Dichter, Spötter, Rätselsteller

Entschlüsselungen zum Werk Georg Büchners

Von Christian MilzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Milz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es scheint ein Phänomen zu sein, dass diejenigen, die sich überhaupt mit Georg Büchner beschäftigen, von ihm so in den Bann gezogen werden, dass bei der Rezeption die eigenen weltanschaulichen Standpunkte sowohl in den Vordergrund drängen als auch überaus empfindlich auf jegliche Konkurrenz aus dem anderen Lager reagieren. Reinhold Grimm („Woyzecks Hundele und Wetzels alter Hut“, Georg Büchner Jahrbuch 4/1984) und Heinz Wetzel („Vom Filzfetischismus kleiner Hunde“, Euphorion 2/1983) lagen sich seinerzeit über „Hut“ oder „Hund“ im „Woyzeck“-Fragment heftig in den Haaren: Der (jeweils in den Augen des anderen) „Anwalt des Abgestandenen und Büttel eines ungesunden forscherlichen Volksempfindens“ keilte gegen den im „Brackwasser der sexuellen Emanzipation sich Wiederfindenden“, und noch Jahrzehnte später versuchte Wolfgang Wittkowski („Georg Büchner. Rückblick und Einblick“, Frankfurt 2009) aus der Position eines religiösen Deutungsansatzes im Namen der Marburger „Hüter der Handschrift“ quasi durch ein Machtwort den „Hut“ zum Dogma zu erklären. Der (große) „Hut“ wird in Büchners 2. Handschriftenentwurf durch Woyzecks kleinen Hund besprungen, Woyzeck muss dabei helfen, drum herum stehen die Buben und Mädel.

Das Absurde bei diesem Streit (und Grimms starkes Argument) war, dass das gleiche Motiv bereits in „Dantons Tod“ auftaucht. Nur sind es dort eine Dogge und ein Bologneser Schoßhündlein, die sich quälen. Die „Hüter der Handschrift“ beriefen indes sich auf Büchners Orthografie und tun das bis heute. Wer sich die Faksimiles des „Woyzeck“betrachtet, kann darüber nur staunen. Entweder war Büchner nämlich ein Legastheniker oder extrem erregt oder beides oder, wie der Onkel meinte, überhaupt ein „Schußel“. In der gleichen Passage findet sich das Wort „grotesk“ in drei verschiedenen Schreibweisen. Übrigens schauen auch im Revolutionsdrama Kinder bei der abartigen viehischen Vermischung von Groß und Klein zu. Eine Dissertation des Fachbereichs Germanistik aus dem Jahr 2011 über „Das Komische in Georg Büchners Drama ‚Dantons Tod‘“ (Go-Sung Choi, Marburg 2011) reproduziert die Entschlüsselung der Dogge als Danton (Georg Danton, nebenbei bemerkt, was Grimm 1979 („Text und Kritik Sonderband Georg Büchner I/II“) durchaus entging, er machte Büchners Figur zu einem historisch korrekten, aber poetisch falschen „Georges“), alle diese hermeneutischen Zugriffe aber scheren sich keinen Deut um die einbezogenen Kinder. Man las und liest also selektiv. Und das mit Methode. Vielleicht meinte Büchner mit der Dogge tatsächlich seinen Danton. Aber er wollte eben auch noch auf etwas anderes hinaus. Denn da wäre ja noch der hündisch besprungene und von Kindern umstandene große „Hut“.

Das genannte Motiv mündet in „Dantons Tod“ in die Warnung, man solle die zuguckenden Mädel nicht in der Sonne sitzen lassen, die Mücken trieben es ihnen sonst auf den Händen, das mache Gedanken. Erstaunlicherweise macht sich die Büchner-Rezeption, egal welcher Provenienz, diese Gedanken bislang nicht. Denn zweifelsfrei ergibt sich aus diesem Motiv eine sexuelle Konnotation sowohl der „Sonne“ als auch der „Mücken“. Wäre Büchners Publikum weniger auf den Sozialrevolutionär und Sozialdramatiker (oder religiösen oder existentialistischen Dramatiker) Büchner fixiert, dann würde es diese Prägung von Chiffren sorgsam als spezielle Ausdrucksweise von Büchner, das heißt eine für ihn spezifische Metaphorik verbuchen und gegebenenfalls in der Lektüre berücksichtigen. Im Falle der „Sonne“ geht diese Prägung übrigens bis auf Shakespeares „Hamlet“ zurück. „Hängen stets noch Wolken über Euch?“, fragt der König den aus guten Gründen verstimmten Neffen. – „Nicht doch, mein Fürst“, antwortet dieser, „ich habe zu viel Sonne“.

Diese spezifische, an das Symbol „Sonne“ in Kinderbildern anschließende motivische Verwendung findet sich auch bei Novalis in Klingsohrs Märchen. Zuviel Sonne hat auch Büchners Danton. „Ich wittre was in der Atmosphäre, es ist als brüte die Sonne Unzucht aus“, klagt er auf der Promenade im 2. Akt. Sein Autor geht mit ihm d’accord. Simons, des Souffleurs Weib, bekennt, auf der Gasse auf einem Stein in der Sonne gesessen und sich gewärmt zu haben, während um die Ecke herum die jungen Herren bei ihrer Tochter die Hosen herunterlassen.

