Daten und Fakten und eine verworrene Geschichte

Julia Decks Debüt-Roman ist etwas zu angestrengt überkonstruiert

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Sie sind nicht ganz sicher, aber Sie haben das Gefühl, vor vier oder fünf Stunden etwas getan zu haben, was sie nicht hätten tun sollen. Sie versuchen, sich die Abfolge Ihrer Gesten in Erinnerung zu rufen, deren Faden wiederaufzunehmen, aber jedesmal, wenn sie eine zu fassen bekommen, fällt sie, statt automatisch die Erinnerung der nächstem nach sich zu ziehen, wie ein Stein auf den Grund jenes Loches, das nun Ihr Gedächtnis ist.“ Das berichtet der Erzähler über Viviane Élisabeth Fauville, beruflich erfolgreich in der Presseabteilung einer Betonfirma und gerade Mutter geworden, von ihrem Mann verlassen für ausgerechnet die junge Heloise, die ihre Mutterschaftsvertretung übernommen hat – sie führt ein normales Leben, das jetzt aus dem Ruder geraten ist. Und auch ihr Psychoanalytiker Sergent kann ihr nicht helfen, verschreibt ihr Antidepressiva und Beruhigungsmittel. Was tut sie? Sie schleicht sich in die Wohnung ihres Ex-Mannes Julien, holt sich ein Küchenmesser-Set und ersticht den Analytiker: „Sie stoßen das Messer genau unter die letzte Rippe, tunken es bis zum Griff ein. Die Gedärme sind weich wie Butter. Sie ziehen das Messer hoch in Richtung Lunge, aber der kleine Mann ist schon verschieden, er liegt am Fuß des Sessels, von dem aus er kein Unheil mehr anrichten wird.“

Natürlich wird Viviane verdächtigt, aber es gibt kaum Indizien gegen sie. Dafür beginnt sie ihrerseits Gabrielle, die Frau des Analytikers, zu verfolgen, seine Geliebten Angèle und Julien. Sie lauert ihnen auf, spielt ihnen etwas vor, redet mit ihnen über den Fall. Sie passt Tony Boujon, einen kleinen Ganoven, der ebenfalls Patient bei Sergent war, am Bahnhof ab, schläft mit ihm, prügelt sich mit ihm: Es ist eine etwas verworrene Geschichte, in der es scheint, als suche sie nach Hinweisen, die sie entlasten könnten. Aber manchmal weiß man auch gar nicht, was sie da eigentlich tut und aus welchem Grund.

Schließlich hat sie einen Nervenzusammenbruch und kommt für mehrere Wochen ins Krankenhaus, wo sie wieder Psychopharmaka bekommt; sie wird von ihrer Firma in die Provinz versetzt und erfährt schließlich, dass nicht sie, sondern ein anderer Patient, Pascal Planche, den Analytiker mit einem Brieföffner umgebracht hat.

Julia Deck präsentiert in ihrem Debütroman ein etwas überkonstruiertes Geflecht von wechselnden Realitäten und Perspektiven. Mal wird die Protagonistin angesprochen, mal wird aus ihrer Ich-Perspektive erzählt, mal ist das „sie“ der Erzählung nicht Viviane, sondern Angèle. Mit vielen Daten und Fakten, Straßennamen und Metronummern wird eine Genauigkeit und Sicherheit vorgespielt, die in der Handlung selbst immer wieder zerstört wird. Zweimal wird gesagt, dass sie jetzt ihre Erinnerung wiedergefunden hat – aber auch das stimmt nicht. Am Schluss, bei der „Aufklärung“, die auch keine ist, sondern nur eine weitere mögliche Version der Wirklichkeit, heißt es, es sei, „als hätte man Ihnen die Erinnerungen einer Anderen eingetrichtert“.

Als Stilübung ist das Buch recht interessant, aber als Roman taugt es aber nur bedingt: Zu wirr sind die Fäden miteinander verstrickt und absichtsvoll lose gelassen, zu angestrengt und spürbar ist der Wille nach einer ausgeklügelten und komplizierten Form. Zu umständlich macht Deck ihr Anliegen deutlich, dass die Realität oft nicht ist, was sie zu sein scheint, schon gar nicht, wenn aus der Sicht einer Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs erzählt wird.

Titelbild

Julia Deck: Viviane Élisabeth Fauville.
Übersetzt aus dem Französischen von Anne Weber.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2013.
141 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783803132512

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