Riss und Rahmen, Grund und Abgrund

Zu Florian Schneiders Untersuchung der Genese und Funktion von ‚Landschaft‘

Von Jakob Christoph HellerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jakob Christoph Heller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit Joachim Ritter epochalem Aufsatz „Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft“ aus dem Jahre 1962 hat sich für die Literaturwissenschaft wie für die philosophische Ästhetik die Deutung der Landschaft als Phänomen der ‚Entzweiung‘ und ‚Kittung‘ zugleich eingebürgert; Landschaft hat, der Ästhetik gleich, die Funktion, unter der Bedingung der Entzweiung von Gesellschaft und (objektivierter) Natur, den – so Ritter – „Zusammenhang des Menschen mit der umruhenden Natur offen zu halten“, somit als Erbin der Philosophie eine verlorene Totalität kompensatorisch zu vergegenwärtigen. Dass damit bei weitem noch nicht alles gesagt ist – und selbst das Gesagte der ausführlichen Lektüre und Kritik bedarf – proklamiert Florian Schneiders umfangreiche Studie „Vor der Natur. Ästhetische Landschaft und lyrische Form im 18. Jahrhundert“ auf überzeugende Weise. Auf den Spuren Anselm Haverkamps, Jacques Derridas und Hans Blumenbergs – zwischen Dekonstruktion und Metaphorologie – nimmt sich das Werk Geschichte und Vorgeschichte der Landschaftsdarstellung und -theorie vor.

Ein langer Spaziergang also, der sich der ausführlichen Diskussion und Kritik Ritters widmet, ihm und Petrarca auf den Mont Ventoux folgt, dort mit letzterem Lektüren en plein air nachvollzieht und gar einer Dichterkrönung beiwohnt, um sich anschließend – im quantitativen Hauptteil der Arbeit – den dezidiert deutschsprachigen Diskurs vorzunehmen: Martin Opitz, Albrecht von Haller, Baumgarten, Barthold Heinrich Brockes, Friedrich Gottlieb Klopstock, Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller bilden die entscheidenden Wegmarken. Schneiders Interesse gilt dabei insbesondere der Spannung zwischen den Verschiebungen der „diskursive[n], epistemologische[n] und onto-theologische[n] Grundlage[n]“ und dem „metaphorische[n] Ensemble“, der „(Poeto-)Logik des Bildes“ – ein metaphorologisches Partialprojekt, das „in den Strukturen der Landschaft […] die Diskontinuitäten, Aporien und kritischen Augenblicke der Theorie sichtbar“ machen will.

In diesem ‚Rahmen‘ macht sich die Arbeit daran, die unterschiedlichen Formen der Überbrückung und Schließung von Rissen und Klüften zwischen diskursiven und epistemologischen Systemen durch die Landschaft zu analysieren – und zugleich in guter dekonstruktivistischer Tradition die Aporien und Paradoxien dieser Überbrückungsfigur aufzuzeigen. Im Spiel ist also – auf den Spuren von Derridas Analyse der Metapher (unter anderem „Die weiße Mythologie“) und seiner Lektüre von Immanuel Kants „Kritik der Urteilskraft“ („Die Wahrheit der Malerei“) – die Logik der différance und des Supplements. Wenn beispielsweise bei Ritter die Landschaft der Repräsentation beziehungsweise ‚Offenhaltung‘ der Totalität dient, so verweist Schneider in seiner Auseinandersetzung zu Recht darauf, dass die Landschaft und Ästhetik diese nur als je verlorene sichtbar macht. Die Spaltung der Natur in ‚Objekt‘ der Naturwissenschaften einerseits, der Ästhetik und Empfindung andererseits, wird in der Vergegenwärtigung der Totalität der Natur (als Landschaft, als Gegenstand für den empfindenden Menschen) gerade reproduziert: „Anstatt also tatsächlich das ontologische Verlangen nach der ‚ganzen Natur‘ zu befriedigen, bleibt die Kompensation in der ästhetischen Darstellung stets nur ein Versprechen künftiger Ergänzung“ – was natürlich nichts daran ändert, dass die ästhetische Darstellung der Landschaft damit auch „auf ein in der Gegenwart Abwesendes aufmerksam“ macht und im Fragmentarische das Ganze zeigt.