„Ihr Hunger hurt und bettelt“, lässt Büchner den ersten Bürger abwiegeln; das ist der Standpunkt des Sozialdramas. Es gibt aber eben auch diese andere, chiffrierte Perspektive, die Büchner zudem umgehend in Klartext übersetzt. Die Mutter nimmt sich das Anrecht auf das Glied der Tochter heraus. Der sexuelle Missbrauch wird doppelt begründet: durch materielle Not und durch die lustvolle Inbesitznahme der Tochter durch die Mutter. Dem eloquenten Souffleur, Vater des Mädchens und Ehemann der die Intimität der Tochter vergesellschaftenden Mutter fehlen in Anbetracht eines solchen Zynismus auf beredte Weise die Worte: Er verlangt nach einem Messer. Das ist die Fortsetzung der Rede mit anderen – Woyzecks – Mitteln.

Das motivisch-metaphorische Netz im „Woyzeck“ ist bereits 1960 von Volker Klotz („Geschlossene und offene Form im Drama“, München 1960) als metaphorische Verklammerung beschrieben worden, wenngleich noch nicht vollständig. Allerdings begnügte sich Klotz damit, die motivische Vernetzung als Funktion der „offenen Form“ des Dramas zu verorten. Auf den Gedanken, dass ein Autor des 19. Jahrhunderts nicht unbedingt das Anliegen hat, eine expressionistische Collage formal zu vereinheitlichen, ist man bislang nicht gekommen, sonst hätte die Büchner-Rezeption auch nach der inhaltlichen Bedeutung des motivisch-metaphorischen Netzes gefragt. Stattdessen fokussieren die Büchner-Forschung, teilweise die Bühnen und vor allem die Unterrichtswerke für die Schulen, Lektürehilfen und so weiter die „Woyzeck“-Interpretation auf den historischen Fall (aktuelles Beispiel ist Marion Schmaus: „Psychosomatik. Literarische, philosophische und medizinische Geschichten zur Entstehung eines Diskurses“, Tübingen 2012), ohne die Überlegung anzustellen, dass eine solche Vorgehensweise die Selbstständigkeit eines Dramentextes negiert, die im 19. Jahrhundert noch zur Selbstverständlichkeit von Dichtung gehörte.

Darüber hinaus gerät der nirgends ästhetisch begründeten Hinzuziehung des historischen Materials stets aus dem Auge, dass Büchners Dramaturgie und die historische Woyzeck-Erzählung weitestgehend divergieren. Anders ausgedrückt ist die moderne Vermischung von Quellenforschung und Zitatforschung im Hinblick auf Büchner zu problematisieren. Der Woyzeck-Fall und andere historische Vorlagen sind unstreitig für Büchner Quellen. Ob sie als Zitate gemeint sind, wäre aus Büchners Dichtung nachzuweisen, der einfache Nachweis des copy reicht dazu nicht. Andererseits zitiert Büchner erwiesenermaßen. Ganz ausdrücklich beispielsweise die Bibel. Desgleichen Goethes Faust I. Bislang bestritten werden seitens der Forschung die „Hamlet“-Zitate, die Mühe der Begründung macht man sich dabei nicht.

Tatsächlich scheint sich Büchners „Woyzeck“-Dramaturgie aber stark an den „Hamlet“ anzulehnen. Das beginnt mit den Halluzinationen, die an die Erscheinung des väterlichen Geistes erinnern und geht über die Gebetsszene mit dem vergeblichen Flehen um Vergebung bis zu den Binnentexten, bei Shakespeare das Theater im Theater (das es im „Woyzeck“ zudem in mehrfacher Hinsicht auch gibt), bei Büchner die Märchenparabel. Offensichtliche Anspielungen sind der Igel, der rollende Kopf und der hohle Boden (in der Eingangsszene der Hauptfassung) mit dem Stacheltier, von dem der Geist spricht, und den mit den Schädeln kegelnden Totengräbern in der Friedhofsszene des „Hamlet“. Warum aber diese Anspielungsebene? Sie bildet mit den Bibelzitaten, den allegorischen Liedinhalten (Allegorie des Sexuellen, möglicherweise auch Pädosexuellen durch das Motiv der Jagd) und dem motivisch-metaphorischen Netz eine verdeckte Redeebene, zu der auch besagte „Sonne“ und die „Mücken“ gehören.

Lässt man sich auf die Komplexität des „Woyzeck“-Dramas, sofern man erst einmal Zugang zu ihr gefunden hat, ein (mit Interpretation in dieser oder jener Richtung kann gegenüber der rhetorischen Ebene, der sprachlichen Form, nicht argumentiert werden), dann entstehen spektakuläre Inhalte, Sinnzusammenhänge und tragische Konstellationen. Sie sind tiefgehend, ergreifend und unglaublich einfach. Ein erstes Indiz in diese Richtung liefert bereits die Benennung der Figuren auf den verschiedenen Entwurfsstufen. Franz Xaver Kroetz („Georg Büchner: ‚Woyzeck‘. Die Kroetz’sche Fassung“, Hamburg 1996), der seiner Fassung anders als allgemein üblich die frühen Handschriftenentwürfe zugrunde legt, ist meines Erachtens der einzige, der daraus hermeneutische Konsequenzen zieht. Ihm fällt auf, dass Büchner seine männliche Hauptfigur zunächst nur Louis nennt und ihr keinen Nachnamen zuteilt. Stattdessen heißt die weibliche Figur ursprünglich Margreth Woyzeck.

