle Maschine zu konstruieren, die dann wenig später sehr real wurde: der Computer. Turings Idee hieß „Papiermaschine“ und bestand aus einem Menschen, der mit einem Bleistift und einem Radiergummi ausgerüstet ist, rechnen kann und Anweisungen empfängt, nach bestimmten Regeln Zeichen auf ein „endloses Papierband“ zu schreiben, zu löschen und auf Basis des Aufschriebs weitere Schreib- und Löschvorgänge vorzunehmen.

Turing wollte mit der Papiermaschine unter anderem beweisen, dass sich alle mathematischen Probleme, die anschreibbar sind, lösen lassen – wenn es nur genügend Ressourcen gibt, allen voran: Zeit, Papier und Schreibwerkzeug. Im Digitalcomputer wurden zwei dieser Probleme schließlich virtuell: das Papier wich dem Eletronen-Speicher, das Schreibwerkzeug elektronischen Lade- und Endladungsvorgängen in diesem Speicher. Die Zeit hingegen konnte zwar durch Beschleunigung dieses Aufschreibverfahrens zwar verkürzt werden, es gab jedoch weiterhin Aufgaben, die in endlicher Zeit nicht gelöst werden konnten (etwa alle Nachkomma-Stellen der Zahl Pi aufzuschreiben).

Damit zeigt sich also, dass das Papier nicht nur auf eine mittlerweile schon ansehnliche Zeit als Medium für die Informationsspeicherung und -übertragung und -verarbeitung zurückblicken kann, sondern auch, dass es sein größtes Potenzial erst als Metapher (und das heißt: unbeschrieben) entfaltet. Es klingt trivial: Das leere Buch ist die Bedingung der Möglichkeit jedes geschriebenen Buches – von der Kochrezeptsammlung bis zur Weltformel. In dem Moment, wo der Aufschrieb in das Notizbuch beginnt, schränken sich auch seine Potenziale sukzessive – geschriebener Buchstabe für Buchstabe – immer mehr ein, doch noch alles andere zu sein und werden zu können als das, was es gerade werden soll.

Doch das Anschreiben gegen diese Leere hat eine doppelte Konsequenz: Mit dem Füllen der Seiten stiftet man Ordnung und Struktur, indem man aus den unendlichen Möglichkeiten eine auswählt. Die vorherigen Möglichkeiten zeigen sich als Entropie, bei der alles hin zur endlosen Indifferenz strebt, weil es vielleicht immer nur möglich bliebe aber nie real würde. Mit dem Schreiben stellen wir dem einen „Klumpen von Informationen“ entgegen. Das funktioniert aber nur dann, wenn dieser Informationsbegriff nicht bloß stochastisch jenes „literarische Rauschen“ der Bibliothek von Babel produziert, sondern wir die Buchstaben nach uns gegebenen Regeln der Grammatik und des Denkens auswählen und aufschreiben und dabei immer im Blick behalten, dass auch dieses wie alle unsere Schreibprojekte irgendwann enden muss.

Titelbild

Notizbuch.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
112 Seiten, 7,99 EUR.
ISBN-13: 9783518068618

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Titelbild

Notizen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
144 Seiten, 5,00 EUR.
ISBN-13: 9783518068625

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Titelbild

Notizen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
144 Seiten, 3,00 EUR.
ISBN-13: 9783518068632

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