Ein Gedichtbuch als Ereignis

Über Thomas Braschs „Gesammelte Gedichte“

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Thomas Brasch (1945-2001) war einer der markantesten deutschen Künstler der Nachkriegszeit. Und doch ist kaum einer von seinem Kaliber so schnell in Vergessenheit geraten, wie der Dichter, Dramatiker, Filmschaffende und Übersetzer Brasch.

Nun ist im Suhrkamp Verlag ein gewichtiger Band (1030 Seiten) mit allen veröffentlichten und, aus dem Nachlass, zahlreichen unveröffentlichten Gedichten erschienen, herausgegeben und kommentiert von Martina Hanf und Kristin Schulz. Vom Widmungs- und Gelegenheitsgedicht, von der Ballade bis zum Fototext – die Ausgabe zeichnet ein umfassendes Bild des reichen lyrischen Werkes des Multitalents Brasch.

Die Gedichte aus mehr als vierzig Jahren sind in chronologischer Reihenfolge angeordnet. Darunter befinden sich einige Raritäten wie das „Poesiealbum 89“ (1975), Braschs einzige DDR-Publikation von Gedichten, oder der längst vergriffene Band „Kargo. 32. Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen“ (1977). Weiter fanden die Gedichtbände „Der schöne 27. September“ (1980) und „zwei offne Fenster ODER ein liebes paar“ (1999) Eingang in den Band. Zusätzlich konnten noch rund 70 Gedichte aus Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien ausfindig gemacht werden.

Den umfangreichsten Teil der Edition bilden allerdings die Gedichte und Gedichtentwürfe aus dem Nachlass im Thomas-Brasch-Archiv, die zum Teil bereits postum erschienen sind oder hier erstmals publiziert werden. Auch einige Übersetzungen wurden übernommen. Wie die Herausgeber betonen, konnte trotz dieser Vielfalt natürlich kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden.

Da Brasch seine Gedichte häufig als Experimentierfelder ansah und beispielsweise mit Fotos oder Zitaten versah, musste auch diese künstlerische Form gewahrt werden. Hierauf wird besonders in den Anmerkungen eingegangen, die zu jedem Gedicht umfangreiche Zusatzinformationen bringen. Hier findet der Leser neben Selbstaussagen des Dichters auch Nachweise zur Textgenese, Erläuterungen zu Namen und biografische Details. Neben den Anmerkungen komplettiert eine Biografie den umfangreichen Anhang.

Die „Gesammelten Gedichte“ geben so zum ersten Mal ein umfassendes Bild des lyrischen Werkes von Thomas Brasch. In großen Teilen ist es eine Entdeckung eines Werkes, das, wie Heiner Müller einst feststellte, von den „Spuren und Narben seiner DDR-Biographie“ geprägt ist – und das, obwohl Brasch nie ein poltischer Dichter sein wollte. Neben der Aufarbeitung der DDR-Erlebnisse und der Konfrontation mit seinem Vater spielt seine künstlerische Arbeit im Westen eine wesentliche Rolle. Hier war er zunächst sehr erfolgreich, doch dann wurde es still um ihn. Seine Gedichte zeigen Thomas Brasch als einen Getriebenen, einen Heimatlosen und  einen Suchenden.

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Thomas Brasch: »Die nennen das Schrei«. Gesammelte Gedichte.
Herausgegeben von Martina Hanf und Kristin Schulz.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
1030 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-13: 9783518423455

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