Kroetz macht beide zu Mann und Frau, schließlich sei es ja schöner, seine Ehefrau umzubringen als einen One-Night-Stand. Das kann man so sehen. Warum Büchner den Familiennamen seiner Figur Louis unterschlägt, wird dadurch nicht beantwortet. Offensichtlich wollte Büchner sowohl gleiche als auch unterschiedliche Familiennamen vermeiden. Das ist jedenfalls die einzige logische Erklärung für diese Auffälligkeit. Die zweite Entwurfsstufe zeigt das gleiche Phänomen in der Umkehrung. Jetzt heißt die männliche Figur Franz Woyzeck, die weibliche nur Louise, kein Familienname. Interessanterweise zeitigt diese überarbeitete Benennung eine bemerkenswerte dramaturgische Konsequenz. Die Stimme aus dem Boden, die den Tod des weiblichen Opfers fordert und es damit auch (im Sinne einer Anagnorisis) namentlich identifiziert, muss hier schweigen. Als Kompensation für die entfallene starke Szene entsteht die neue Exposition mit Woyzecks eindrucksvollen optischen Halluzinationen. Im Hintergrund dieser Beobachtungen steht freilich die Frage, warum die Dramaturgie zunächst verlangt, „die Woyzecke“ totzustechen.

Allgemein (beispielsweise Gerhard P. Knapp, „Georg Büchner“, Stuttgart 2000) wird diese Entwurfsstufe als Eifersuchtsgeschichte bezeichnet, das „work in progress“ strebe in seiner weiteren Entwicklung dann aber zum Sozialdrama. Letzteres habe Büchner nach dieser Vorstellung von Anfang an im Hinterkopf gehabt. Davon abgesehen, dass dabei das (allseitig unter den Teppich gekehrte) hermeneutische Problem entsteht, das spätere Sozialdrama mit der frühen Mordballade konzeptionell auf eine Linie zu bringen, geben die Handschriftenentwürfe, sofern man sie tatsächlich genau liest, diese Sichtweise nicht her. Neben dem dramaturgisch schwergewichtigen Komplex um die Mordszene spielt nämlich der Wahnsinn bereits im ersten Handschriftenentwurf eine tragende Rolle, ganz im Gegensatz zu der dort noch fehlenden Präsenz der für die Eifersuchtsgeschichte unabdingbaren weiblichen Figur: Sie wird auf der ersten Entwurfsstufe erst unmittelbar vor der Mordgeschichte wirklich sichtbar.

In der Tat handelt es sich also bei dem frühen „Woyzeck“ um eine Mordballade mit einem starken Wahnsinnsaspekt und einem ungefähr ein Drittel des Textes beanspruchenden satirischen Teil. Was neben der nur gerade eben angedeuteten Eifersuchtsgeschichte auf der ersten Entwurfsstufe überhaupt nicht vorhanden ist, ist das Sozialdrama. Es gibt keinen Hauptmann, den Woyzeck zu rasieren hat, es gibt keinen Doktor, es gibt kein Ernährungsexperiment. Es gibt übrigens auch kein gemeinsames Kind der beiden Hauptfiguren, diese Beziehung hat ja kaum Konturen. Der unvoreingenommene Blick auf die Entfaltung des „Woyzeck“ widerlegt bemühte Versuche, wie beispielsweise den von Harald Neumeyer (Roland Borgards, Harald Neumeyer [Hrsg.]: „Büchner-Handbuch“, Stuttgart 2009), Woyzecks Wahnsinn ganz oder partiell auf das Ernährungsexperiment beziehungsweise die sozialen Umstände zurückzuführen. Das Motiv ist von Anfang an vertreten und hängt aufs Engste mit der Mordballade zusammen, während Eifersuchtsgeschichte und Sozialdrama erst im Laufe des work in progress ausgestaltet werden.

Dagegen hat bereits Wolfgang Martens („Zeitschrift für deutsche Philologie“ 4/1960) festgestellt, dass der Keim zu den von den männlichen Figuren verkörperten neuen Motiven in der Hauptfassung in der Figur des Barbiers zu finden ist, die ersichtlich nichts mit der Mordhandlung zu tun hat. Dieser von der Bühnenhandlung (nicht aber von der embedded story) abgekoppelte Charakter des satirischen Parts erklärt auch hinreichend, warum Büchner beim Abfassen des „Woyzeck“ zwei Mal von vorne ansetzt, während er das Ende des Dramas nur durch eine einzige kleine Szene ergänzt. Er musste die Entwicklung der Handlung zum Mord hin sozusagen motivisch unterfüttern. Die Mordballade war das, was als Erstes dramaturgisch vor seinen Augen stand. Die Frage drängt sich daher auf, was Büchner an der szenischen Umsetzung eines Mordes reizte, zu dem ihm die dramaturgische Vorgeschichte fehlte.

