Die Geburt der Kulturphilosophie aus dem Geist der Lesebühne

Volker Strübing hat sich etwas bei seiner komischen Kurzprosa gedacht

Von Lino WiragRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lino Wirag

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwischen den späten Achtzigern und den mittleren Nullerjahren erlebten die Randzonen des Literaturbetriebs erst die Geburt und dann das unaufhaltsame Erstarken eines Veranstaltungsformats, das die Verschmelzung von proletischer Lautsprecherei mit asketischer Schriftkultur, rücksichtsloser Authenzität mit erbarmungsloser Inszenierung und Bohème mit Bohei in aller Konsequenz durchexerzieren sollte.

Es stellte erzählende Texte wieder vom Kopf auf die Füße, von den Buchseiten auf die Bühnenbretter: Man könnte recht eigentlich von einer Rückeroberung der Literatur durch die Subkultur sprechen, einer Literatur, die aus den zittrigen Klauen akademischer Diskursivität einerseits, aus den Langfingern merkantiler Randomhausmeister andererseits erst wieder entwunden werden musste.

Die Rede ist von den sogenannten Lesebühnen, jenen auf apolitische Weise politischen und in kunstloser Manier kunstvollen Rhetorikresiduen, die von den letzten Brandungswellen linker Agitpopkultur ebenso unterspült wurden, wie man an Ort und Stelle längst versunken geglaubte Klänge eines dadaistischen Tingeltangel wiederzuhören vermeinte.

Die Lesebühnen waren nagelneu und schrecklich alt zugleich: Hugo Ball, Allen Ginsberg oder Ernst Jandl standen als stumme Ahnen Spalier, während die spaßgedopte „Auf dem Weg hierher ist mir was Irres passiert“-Mentalität der US-amerikanischen Stand-Up-Comedy von den Lesebühnen ebenso kannibalisiert wurde wie das wehleidige Maulen des Moralinkabaretts. Sie rührten es zu einem eigenen Cocktail aus je einem Teil Humor, Alltag und Gesellschaftkritik an, der selbst dann noch nach überfüllten Berliner Kellerkneipen roch, wenn er in Castrop-Rauxel serviert wurde.

Seit einigen Jahren erleben wir, wie die erste Generation der Autorinnen und Autoren, die sich auf Lesebühnen selbstsozialisierten, dem Format entwachsen und gleichzeitig junge und jüngere Talente deren (Stamm-)Plätze für sich reklamieren – oder gleich ihre eigenen Veranstaltungsreihen eröffnen: Allein seit 2007 wurden in Deutschland rund 30 neue Lesebühnen gegründet, davon fast ein Drittel in vermischten Hauptstadtteilen. Während sich die Basis der Szene ausdehnt, professionalisiert sich die Spitze; sofern man unter Professionalisierung Buchveröffentlichungen in mittleren und größeren Verlagen, Deutschlandrundreisen mit Halt an jeder Kleinkunstbühne, ein gelegentliches Literaturstipendium und die fallweise Zusammenarbeit mit den öffentlich-rechtlichen Medien versteht: Was die einen Szene-ProtagonistInnen als Ausverkauf verschreien, macht es den anderen überhaupt erst möglich, das Autorendasein tatsächlich als Beruf – und nicht als kostspieliges Hobby – zu betreiben.

Der Berliner Volker Strübing war über eine Dekade lang Mitglied verschiedener Lesebühnen und darf sich seit einigen Jahren zu Recht zu den beliebtesten Vertretern der Zunft zählen, spätestens seit er 2005 mit einem rhythmischen Humorlamento, in dem er sich für Klonen statt Kinderkriegen aussprach, die deutschsprachigen Poetry-Slam-Meisterschaften für sich entschied. Im gleichen Jahr debütierte Strübing mit der Science-Fiction-Farce „Das Paradies am Rande der Stadt“ als Romancier, die einen Vergleich mit Douglas Adams nicht zu scheuen braucht, und im laufenden Jahr dankenswerterweise wiederaufgelegt wurde.

