Was ist schon normal?

In Ingomar von Kieseritzkys Roman „Traurige Therapeuten“ regiert der Wahnsinn

Von Susanne HeimburgerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Susanne Heimburger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rumorphobiker, Vomitushysteriker – schon mal gehört? Von diesen und anderen Gebrechen erzählt von Ingomar von Kieseritzkys Roman, der sich liest wie ein Kompendium der abartigsten psychischen, physischen und psychosomatischen Erkrankungen. Von Anfang an wird gelitten, gehustet und geschnieft. Es wird analysiert, diagnostiziert und therapiert (wenn auch meist mit wenig Erfolg).

Artur Singram, gescheiterter Schriftsteller und Therapeut für verhaltensgestörte Kleintiere, reist in eine Davoser Klinik, um sich dort von seinem Wahnsinn und seinem Leiden an der Welt zu erholen. Eine wirkliche Hilfe ist man ihm dort offenbar nicht, und so beginnt er auf eigene Faust mit seiner „Erinnerungsarbeit“: Er versucht, seiner Vergangenheit schriftstellerisch Herr zu werden. Wohlgemerkt war er zuvor bereits als Schriftsteller wie als Therapeut gescheitert. Man kann sich also vorstellen, was passiert, wenn er beides zusammenführt und versucht, sich selbst auf schriftstellerische Weise zu therapieren.

Ein geordneter Roman kommt dabei jedenfalls nicht heraus. Ganz im Gegenteil: Der Ich-Erzähler führt den Leser in das komplexe Labyrinth seines kranken Geistes, in ein Universum bevölkert von Ärzten, Taxidermisten, Therapeuten, Pathologen und Lebenskünstlern, von Menschen, die an Tiere erinnern, und von Tieren mit menschlichen Gebrechen, in eine Welt, in der es keine (geistig) gesunden Menschen (oder Tiere) gibt und in der selbst die Therapeuten unter einer Patientenphobie leiden. Ob das alles seinem kranken Gemüt hilft, ist natürlich fraglich. Und genauso fraglich ist, ob das, was er da schreibt, nicht frei erfunden ist, lässt ihn sein Gedächtnis doch des Öfteren im Stich (selbst sein Alter muss er erst einmal im Personalausweis nachlesen). Überhaupt scheint alles nur Ansichtssache und eine Frage der Interpretation zu sein. Das gilt für Texte wie für Patienten – schließlich gebe es, so sein behandelnder Arzt, keinen Menschen, der so gesund sei, als dass er sich nicht in einen Patienten verwandeln ließe.

Das Reflektieren der eigenen Situation, das Tagebuchschreiben also, ist eine schon unter seinen Vorfahren weit verbreitete Obsession. Bereits sein Großvater und sein Vater haben ganze Bände mit ihren autobiografischen Notizen gefüllt. Diese führt sich Arthur Singram nun immer wieder zu Gemüte und kommentiert sie im Hinblick auf ihren literarischen Stil und ihre inhaltliche Konsistenz. So entsteht eine verschachtelte Tagebuchkonstruktion, in der sich der Leser erst einmal zurechtfinden muss. Singram geht sogar noch einen Schritt weiter und lässt den Leser am Entstehungsprozess des Textes teilhaben – erklärt, wann er mit einer Formulierung unzufrieden ist und einen Satz noch einmal „glattbügeln“ muss. Das erinnert doch stark an Sternes „Tristram Shandy“.

Überhaupt muss man sich schon irgendwann fragen, ob es Singram wirklich beim Schreiben in erster Linie um Selbsttherapie geht. Zu sehr muss er dem Leser zeigen, was er kann, wie gut er mit der deutschen Sprache und auch sonstigem literarischen Material umgehen kann. Mit seinem breiten humanistischen (Halb-) Wissen hält er nicht gerade hinterm Berg. Und wäre nicht irgendwo schon das Wort „Ikea-Sofa“ gefallen, könnte man glauben, sich – zumindest sprachlich – in ein Tagebuch aus der Goethe-Zeit verirrt zu haben.

Was in dem Roman geschieht? Eigentlich nichts. Zumindest nichts, was man als ein zügiges Voranschreiten der Handlung bezeichnen könnte. Eine komische Episode folgt der nächsten, und jede ist verzwirbelter und verschrobener als die andere. Das muss man zwar mögen, aber langweilig wird es beim Lesen jedenfalls nicht.

Titelbild

Ingomar von Kieseritzky: Traurige Therapeuten. Roman.
Verlag C.H.Beck, München 2012.
350 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783406641527

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