Die Antwort auf diese Frage liefert das motivisch-metaphorische Netz, das mit der Chiffre „Sonne“ und den über alle Szenen ausgestreuten Metaphern und Bildketten Woyzecks Geliebte und Mutter ineinander verstrickt. Teil dessen ist auch der Konnex der beiden Namen Woyzeck und Zickwolf in der Hauptfassung, womit der Autor das Problem löst, weder gleiche noch verschiedene Familiennamen verwenden zu müssen. Die Georg Büchner Gesellschaft versteift sich auf das Argument, der Name Zickwolf sei auch heute noch ein völlig gängiger Name. Als ob das etwas zu besagen hätte. Büchner könnte sich an Tieck orientiert haben. Der Romantiker kündigt in seinemBlonden Eckbert“ mit der teilweisen Homonymie von Eck-bert und Bert-ha den Geschwisterinzest onomastisch an, weit bevor ihn die Geschichte schlussendlich enthüllt. In dem von Georg Büchner übersetzten Victor-Hugo-Drama „Lucretia Borgia“entfernt Gennaro an dem Palast der „Orgie“ symbolträchtig das „B“ des titelgebenden Namens mit dem Messer. Gennaro ersticht die Lucretia am Ende. Sie ist seine Mutter. Victor Hugo spielt in seinem Drama mit dem mütterlichen Inzestbegehren, das Erstechen durch den Sohn bildet den melodramatischen Schluss.

Im Hinblick auf den rätselhaften Binnentext des Großmuttermärchens im „Woyzeck“ kann man bei Novalis nachschlagen. Sein „Heinrich von Ofterdingen“ enthält eine bereits erwähnte Märchenparabel, in deren Mittelpunkt ein zweifacher Inzest steht. Novalis verwendet in diesem Zusammenhang das Symbol „Sonne“ in exakt der gleichen Konnotation wie Büchner: Anders als das Büchner-Handbuch meint, spielt im „Woyzeck“ nicht der Lichtaspekt der Sonne die Hauptrolle, sondern der der Hitze. Das Weib ist heiß, Marie hat heiße Hände. Einen geradezu sensationellen Effekt (und keinen sentimentalen) machen dann, hat man Büchners Metaphorik parat, die beiden letzten Szenen der Hauptfassung. Marie bezeichnet sich im Abgrund der Verzweiflung als „Sonne“, während Woyzeck unmittelbar danach feststellt, seine Mutter fühle nur noch, wenn ihr die Sonne auf die Händ scheint. Kurz zuvor hat Woyzeck das Messer bei dem Juden erstanden. In der darauffolgenden Szene fällt aus Maries Mund dieser Satz: „Das Kind gibt mir einen Stich ins Herz“. Er antizipiert die bevorstehende Tat und macht dem Opfer die Unausweichlichkeit seines Schicksals bewusst. Nun tritt der Narr auf, der in der ihm eigenen Märchensprache gleichfalls auf das Ende des Dramas verweist. Der Büchner-Forschung ist seine Rede nach wie vor schleierhaft. Der Narr deklamiert, dass er morgen das Kind der Frau Königin holen werde und ergänzt die kryptische Bemerkung: „Blutwurst sagt: ‚Komm Leberwurst.‘“ In der zweiten Szene des Ergänzungsentwurfs, sie spielt offensichtlich nach dem Mord an der weiblichen Figur, hat der Idiot das Kind auf dem Schoß. Woyzeck kommt und will es haben. Es weigert sich und springt schließlich mit dem Idioten weg. Selbstverständlich ist Woyzeck die „Blutwurst“. Bei „Leberwurst“ handelt es sich infolgedessen um eine Chiffre für das Kind. Der Narr sagt Woyzecks vergebliches Bemühen um seinen kleinen Sohn voraus. Und weil er dies in unmittelbarem Zusammenhang mit Maries Figurenrede antizipiert, ist ihr Ausruf vom Kind, das ihr einen Stich ins Herz gibt, zwangsläufig (auch) als Antizipation zu lesen.

Bedeutet das märchenhafte Ende der kleinen Szene mit Woyzeck, dem Idioten und dem Kind den Untergang des Letzteren? Die Rettung? Vermutlich eher Letzteres. Warum sonst ließe Büchner das Kind – zum dritten Mal in der Hauptfassung – in die Handlung eingreifen? Diese eigentlich auf der Hand liegende Entschlüsselung, so schwer ist sie nun wirklich nicht zu haben, erklärt auch auf befriedigende Weise Maries Verzweiflung. Sie stößt das Kind auf dem Arm von sich, in diesem Zusammenhang fällt der besagte Satz vom Stich ins Herz. Metaphorisch gelesen, und diese Lesart fordert die Bühnenhandlung zunächst, ist es das kleine Kind, das ihr den Stich ins Herz gibt. Warum aber diese Verzweiflung über das Kind? Ohne hier irgendetwas hineinzuinterpretieren, was über eine brüchige hermeneutische Hilfskonstruktion indes nicht hinauskäme, gibt es nur eine Möglichkeit für die Erklärung der Todsünde, die die „Engelchen zum Himmel hinaus räuchert“: den Inzest. Kurz gesagt, hinter der Eifersuchtsgeschichte und der Mordballade steht eine Inzestverstrickung von Mutter und Sohn, die komplementäre von Vater und Tochter wird übrigens im zweiten Handschriftenentwurf relativ offen benannt; ein zusätzliches Argument für die psychologische Plausibilität des Dramas, denn es gibt diesen Wiederholungszwang.