Ebenfalls 2013 – zumindest eine Jahreshälfte lang – war Strübing erster Stadtschreiber Bayreuths: ein Posten, den ihm der 250. Geburtstag des Lokalheroen Jean Pauls ermöglicht hatte. Mit dem – merkwürdig zwischen die Epochen gefallenen – Exzentriker Paul teilt der submoderne Strübing die Liebe zu ungewöhnlichen Einfällen, erzählerischen Volten und Trippelbödigkeiten, wenn auch nicht zur Gartenlaubenschriftstellerei. Zum Autor Strübing gehört der Vorleser gleichen Namens, auf Lese- und Slam-Bühnen, und wenn es sein muss, auch als Märchenonkel im Regionalzug nach Magdeburg.

So ist es vollkommen folgerichtig, dass Strübings neueste Geschichten-Sammlung „Das Mädchen mit dem Rohr im Ohr und der Junge mit dem Löffel im Hals“, die 24 komische Kurztexte enthält, auch eine CD beigegeben ist, auf dem rund die Hälfte der Texte noch einmal nachgehört werden kann. So versteht es Strübings Verlag weise, die – wie man unter Geisteswissenschaftlern raunen würde – nicht-lösliche Verklebung von Performanz und Textualität, auf die jeder Lesebühnentext geprägt ist, so gut wie möglich aufzuspeichern.

Wer sich Strübings neue Geschichten in tradierter Philologenmanier lediglich nicht-akustisch verabreicht und noch dazu frühere Arbeiten des Autors (beispielsweise aus „Ein Ziegelstein für Dörte“, 2007) synoptisch danebenlegt, dem werden nicht nur interessante Effekte der Selbstbezugnahme auffallen (Herpes, Hexen, wünscherfüllende Feen und Amokläufe haben sich über die Jahre zu strübingschen Werkkonstanten ertüchtigt), sondern der wird auch das auf der Buchrückseite des „Mädchens mit dem Rohr im Ohr“ abgedruckte „Spiegel“-Votum zu bezweifeln lernen, Strübing sei ein „genauer und witziger Beobachter“. Ein faules Wort, das sehr viel mehr über die Inflationierung von Plastikbegriffen innerhalb der Kulturkritik aussagt als über die Prosa des Berliner Autors: Der Mann beobachtet nämlich gar nicht. Strübings Geschichten sind bestenfalls als Improvisationen über die Realität einer- und über der Realität andererseits zu bezeichnen.

Wenn der Ich-Erzähler seine kleinen Neffen Holocaust-Mahnmale aus Büstenhalten bauen lässt, oder Strübing seiner Liebe zum Märchen mit der Erfindung einer vollglobalisierten Hexe frönt, die sich gefriergetrocknete böse Kinder aus aller Welt schicken lässt: Dann sollte man den ‚genauen Beobachter‘ von sich weisen.

Im Gegenteil zeigen sich Strübings Einfälle leider manchmal gerade da am schwächsten, wo sie zu nah am Alltag kleben: So liest man eher missmutig seine Nörgeleien über gemischte Mitmenschen weg, die den Supermarkteinkauf des Ich-Erzählers unnötig erschweren, der darob zum Serienmörder mutieren muss, nur um an der Kasse mit fester Stimme die Pointe servieren zu können, dass er ‚die Herzen‘ sammle.

Auch die gesellschaftskritischen Weckrufe, mit denen einige der abgedruckten Texte durchwachsen sind und die unsere spätmoderne Seins-, Welt- und vor allem Technikvergessenheit anprangern, dürften manchen Leser eher ernüchtern denn erschüttern. Es macht eben einen Unterschied, ob man sich nachts um elf, mit einem Bier in der Hand und zwei im Magen, mit dem Mann vorne auf der Bühne vollkommen darüber einig ist, dass das „iPhone uns alle zu Idioten machen wird“ (Strübing), oder ob man denselben Satz auf dem mittagshellen Schreibtisch vor sich liegen hat.

Wo Strübing dem ‚genauen Beobachter‘ noch am nächsten kommt, übersteigt er diesen auch gleich mühelos – und wird zum Analytiker. Dann geschieht Zauberisches, dann gelingen ihm die erstaunlichsten Entdeckungen: Entdeckungen, die die Frage, ob Kunst eine Erkenntnisform eigenen Ranges sein könne, ohne zu zögern bejahen. Mehr noch, man könnte an den geglücktesten dieser Stellen sogar von einer ‚Geburt der Kulturphilosophie aus dem Geist der Lesebühne‘ sprechen, so auffällig identisch sind die Thesen, die von den Granden des Geistigen einerseits, aus der fröhlichen Wissenschaft der Leseliteratur andererseits aufsteigen.

