Vom Anfang und Ende des Buches

Uwe Jochums Geschichte der abendländischen Bibliotheken als Hörbuch

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit etwa fünftausend Jahren gibt es Bibliotheken und Archive. Ihre lange Geschichte bündig und anschaulich zu erzählen, ist keine leichte Aufgabe. Uwe Jochum, Bibliothekar an der Universität Konstanz, ist sie bereits mehrmals angegangen. Schon 1993 veröffentlichte er eine „Kleine Bibliotheksgeschichte“ bei Reclam, (https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=15850) 2009 folgte eine „Geschichte der abendländischen Bibliotheken“ im Darmstädter Primus Verlag. Auf diesem letzteren Band basiert nun eine stark gekürzte Hörbuchfassung, die 2011 bei Auditorium Maximum erschien, dem Hörbuchverlag der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft. Natürlich wäre es absurd, eine so lange, komplexe Geschichte in 71 Minuten Spielzeit differenziert erzählen zu wollen, aber als Überblick und erste Einführung taugt dieses Hörbuch sehr gut. Jochum beginnt ab ovo, mit den Höhlenzeichnungen des frühen Homo sapiens als komplexen Zeichen, die das Wissen des jeweiligen Stammes abspeichern sollen, und führt dann von den ersten Tontafeln bis in die Gegenwart. Übrigens ist der Text von Martin Falk ordentlich eingesprochen.

Um das Material zu gliedern, hat Jochum sich für eine Einteilung in vier Kapitel respektive Grundmodelle der Bibliothek entschieden. Am Anfang stehen die „kosmologischen“ Archive und Bibliotheken Mesopotamiens und Ägyptens, die die Gesamtheit des Kosmos und den eigenen Herrscher gleichsetzen. Demnach wird, besonders im Zweistromland, seine exponierte Stellung dadurch legitimiert, dass er einen Wissensvorsprung über astronomische Abläufe besitzt, aus denen sich wiederum der Jahreslauf ableitet, der den Rhythmus des Königreiches steuert. Dieses Wissen ist auf den Tontafeln und – in Ägypten – den Papyri abgelegt. In einem zweiten Schritt folgen die „imperialen“ Bibliotheken der hellenistischen Reiche und Roms, allen voran natürlich Alexandria. Die Einführung des Christentums bedeutet nicht das Ende der Bibliothek römischen Typs, die sich bis zum Ende der Spätantike hält. Der Übergang zum Mittelalter, zu den „Bibliotheken des Heils“ in den Klöstern, später zu den größeren Gemeinschaften der Kollegs und Universitäten vollzieht sich ganz allmählich, wie ja auch die Hochschulen selbst sich erst im Laufe der Jahrhunderte von ihrer kirchlichen Anbindung lösen.

Mit dem Übergang zur Neuzeit geht die führende Rolle bei der Gründung und Ausstattung von Bibliotheken von der Kirche an andere Institutionen über, an Städte, Privatpersonen und schließlich Staaten. Diesen neueren Typus fasst Jochum unter dem Titel „Bibliotheken des Nutzens“ zusammen – etwas missverständlich, wenn man bedenkt, dass dieser „Nutzen“ ganz unterschiedlicher Natur sein kann. Er kann in der Demonstration der Macht und Weltläufigkeit eines Fürsten bestehen oder darin, das notwendige Wissen für seine Herrschaft bereitzustellen. Der Nutzen für einen Wissenschaftler wird darin bestehen, dass er mit Hilfe der vorhandenen Texte neue Erkenntnisse gewinnt, während die öffentliche Bibliothek der Gegenwart ganz allgemein eine lesende, hörende, sehende Öffentlichkeit mit gemeinsam genutzten Medien versorgt, die sich die allermeisten in dieser Zahl nicht leisten könnten. Aber dieser unscharfe Begriff lässt sich verschmerzen, vor allem, wenn man bedenkt, dass auf dem Raum einer einzigen CD – etwa 20-30 DIN A 4-Seiten Text – Vergröberungen und Verkürzungen überhaupt nicht zu vermeiden sind.

Schade nur, dass unter diesen Beschränkungen die brennendste Frage zu kurz kommt, nämlich die nach der Zukunft der Bibliothek. Das ist schade, denn Jochum ist als engagierter Skeptiker bekannt, wenn es um den allumfassenden Drang zur Digitalisierung geht. Wird das physisch vorhandene Buch in eine Datei transferiert, verliert es nicht nur seinen konkreten Platz in einer Bibliothek, in dem man es an seinem Standort aufsuchen und gemeinsam mit den benachbarten Bänden  konsultieren kann. Sondern es gewinnt einen neuen Status, der dem alten nicht unbedingt vorzuziehen ist. Unterfinanzierte Bibliotheken können so vielleicht ihre Platzprobleme lösen. Dass dieser Paradigmenwechsel aber auch die Kosten senke,  sei ein Trugschluss, argumentierte Jochum schon vor Jahren in einem Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Die einzelne Datei mag billiger sein als ein gedrucktes Exemplar, aber dafür verschlingt die Umstellung und Pflege der digitalen Infrastruktur immer größere Posten. Und: Ein gedrucktes Buch bleibt ein Buch bleibt ein Buch, das bei sorgsamem Umgang in dreihundert Jahren noch ebenso lesbar ist wie heute. Dass aber die heutigen Dateiformate sich dreihundert Jahre halten, oder eine digitale Datei überhaupt so lange existieren kann, ist extrem unwahrscheinlich.