Die Analyse des sprachlichen Materials und die Interpretation sollte man so gut es eben geht auseinanderhalten, auch wenn beide zwangsläufig interferieren. Analyse heißt im Falle des „Woyzeck“: Es besteht ein breiter Konsens über ein alle Entwurfsstufen durchziehendes motivisch-metaphorisches Netz, das sich – das ist die neue Erkenntnis – nicht nur in dem Komplex um die Mordszene, was bereits Klotz feststellte, und das Thema „Sexualität und Gewalt“ zusammenzieht, sondern in jeder Entwurfsstufe zentrale Knotenpunkte aufweist. Hier laufen jeweils verschiedene Stränge zusammen, die nicht nur ein zentrales Stichwort, sondern immer mehrere Signale beinhalten. Mindestens eins davon verweist regelmäßig auf einen pädosexuellen oder inzestuösen Inhalt, den man mit dem Hinweis auf einen von Büchner später integrierten anderen Aspekt aus dem Motivkreis des Sozialdramas überspielen kann, der jedoch in der strukturellen Verklammerung sowohl der Bilder und Zeichen als auch mit der Handlung in allen Handschriftenentwürfen, insbesondere aber der förmlichen und „gleichsam rituellen Weise“ der Mordhandlung (Grimm 1979), die einer Hinrichtung gleichkommt, nicht aus der Welt zu schaffen ist. Zu diesen Elementen der Bildketten gehört der Gegensatz von klein und groß, wie er beispielsweise in der genannten Szene mit Hut/Hund und Hund erscheint, das Viehische, Sexuelle und die Kinder sind hier offen einbezogen, dazu das Signalwort „grotesk“.

Auch das „astronomische Pferd“ in der Budenszene ist kein Irrtum, sondern es erklärt sich aus der Teilhabe an besagter Kette, sein Pendant sind die „kleine Kanaillevögele“, Favoi beziehungsweise Liebling von allen gekrönten Häuptern; hier ist das Viehische also wieder mit dem motivischen Gegensatz von klein und groß verknüpft, die „Favoriten“ sind männliche Mätressen, „Kanaillen“ kleine Schurken, den Zusammenhang von Vögeln und „vögeln“ braucht man nicht zu erklären. Es ist nicht zuletzt diese sprachliche Virtuosität und – bei allem dramatischen Ernst – verbale Spielerei, die sich hermeneutisch verflüchtigt, wenn man den „Woyzeck“ auf das Sozialdrama reduziert.

In der Märchenparabel ist dann der Vogel wieder zur Stelle, jetzt gehört er zu der Seite des Großen, das Kleine wird durch die bei Büchner einschlägig geprägten kleinen goldenen Mücken repräsentiert – „golden“, das ist die Farbe der „Sonne“. Der Vogel, ein Neuntöter, verführt nach zeitgenössischer Ansicht seine Opfer durch vorgetäuschte Vogelrufe, das Kind, dessen Chiffre die Mücken darstellen, ist im Großmuttermärchen im Klartext mit von der Partie, es sitzt am Ende auf einer Erde, die zum umgestürzten Nachttopf (Hafen) wird. Letzterer ist als „potchambre“ in einer anderen Szene zugegen, die einen eindeutig obszönen Unterton aufweist. Auge und Fenster gehören zu diesen Strängen, es gibt kaum eine Szene, in der nicht wenigstens einer dieser beiden Begriffe vorkommt. Das Auge ist das Fenster der Seele und das Einfallstor für das Pornografische. Das Fenster ist wiederum das, was die Trennung zwischen Privatem und Öffentlichem aufhebt. Wäre das Diktum von Büchners Modernität nicht so abgegriffen – und in literaturtheoretischer Hinsicht zumindest partiell irreführend –, dann könnte man auch den Motivkomplex um „Auge“ und „Fenster“ im Woyzeck-Fragment einer sozusagen prophetischen Thematisierung unserer zunehmenden Sexualisierung des Öffentlichen zuschreiben.

So schaut der Doktor seinem Probanden Woyzeck beim Pissen zu, was motivisch absolut unplausibel ist, wenn er sich danach über den vertragsbrüchigen Probanden beklagt – hätte selbiger es doch entweder dann auch bis hinein ins „secret“ schaffen können oder der Doktor mit einem Gefäß hinaus. Aber der Doktor schaut eben durchs Fenster: in der früheren Fassung mit dem Kopf zwischen zwei kopulierenden Blattläusen, in der späteren mit der „Sonne“ auf der „Nase“, um das „Niesen“ zu beobachten. Die Anführungszeichen muss man sich unbedingt hinzudenken, erst dann erfasst man die Metaphorik. Während die Büchner-Forschung hier an ein wissenschaftliches Experiment denkt, kommt bei Büchner, vorausgesetzt die Chiffren sind entschlüsselt, bei der Figur des Doktors nur „Sexualforschung“ in Betracht. Was „Nase“, „Niesen“ und so weiter bedeuten, erzählt die Wirtshausszene mit den Handwerksburschen, die laut Hauptfassung vom Tisch herunter in den Gastraum pissen müssten, weil Büchner die frühere Fassung entschärft und gestrafft hat, aber das antisemitische, schwarzmagische Schlussmotiv beibehielt.