Wo bei Ritter die Landschaft zur Schließung des Risses zwischen (geteilter) Physis und – so Schneiders treffende Aufzählung – „‚ganze[r] Natur‘/Theorie/Metaphysik/Sinn/Bedeutung/Sein“ dient (ontisch-ontologische Anklänge sind nicht auszuschließen) lässt sich die Funktion der ästhetischen Darstellung der ‚Natur‘ in anderen diskursiven Konstellationen jedoch anders bestimmen; gleich bleibt nur die Struktur von Riss, Überbrückung und Rahmen. So verortet Schneider Petrarcas „Besteigung des Mont Ventoux“ in seiner – fast schon ausschweifenden – Lektüre zwischen geopolitisch-historischem und theologischem Diskurs; die Rigorosität und Genauigkeit, mit der hier die Intertexte und Anspielungen des Dichters verfolgt werden, ist beeindruckend. Gerade im Spiel dieser Verweise, von Livius zu Augustinus, von Vergil zu Dante, operiert Schneider Petrarcas Blick vom Gipfel des Berges heraus als Ereignis, das „im diskursiven Gefüge des 14. Jahrhunderts keinen (eigenen) Ort“ hat und formulierbar ist „nur in einer doppelten Negation: weder Geopolitik noch Theologie, sondern dazwischen, an der Grenze“, zwischen Antike und christlichem Mittelalter. Und in ebendieser Konstruktion, dieser Rahmung, so Schneiders überzeugende – auf Baumgartens „Ästhetik“ anspielende – Pointe, werde „die Möglichkeit von etwas wie einer ästhetischen Erkenntnis erst denkbar, und damit auch die einer epistemologischen Funktion von Ästhetik überhaupt: als paradoxe ‚Vermittlung‘ von Immanenz und Transzendenz“.

Als Vermittlerin von – je anders zu fassender – Immanenz und Transzendenz, von Theorie und Lebenswelt weisen auch die weiteren Analysen die Funktion von ‚Landschaft‘ in den Texte von Brockes und Haller aus. Hier dient Landschaft nach Ende der diskursiven Gewissheiten des Barock dazu, die „Vereinbarkeit empirischen und theologischen Wissens“ zu ermöglichen; Supplement und Medium gleichermaßen, bis hin zum ‚Überbordern‘ dieser – mit Ritter gesprochen – Repräsentationsform von Totalität, die als solche sich „nicht an die vorgeschriebenen Grenzen, in ihrem Rahmen hält“ (Schneider). Hier – mit Klopstock – setzt Schneider einen weiteren Schnitt (oder eben eine weitere Verschiebung) an, in der nicht mehr zwischen empirisch-sinnlichen Elementen und der Transzendenz über den Umweg der Repräsentation sinnlicher Elemente vermittelt wird, sondern – im Sinne der Empfindsamkeit – durch eine „Empfindungsdynamik“, die im Gedicht eine „genuin poetische[n], reflexive[n] Erfahrung, […] nicht nur beschreibt, sondern ästhetisch darstellt.“ Und damit das ‚ästhetische Subjekt‘ ergreift.

Von Klopstock zu Goethe führt der Weg über den „Zürchersee“ – und den Bruch mit dem empfindsamen Subjekt, dem Schneider eine narzisstische Identifikation mit der Natur und Gemeinschaft attestiert. Gerade an dieser Stelle, wo sich Schneiders Diskussion der Geschichte – und nicht mehr Vorgeschichte – ästhetischer Subjektivität widmet, vermisst man zwei Namen im Literaturverzeichnis. So wäre es spannend und sicherlich bereichernd gewesen, neben Baumgarten auch Johann Gottlieb Herders ästhetische Theorie zu thematisieren – vor allem in Christoph Menkes Interpretation ebendieser in seiner Studie „Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie“. Wo Schneider das ‚Spiegelstadium‘ und die Subjektwerdung verortet – in der Reflexion ästhetischer Wahrnehmung in Goethes Gedicht „Ich saug an meiner Nabelschnur“, der frühen Fassung von „Auf dem See“ – wäre mit Menke die „ästhetische Transformation der praktischen Vermögen“, ein Ereignis der Regression Ergebnis der ästhetischen Erfahrung. Hier liegt aber kein Mangel von Florian Schneiders lesenswerter Studie vor, sondern allenfalls eine Begegnungsmöglichkeit, die als verpasste vom Rezensenten bedauert wird – es wäre interessant gewesen, in der Auseinandersetzung mit Riss und Rahmen der Ästhetik auch Herders Entwurf in Betracht zu ziehen. Abgesehen davon überzeugt Schneiders Studie als gleichermaßen umfassende wie konzise Studie der ‚Landschaft‘ in ihren metaphorischen und epistemologischen Verschiebungen.

Titelbild

Florian Schneider: Vor der Natur. Ästhetische Landschaft und lyrische Form im 18. Jahrhundert.
Wilhelm Fink Verlag, München 2013.
430 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783770555031

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