Wenn Strübing über Fitness-Studios schreibt: „Eine dieser Anstalten bei mir um die Ecke heißt ‚Body Factory‘ und trotzdem fällt – außer mir – scheinbar niemandem auf, dass es sich bei Fitnessstudios um nichts anderes handelt als um Fabriken, in denen die Arbeiter dafür zahlen, an den Maschinen arbeiten zu dürfen!“, dann ist das natürlich auch all jenen Theoretikern der modernen und spätmodernen Selbststeigerungs- und Selbstausbeutungskulturen aufgefallen, die die unvermeidliche Verquickung von Freizeit und Arbeit unterm Banner des Kapitalismus beschreiben. Nicht zuletzt Theodor W. Adorno selig, der die Freizeitkultur schon vor bald siebzig Jahren als lediglich auf links gedrehte Industriearbeit identifizierte.

Wenn Strübings Ich-Erzähler an einem Wintertag der wärmende Grog verwehrt wird, räsoniert er: „Was war mein Wunsch […] gegen den eisernen Willen einer Kaffeemaschine? Ihr Wunsch, gereinigt zu werden, war Befehl; kundgetan durch ein paar alphanumerische Zeichen auf einem kleinen Display, untermauert durch die strikte Weigerung, auch nur irgendetwas zu tun, bis ihr der Wunsch erfüllt worden wäre.“ Was ist diese Notiz anderes als ein Kondensat von Bruno Latours Thesen zur Akteur-Netzwerk-Theorie, die die Handlungspotentiale unbelebter Objekte erforscht, gelöst in einer literarischen Glosse?

Wenn der Autor drittens von den Schwierigkeiten berichtet, der geliebten Person gegenüber das magische ‚Ich liebe dich‘ auszusprechen – „Warum ist es nur so unglaublich schwer, diese verflixten drei Worte auszusprechen? Es ist mir doch oft genug vorgemacht worden, gefühlte 43.000 Mal, im Fernsehen und im Kino – aber vielleicht ist ja gerade das das Problem“ –, dann zitiert er fast wörtlich Umberto Ecos berühmte Meditation über den nämlichen Zusammenhang aus dem „Nachschrift zum Namen der Rose“ (1984), wo es heißt: „Die postmoderne Haltung erscheint mir wie die eines Mannes, der eine kluge und ehr belesene Frau liebt und daher weiß, daß er ihr nicht sagen kann: ‚Ich liebe dich inniglich‘, weil er weiß, daß sie weiß (und daß sie weiß, daß er weiß), daß genau diese Worte schon, sagen wir, von Liala [eine populäre italienische Groschenroman-Autorin des 20. Jahrhunderts] geschrieben worden sind. Es gibt jedoch eine Lösung.“ Die freilich bei Strübing ganz anders ausfällt als bei Eco, aber das müssen Sie selber nachlesen.

Wenn der Berliner Autor fragt: „Warum gibt es kein Undo für einmal ausgesprochene Sätze?“, dann könnte man ihm mit Austins Sprechakttheorie antworten; wenn er das Internet als heiliges Netzhirn erfindet, an dem man seinen Gottesdienst verrichten muss, dann kehrt darin Vilém Flussers These wieder, der seine telematisch vernetzte Gesellschaft ebenfalls als ‚kosmisches Hirn‘ entworfen hatte.

Womit keinesfalls behauptet werden soll, Strübing habe sich bei den genannten Theoretikern einfach bedient – das sicher nicht. Vielmehr kommen Kulturtheorie wie Literatur in ihren glücklichen Moment offensichtlich zu ganz gleichen Ergebnissen. So kann man „Das Mädchen mit dem Rohr im Ohr“auf zweierlei Weisen lesen und empfehlen: als – in der Mehrzahl gelungene – Exploration der Möglichkeiten des humoristischen Erzählens zum einen, und als Leistungsschau der theoretischen Kapazitäten komischer Literatur zum anderen.

Titelbild

Volker Strübing: Das Mädchen mit dem Rohr im Ohr und der Junge mit dem Löffel im Hals.
Verlag Voland & Quist, Dresden 2013.
142 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783863910266

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