„Alter Mann und junges Kind“, stellt Woyzeck in der überarbeiteten Budenszene fest, das sich daran anschließende „Regen und Fass“ will kein Herausgeber, mit Ausnahme von Enrico De Angelis („Über die Handschriften des ‚Woyzeck‘“, in: Sabine Doering et al. [Hrsg.]: „Resonanzen, Festschrift für Hans Joachim Kreutzer“, Würzburg 2000), entziffern können, obwohl es lesbar ist und ausgerechnet die darauffolgende Szene mit dem „Regenfass“ beginnt. Fast hat es den Anschein, als ob die Herausgeber wissen, was sie unterschlagen. Der „Regen“ ist schon in „Dantons Tod“sexuell konnotiert, das „Faß“ in der pornografischen Literatur der Renaissance (Aretino) ein einschlägiges Symbol. Genauso wie die „Schüssel“, die als „Woyzecks Schüssel“ für Louise steht. Das „Fass“ ist in der genannten Budenszene ein Kind. „Armer Mann, alter Mann! Armes Kind, Junges Kind“, sagt Woyzeck und fügt quasi paradigmatisch eine dieser Bildketten des motivisch-metaphorischen Netzes durch die Glieder „Mann“, „Kind“, „Gefäßmetapher“ und „arm“ eigenhändig zusammen. Büchner will sein Publikum nicht überfordern, manches kommt deswegen fast unverschlüsselt daher. Woyzeck und der Hauptmann unterhalten sich über das Kindermachen, aus Woyzecks anspielungsträchtigem Bibelzitat „lasset die Kindlein zu mir kommen“ hört Letzterer einen Sarkasmus heraus. Ihm kommt folgerichtig „die Liebe“, wenn er am Fenster liegt, es geregnet hat und er den weißen Strümpfen so nachsieht, wie sie über die Gassen springen.

Den genannten Beispielen kann man aus der Perspektive eines der bisherigen Deutungsansätze nicht einfach das Argument entgegenhalten, dass sie selektiv zusammengesucht worden seien. Solche Widerlegungsversuche würden die Tatsache übersehen, dass die Motive und Chiffren im Zusammenhang der Bildketten strukturell verankert sind, also keine Details darstellen, sondern Teil eines Musters sind. Maries Kind schwitzt im Schlaf, Woyzeck meint dazu: „Alles Arbeit unter der Sonn“. Wer dabei an die zuvor genannte Szene aus „Dantons Tod“ denkt, an die sich in der „Sonne“ wärmende Mutter, die ihre Tochter anschaffen schickt, dann fährt einem in Anbetracht des Säuglings der Schreck in die Glieder. Es handelt sich hier eben nicht um ein isoliertes Motiv (das in einem derart komprimierten und knappen Text ohnedies keinen Platz hätte), sondern um den chiffrierten Kern eines Vorwurfs gegen die weibliche Hauptfigur, deren ursprünglicher Name Margreth nicht ohne Grund an die Kindsmörderin in Goethes Faust I erinnert und die von einem Louis exekutiert wird, der zuvor weder herumschikaniert noch experimenthalber einseitig ernährt wurde.

Die Büchner-Rezeption stellt immer wieder gerne heraus, dass Büchners Figur Woyzeck sich nicht gegen seine Unterdrücker wehrt, sondern sich an einem unschuldigen Opfer abreagiert. Das ist nicht die nächstliegende Schlussfolgerung. Die nächstliegende ist – und das ist es, was Büchners Text bei sorgfältiger Lektüre mitunter auch unverschlüsselt zu erkennen gibt –, dass Woyzeck einen schicksalhaften Auftrag bekommt, an dem er, wie Hamlet, durchaus zweifelt, ob er ihn ausführen muss, aber schließlich nicht darum herum kommt.

„Soll ich? Muß ich? Hör ich’s da auch, sagt’s der Wind auch? Hör ich’s immer, immer zu, stich todt, todt“, steht da wörtlich geschrieben: Wie kann man das übersehen? Indem man die Figur für wahnsinnig erklärt. Damit wird die ohnehin schmale Textbasis noch schmaler. Man könnte es doch wissen, wen die Erinnyen mit Wahnsinn schlagen. Auch Tiecks blonder Eckbert stirbt im Wahnsinn. Und dann ist da noch einer, der sich am Wahnsinn entlanghangelt, halb gespielt, halb damit geschlagen und in Büchners Texten beständig präsent ist, in Bezug auf den „Woyzeck“ will man wenig bis nichts von ihm wissen: Shakespeares „Hamlet“. Er ersticht seine Mutter indes nur mit den Augen.

