Lenz und Lena

Eduard Habsburg versucht sich mit seiner Erzählung „Lena in Waldersbach“ am Erbe Georg Büchners

Von Malte VölkRSS-Newsfeed neuer Artikel von Malte Völk

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Idee ist bestechend: Eine siebzehnjährige Schülerin folgt den geistigen und räumlichen Spuren des Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz – so weit sie ihr aus Georg Büchners Erzählung „Lenz“ bekannt sind. Ihrem Vorbild gleich ist sie von manischer Geistesverfassung, jedoch mit dem überschaubaren Erfahrungshorizont einer Frankfurter Gymnasiastin, die sich auf einen Ausflug in die Vogesen begibt. Die erratische Wanderung ins „Gebirg“ mit dem Aufenthalt bei einer Pastorenfamilie und der Suche nach weiteren authentischen Lenz-Orten ist für Lena, so der mimetische Name der Protagonistin, eine Flucht, die einen deutlich zwanghaften Charakter aufweist. Anders als bei Büchners „Lenz“ wird jedoch hier im Laufe der Erzählung  genau aufgeklärt, wovor die junge Frau zu fliehen versucht, worin ihre Probleme bestehen – und wie sie gelöst werden. Das mag Lena gut bekommen, aber keinesfalls der Erzählung, die so zu einer harmonisierten, zahnlosen Variante der unversöhnlichen Büchnerprosa wird.

Das erste Drittel des Buches übernimmt derart viel Originaltext aus der Vorlage, dass man geradezu von einer Montage oder Collage sprechen könnte. Die Passagen von Büchner – auf deren Kennzeichnung wohl aufgrund der ohnehin unübersehbaren Nähe zum Vorbild verzichtet wurde – sind dabei so stark, dass sie den dazwischenliegenden Text von Habsburg kaum bemerkt mittragen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch eine ungünstige Fallhöhe. Zur beispielhaften Gegenüberstellung: Büchners Lenz stand im Original „keuchend, den Leib vorwärts gebogen, Augen und Mund weit offen, er meinte, er müsse den Sturm in sich ziehen, alles in sich fassen, er dehnte sich aus und lag über der Erde, er wühlte sich in das All hinein, es war eine Lust, die ihm wehe tat; […] Aber es waren nur Augenblicke; und dann erhob er sich nüchtern, fest, ruhig, als wäre ein Schattenspiel vor ihm vorübergezogen“.

Bei Habsburg wird daraus: „sie hatte sich vornüber beugen müssen, als ob sie erbrechen müsste, war das ein beschissenes Gefühl. Aber es waren nur Augenblicke; und dann erhob sie sich nüchtern, fest, ruhig, als wäre ein Schattenspiel vor ihr vorübergezogen.“ Ein beschissener Brechreiz als vorüberziehendes Schattenspiel? Das ist mindestens ungeschickt formuliert, und stellt dabei noch eine der besseren Passagen dar.

Nach dem Ende dieses ersten Drittels von Lenas Erlebnisschilderung sind alle Büchner’schen Motive und Szenen aufgebraucht, und der Wegfall dieser Stütze lässt die Erzählung vollends abstürzen. Dem gegenläufig geht es mit Lena wieder bergauf, weil sie zwei männliche Bezugspersonen gefunden hat, die ihr helfen, sich mit ihrem Kindheitstrauma (Trennung der Eltern) auseinanderzusetzen.

Da ist einmal der Pastor, bei dem sie untergekommen ist, ein gütiger Mann mit „Schaufelhänden“, der ihr, obwohl Lutheraner, vom therapeutischen Nutzen der Beichte erzählt. Das tut er erstaunlicherweise nicht so, als hätte er die geistig rege junge Frau vor sich, die Büchners „Lenz“ aus Wissensdrang in der historisch-kritischen Marburger Ausgabe liest, wie man es als Leser inzwischen über Lena erfahren konnte. Stattdessen wendet er sich mit Worten an sie, die man vielleicht einem Kleinkind zukommen ließe: bei der Beichte wird „der Pfarrer zu einer Telefonleitung zu Gott“, erklärt ihr der Mann mit den Schaufelhänden; „Gott nimmt den Schwamm und wischt die Schuld so weg, das (!) sie nicht mehr da ist“. Gott hat also Festnetz. Und eine Grammatikschwäche. Aber was soll die handybegeisterte Lena mit diesen Informationen anfangen? Es wird sich alles fügen.

Denn zwischen den vielen willkürlichen Erwähnungen von Handy, SMS, I- Pod, Facebook und so weiter – die offenbar zeigen sollen, dass der Verfasser trotz seiner katholischen Erbauungsliteratur nicht von gestern ist – lernt Lena ihren Retter Jacquot kennen. Dieser „Ritter auf dem Motorrad“ (so nennt sie ihn wirklich), ein braver Kirchgänger, gibt der Strauchelnden schließlich den nötigen Halt seiner starken Arme und dazu das Freiheitsgefühl des rasenden Feuerstuhls, womit Lena ihr Leben wieder in den Griff bekommt.

Ihre Episoden des Wahnsinns waren ohnehin kaum glaubwürdig, weil der Verfasser keine erzählerischen Mittel findet, um zum Beispiel das Auftreten einer Halluzination überzeugend als Ausdruck des Erlebens der jungen Frau darzustellen. Schon allein der Versuch, sich stilistisch dem anzunähern, was Habsburg wohl für eine jugendtypische Sprache hält, hat genau den gegenteiligen Effekt: der Erzähler ist omnipräsent, was freilich auch mit dem paternalistischen Grundton des Büchleins korreliert. Über zum Teil quälend detaillierte Schilderungen von Colagläsern, Apple-Monitoren und Wasabi-Chips hangelt sich die im selbstgewählten Vergleich zu Büchner bitterlich arme Sprache zum Ende hin.

Zum Schluss werden die Worte, mit denen Büchner seinen „Lenz“ enden lässt, auf eine Art verfremdet, die eigentlich den ganzen Büchner komplett zerstören. Denn während das furchtbare Ende von Lenz darin besteht, dass er völlig abgestumpft und resigniert aus der Erzählung heraustaumelt, ist die Abtötung von „Angst“ und „Verlangen“ für Lena positiv gewendet. Der versöhnliche Abschluss, der eine Siebzehnjährige ohne weiteres Begehren zurücklässt – sie hat ja den Motorradritter – instrumentalisiert Büchner für eine reaktionäre Heilserzählung. In dieser kann eine seelische Zerrüttung nicht mehr Ausdruck von gesellschaftlichen Antagonismen und individuellem Freiheitsdrang sein, sondern erscheint als vorübergehendes Problem, das mit einer Hinwendung zu paternalistisch-religiösem Trost behoben wird. Der Versuch, ein Kunstwerk gleichsam zu heilen, kann auf diese Art nicht funktionieren.

Titelbild

Eduard Habsburg: Lena in Waldersbach. Eine Erzählung.
Verlag C.H.Beck, München 2013.
120 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783406644948

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