Von postsowjetisch zu postmodern

Der Erzählband „Techno der Jaguare“ präsentiert die neueste georgische Literatur und zeigt ihre Entwicklungstendenzen auf

Von Natalia Blum-BarthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Natalia Blum-Barth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von den sieben im Band „Techno der Jaguare“ versammelten Erzählerinnen aus Georgien dürfte Nino Haratischwili dem deutschsprachigen Leser keine Unbekannte sein. Sie ist die einzige unter ihren Kolleginnen dieser Anthologie, die auf Deutsch schreibt und sich mit dem Roman „Mein sanfter Zwilling“ einen Namen im deutschsprachigen Literaturbetrieb erworben hat. Die anderen Schriftstellerinnen schreiben auf Georgisch und es ist ein großer Verdienst der Herausgeber, eine Auswahl aus ihren Werken dem deutschsprachigen Leser zugänglich gemacht zu haben. So unterschiedlich die Thematik und der Stil der vorgestellten Autorinnen sind, so deutlicher zeichnet sich die Originalität jeder einzelnen ab. Worüber und wie schreiben Frauen, die zwischen 1964 und 1983 geboren wurden und in einem postsowjetischen, kaukasischen Staat leben?

Als eine der zentralen Tendenzen dieser Texte lässt sich die Gegenwärtigkeit des Erzählten hervorheben. In keiner der Geschichten reicht die erzählte Zeit über die des Protagonisten, der heute und jetzt dargestellt wird, hinaus. Unwillkürlich entsteht der Eindruck, die Figuren würden von Nirgendwo kommen und Nirgendwohin gehen. Der Leser wird Augenzeuge ihres Jetzt-Zustandes und nimmt die sich breitmachende Leere ihrer Herkunft wahr. Dies äußert sich insbesondere im Kinder-Eltern-Konflikt, wie beispielsweise im Einakter „Die zweite Frau“ von Nino Haratischwili besonders krass dargestellt wird. Der Hass der pubertierenden Tochter Agnes ihrer krebskranken Mutter gegenüber oder die Lieblosigkeit der Mutter, unter der der kleine Alexander in der Erzählung „Der  andere W-E-G“ von Ekaterine Togonidze leidet und Blindheit vortäuschend auf ein Blindeninternat geht, um der Mutter zu entkommen, lassen einen Generationenbruch vermuten. Die Protagonisten scheinen ihre Vergangenheit und ihre Familiengeschichte nicht zu kennen. Da die Großelterngeneration in diesen Erzählungen fehlt oder nur marginal vorkommt, fängt das kultur-historische Gedächtnis der Protagonisten beim Null-Punkt an. Dies zeigt sich auch in der Nicht-Spezifik der Orte, ja, in einer Entortung. Der Topografie kommt keine Bedeutung zu, die Landschaft und die Natur werden nicht beschrieben. Die Orte der Handlung sind austauschbar und die Namen der Protagonisten international. Man könnte von einer postmodernen Prägung dieser Texte sprechen. Vermutlich ist dies im Kontext des Zusammenbruchs der Sowjetunion, der Neuorientierung des postsowjetischen Georgiens in den 1990er-Jahren und der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Situation im Land zu sehen.

Die zweite Gemeinsamkeit und Besonderheit dieser Texte besteht darin, dass ihre Autorinnen sich kleinen Leuten zuwenden: es sind Einzelpersonen, meistens Frauen, die mit ihrer privaten Story im Zentrum der Erzählung stehen. Man findet keine Aufarbeitung der Geschichte und der jüngsten Vergangenheit Georgiens, keine kritische Auseinandersetzung mit der sowjetischen Zeit, keine Konstruktion nationaler Identitäten und Mythen, was auf den ersten Blick zu erwarten wäre. Stattdessen werden private Sorgen, beiläufige Liebschaften, alltägliche Erlebnisse thematisiert. Dabei sind die Protagonistinnen stark und emanzipiert, beruflich erfolgreich, sie wissen, was sie von ihrem Leben möchten und wie sie dies erreichen. Oft hedonistisch, manchmal kaltblütig oder zynisch sind diese Frauenfiguren, aber nie hilfsbedürftig, unsicher oder verzweifelt. Auch mit Schicksalsschlägen scheinen sie umgehen zu können („Die zweite Frau“), lassen sich nicht instrumentalisieren („Killers Job“) und wie Baron Münchhausen können sie sich sogar in der Fremde am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen („Techno der Jaguare“). Doch wird der Leser die (Selbst)Aggression und oft auch die Gewaltbereitschaft vieler Protagonisten nicht übersehen können. Dies schlägt sich auch in der Sprache nieder, die von Hysterie und Schimpftiraden („Die zweite Frau“, „Killers Job“) geprägt ist, stellenweise jedoch hinter Hektik versteckte Angst und Trauma spüren lässt („Techno der Jaguare“, „In den neuen Hütten“, „Der andere W-E-G“).

Um der Leere der Herkunft und der Gegenwart zu entkommen, machen sich manche Protagonisten auf den Weg. Gogona und Mea landen in Amerika („Techno der Jaguare“), während die alleinerziehende Lena ihre zwei Kinder bei der Großmutter lässt und im Westen als Haushaltshilfe arbeitet. Bemüht, die Probleme und Konflikte der Heimat hinter sich zu lassen, werden sie an Sehnsuchtsorten mit anderen Sorgen und Konflikten konfrontiert. Kwinikadze und Haratischwili greifen zu Klischees und warten mit beißender Gesellschaftskritik auf. Wenn die reale Flucht nicht möglich ist, begeben sich einige Protagonisten in imaginäre Räume, surrealistische Erlebnisse sowie vorgetäuschte Krankheit und Selbststigmatisierung: Adna in der Erzählung „In den neun Hütten“ durchquert irreale, halluzinierte Räume, in denen sich verschiedene Zeitdimensionen und Bewusstseinsstufen durchkreuzen; der Protagonistin Tino in „Eine mit Buch und ihre erlesene Leserschaft“ wird über Nacht ein Buch aus dem Kopf wachsen; der Ausnahmebildhauer in der Erzählung „Der andere W-E-G“ täuscht seit Kindheit an Blindheit vor und wird seine Geliebte umbringen, um diese Selbstlüge aufrechtzuerhalten.

Der Band „Techno der Jaguare“ zeichnet die Zäsur, die im postsowjetischen Georgien nicht nur politisch, sondern auch literarisch entstand, nach. Er bietet unterhaltsame Lektüre und weckt das Interesse für georgische Literatur. „Techno der Jaguare“ lässt fragen, ob sich Unterschiede zwischen dem Schreiben männlicher und weiblicher Autoren in Georgien ausmachen lassen. Daher wäre ein Folgeband willkommen, in dem beispielsweise Aka Morchiladze,  Surab Leschawa, Dato Turaschwili, Sasa Burtschuladse, Bondo Matsaberidze und andere neue Erzähler aus Georgien vertreten wären.

Titelbild

Manana Tandaschwili / Jost Gippert (Hg.): Techno der Jaguare. Neue Erzählerinnen aus Georgien.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2013.
248 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783627001926

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