Gleichsam inszeniert wird die metaphorische Figur des Abgrunds in der Szene der Hof des Professors. In dem Fallexperiment fällt symbolisch auch Woyzeck, damit dementiert Büchner höchstpersönlich die gängige Meinung, der Figurmangele es an Fallhöhe. Zwar steht sie unten, während der Professor aus seinem Dachfenster nach einer pädosexuellen Anspielung eine Katze defenestriert, aber Woyzeck muss die Katze auffangen und die Katze steht für Marie. Inwiefern implizit auch Woyzeck fällt, erweist das Experiment. Das Ergebnis kommt aus dem Munde des Doktors, zu dem der Professor mutiert, weil die verdeckte Rede durch eine offene Rede kaschiert werden muss. Das Fallexperiment wird deswegen mit dem Ernährungsexperiment verkoppelt, für Letzteres ist aber eben der Doktor zuständig. Die Differenz zwischen beiden ist auf der Interpretationsebene festzumachen: Woyzeck hat dünne Haare. Einerseits ist dafür die Erbsendiät verantwortlich. Andererseits die Mutter. Sie hat sie ihm ausgerissen, aus Zärtlichkeit. So steht es wörtlich im Text. Im Kontext des Viehischen zielt das auf den animalischen Geschlechtsakt ab. Motherfucker Woyzeck.

Die Identifizierung eines inzestuösen/pädosexuellen Komplexes im „Woyzeck“-Fragment wirkt sich zwangsläufig auf die Wahrnehmung von Büchners Gesamtwerk aus. Ohnehin sind bei Büchner viele Passagen zu finden, die entweder, wie besagtes Motiv der Hunde und Kinder, Selbstzitate beziehungsweise eine mehrfache Verwendung gleicher Motive darstellen oder aber wie Anspielungen auf das eigene Werk, sozusagen intratextuelle Verweise, erscheinen müssen. Danton wagt sich an seine Mutter, Laflotte ist Vater und Sohn zugleich, die wollüstigen Fantasien eines Lenz sind mit der Mutter verwoben und alle drei Figuren leiden unter schweren, geradezu austauschbaren Ängsten. Unter Lenz geht etwas, wie es hinter Woyzeck hergeht, zu Georg Danton sprechen die Wände und die Enge in Leonces Palast beziehungsweise im Reiche Popo ist kaum von der zu unterscheiden, die den Dichter Lenz quält.

Lena fühlt sich als Opferlamm, über das der Priester schon das Messer hebt, dass aber nicht in der Komödie, sondern in dem Parallelprojekt „Woyzeck“zugestochen wird, ist durchaus aus Hartmut Nonnenmachers Untersuchung des „Inzests als Motiv und Thema in der französischen und deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts“ (Frankfurt am Main 2002) erklärbar. Natur, das ist der (wissentliche) Geschwisterinzest, Fatum der (unwissentliche) von Mutter und Sohn beziehungsweise Vater und Tochter. Leonce Popo und Lena Pipi sind auf andere Weise verwandt als Franz Woyzeck und Marie Zickwolf und auf harmlosere Weise inzestuös verstrickt: Das macht den Unterschied. Erst wer das versteht, versteht Georg Büchners destruktives, an Verzweiflung grenzendes Lachen, wie es in den Worten Georg Dantons zum Ausdruck kommt: „Mute mir nur nichts Ernsthaftes zu. Ich begreife nicht warum die Leute nicht auf der Gasse stehen bleiben und einander in’s Gesicht lachen. Ich meine sie müßten zu den Fenstern und zu den Gräbern heraus lachen und der Himmel müsse bersten und die Erde müsse sich wälzen vor Lachen“.

Vielleicht sind wir Büchner noch zu nah. Er ist ja erst vor kaum 200 Jahren auf die Welt gekommen. Nach unserer unseligen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts steht uns ein Freiheitskämpfer und Sozialrevolutionär, der zudem noch poetisch und wissenschaftlich kreativ ist, gut an. „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“ passt zwar nicht auf Büchners Dichtung, gleichwohl stellt man ihr dieses Motto unbekümmert voran. Ein unvoreingenommener, weniger politisch enthusiasmierter Blick auf Büchners Leben kann da nur stören. Denn auch hier, im Hinblick auf das Biografische, wäre besagte Parole mit ihrer agitatorischen Polemik nicht unbedingt in ihrem Nominalwert zu nehmen. Da schreibt ein gerade einmal 20-Jähriger mit enormem dichterischem Potenzial eine wilde Hasspredigt, erklärt der verhassten Obrigkeit den Krieg und der hessischen Landbevölkerung mittels statistischer Angaben, wie sie ausgebeutet wird. Dass auch hier bereits der Dichter am Werk gewesen sein könnte, das auch nur einmal anzudenken fällt niemandem ein.