Ein elektronisches Buch ist also eine Anschaffung für eine sehr begrenzte Zeit. Und die Bibliotheken, die einen immer breiteren Mix verschiedener Medien bereithalten müssen, drohen tatsächlich ihre eigentliche Aufgabe aus dem Blick zu verlieren, nämlich ein Raum zu sein, der hauptsächlich diese Medien bereithält und vor Ort zugänglich macht. Ein Beispiel: Bei uns in Calgary, in der kanadischen Prärie, soll in einigen Jahren eine neue Zentralstelle der Stadtbibliothek gebaut werden. Etwa 180 Millionen Euro (245 Millionen kanadische Dollar) soll der Neubau kosten, aber der beachtliche Bestand von 600.000 physisch vorhandenen Medien soll nach und nach abgebaut und durch digitale ersetzt werden. Der frei gewordene Raum soll zur Begegnungsstätte für die Bürger von Calgary werden. Das Argument: Nur so könne man eine Bibliothek fürs digitale Zeitalter schaffen.

Nur: Was dann  übrigbleibt, ist eben eine Begegnungsstätte und keine Bibliothek. Wie wäre es denn mit ein paar netten Cafés oder einem Apple Store auf den frei gewordenen Quadratmetern, so dass die Benutzer statt zu lesen volkswirtschaftlich nützlichere Dinge tun könnten? Und selbst die Bibliothek meiner Universität ist nicht besser dran: 2011 hat sie ein neues, kleineres Gebäude bezogen, teilweise gebaut aus den großzügigen Spenden einer Familie, aber mit schrumpfendem Anschaffungsetat. Es gibt hunderte luxuriöser Rechnerarbeitsplätze dort, sogar ein eigenes Computerspielcenter, das bei den Studierenden sehr beliebt ist. Der Haken? Ein wesentlicher Teil des Buchbestands ist, für nordamerikanische Uni-Bibliotheken ungewöhnlich, ins Magazin abgeschoben, und den Link zum eigentlichen Buchkatalog findet man auf der Startseite verschämt in eine Ecke gepfropft, gleich neben der Werbung für das uni-eigene Hotel und das Sportteam.

So gesehen, ist Jochum im Recht, wenn er die laufende Digitalisierung als Ende der Bibliothek in der uns bekannten Form beklagt. Aber, und auch hier wieder ein persönliches Gegenbeispiel, so eindeutig negativ fällt die Bilanz nicht aus: Ich habe gerade eine längere Forschungsarbeit zu seltenen Texten der deutschen Romantik beendet. Wie hätte ich das von Kanada aus tun können, ohne auf Digitalisate zurückzugreifen? Die meisten dieser Bücher sind im Umkreis von 3.000 Kilometern nirgendwo vorhanden, und antiquarisch weder für eine Privatperson noch aus dem Anschaffungsetat einer unterfinanzierten UB zu bezahlen. Ohne Google Books und diverse öffentlich finanzierte Projekte in Europa wäre die Arbeit praktisch nicht zu Ende zu schreiben gewesen. Und woher kommt wohl ein wesentlicher Teil der Informationen, die Sie in dieser Rezension finden? Woher weiß ich, wie viel die besagten Bücher in der Anschaffung kosten würden, oder was Uwe Jochum in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ schreibt?

Richtig, aus dem Internet, namentlich dank der Suchmaschine einer kalifornischen (und, ja, mit dem NSA kooperierenden) Softwarefirma. Und schließlich ist das Hörbuch, über das ich hier schreibe, ja auch ein Datenträger mit digitalem Inhalt. Der ist wiederum das Derivat eines physisch vorhandenen Buches, das aber (vermutlich) von seiner Niederschrift über Satz und Druck bis hin zur Distribution wiederum mit Hilfe digitaler Technik hergestellt ist. Diese komplexe Gemengelange ist aber zumindest in der Hörbuchfassung  auf wenige apokalyptische Worte geschrumpft. Da ist vom „Fluss der unermesslichen Datenmengen“ die Rede, die „ganz ohne Vermittlung eines Geistes“ miteinander kommunizieren. Die Digitalisierung ziele letztlich darauf, „den Menschen aufzugeben und einen digitalen Übermenschen zu kreieren“, der sich von seiner „ontologischen Basis“ verabschiede und ganz in einer digitalen Existenz aufgehe. Für diese apokalyptische Vision auch noch die spätantike Gnosis zu bemühen, die den Menschen als „Lichtkeim“ betrachte, der seine physische Existenz abwerfen wolle, ist schon arg verkürzt.

Stattdessen würde man sich eine differenzierte Diskussion der Vor- und Nachteile der Digitalisierung wünschen, die die technischen Prozesse und ihre Konsequenzen genauer beschreibt und ihre Vor- und Nachteile abwägt. Dafür ist aber in 71 Minuten wiederum keine Zeit, und man will dringend die Druckfassungen von Jochums Büchern in die Hand nehmen, um genauer nachzulesen.

Titelbild

Uwe Jochum: Geschichte der abendländischen Bibliotheken.
Primus Verlag, Darmstadt 2011.
1 CD, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783654601823

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