Der Revolutionär Büchner hat einen Umsturz herbeischreiben wollen. Sicherlich wollte er das, aber was wollte der Dichter? Der Revolutionär scheiterte, er sah das übrigens voraus und hat solche Aktionen am Beispiel des Frankfurter Wachensturms scharf kritisiert. Wir aber feiern den Gescheiterten, ohne denjenigen in Rechnung zu stellen, der im Hinblick auf sein literarisches Werk maßgeblicher ist. Der hatteseine dichterische Berufungim Kopf und eine geliebte Verlobte in Straßburg, einer Metropole, in der sowohl der historische Lenz als auch Goethe sich den Wind der großen weiten Welt um die Nase haben wehen und sich davon inspirieren lassen. Der Revolutionär provozierte einen ohnehin bereits bis aufs Blut gereizten Gegner ohne jede Aussicht auf politischen Erfolg. Der Dichter (und der Student, der Sohn sowieso) freute sich, in die „freiwillige Verbannung“ ins benachbarte Frankreich gehen zu müssen. Büchners Briefe sind diesbezüglich eindeutig. In Gießen überkam ihn die Depression, kaum hatte er die Grenze nach Weißenburg überschritten, konnte er wieder frei atmen. Und ein anderes Studienfach wählen. War Büchner nicht – anstatt Revolutionär, Dichter und Wissenschaftler – vielleicht vielmehr Schriftsteller, Dichter und wieder Schriftsteller? Ein – revolutionär gesinnter – Schriftsteller, der es in Hessen-Darmstadt aus verschiedenen Gründen nicht aushielt, ein dramatischer Dichter mit wenig Aussicht auf die baldige Aufführung seiner Werke und ein romantisch naturphilosophierender Schriftsteller mit Hoffnung, aber wenig Aussicht auf ein geregeltes Einkommen? Wir stricken uns einen Mythos Georg Büchner zurecht, der mit dem literarischen Werk kollidiert. Der Mythos in Büchners Werk dagegen, die Kräfte aus unbewusster und mythischer Tiefe warten auf Rezeption und Beschreibung.

Zu diesem um Georg Büchner errichteten (unechten) Mythos gehört auch das Trimmen der biografischen Daten. Die seinerzeit aufkommende Ideologie der bürgerlichen Familie strickt hier fleißig mit. Da ist der Arzt, ursprünglich aus kleinen Verhältnissen, der sich vom Hilfschirurgen zum Medizinalrat hochgearbeitet hat, Napoleon-Schwärmer und autoritäre Vaterfigur. Auf der anderen Seite die feinfühlige, kunstsinnige Mutter. Kaum genannt wird dagegen die – von dem jüngsten Bruder Alexander in seinen Erinnerungen („Das ‚tolle‘ Jahr“, Gießen 1900) ausführlich gewürdigte – „weibliche“ Großmutter, kokett bis ins hohe Alter, die für den Ältesten der Büchners noch viel weiblicher gewesen sein muss als für den Jüngsten.

Sie residierte in der Beletage des Hauses Büchner und inszenierte dort mit den Damen vom Hofe „Rokoko“. Sie hatte Geld und sie hatte ein glanzvolles Leben am Pirmasenser Hof hinter sich, dem die Französische Revolution ein jähes Ende gesetzt hatte. Auf der Flucht kam ihrem Mann, dem Hofrat Reuß, eine Ladung mit Besitz des Großherzogs abhanden, woraufhin er in Ungnade fiel und erst nach einigen Jahren als Verwalter eines Irrenhauses in der Umgebung von Darmstadt einen neuen Posten bekam. Kein Werk über Georg Büchner arbeitet heraus, wie das Leben der Verwandten mütterlicherseits dadurch geprägt wurde, man erfährt nichts über die Zustände in dem Hospital, aber man könnte es sich ausmalen, nicht zuletzt anhand von Büchners Werk.

Denn wer glaubt im Ernst, dass es in den pädagogischen und sonstigen Anstalten und „um die Ecke“ auf den zeitgenössischen Gassen und hinter den Fenstern hätte anders zugehen können als bei uns heute, wo der Skandal im besten Fall erst nach jahrzehntelanger Verdrängung das öffentliche Bewusstsein erreicht. Selbst wenn es dann in diesem oder jenem Fall zu empörungsheischenden Schlagzeilen kommt: Die Opfer umgibt eine Mauer des Schweigens. Ausdrücklich verweist Georg Büchner in seinen Briefen an die Eltern im Zusammenhang mit den Unanständigkeiten in seinem Revolutionsdrama auf die heimischen Gassen. Alexander Büchner spricht offen übrigens auch nur über das, was die Familie billigt oder billigen würde. Aber bereits das reicht aus, die gängigen Legenden zu unterminieren. Die Kinder waren über das Treiben in der Beletage im Bilde, nahmen partiell daran teil, dazu kamen die Erzählungen der Untermieter und der Bedienten. Georg Büchner muss das, was er dramatisierte, nicht selbst erlebt haben. Auszuschließen ist andererseits auch nichts. Büchners „Woyzeck“schildert in seinem Kern inhaltlich nicht unbedingt etwas Neues. Das ‚Wie‘ sprengt die klassische Dramenform in Stücke. In der Ergriffenheit und dem Zynismus tritt eine neue existentielle Intensität des Tragischen zutage. „Ich kenne mich zwar nicht selbst genug, um zu wissen ob ich eine wahre Tragödie schreiben könnte“, ließ Goethe seinen Dichterkollegen Schiller einmal wissen, „ich erschrecke aber bloß vor dem Unternehmen und bin beinahe überzeugt, daß ich mich durch den bloßen Versuch zerstören könnte.“

Der Mann kannte sich aus. Dichten kann gefährlich sein – Büchner weder selektiv noch reduktiv zu lesen, das aber sollte doch drin sein.

Titelbild

Christian Milz: Georg Büchner. Dichter, Spötter, Rätselsteller. Entschlüsselungen.
Passagen Verlag, Wien 2012.
238 Seiten, 27,00 EUR.
ISBN-13: 9783709200537

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