Erzählen als Installation

Zu Carola Saavedras Roman „Landschaft mit Dromedar“

Von Susanne ElpersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Susanne Elpers

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Paisagem com dromedário“ – unter diesem Titel ist der Roman 2010 in São Paulo im noch vergleichsweise jungen, aber renommierten Verlag Companhia de las Letras (gegründet 1986) erschienen. Eine seiner erfolgreichsten Autorinnen ist die gerade 40 Jahre alt gewordene Carola Saavedra. „Landschaft mit Dromedar“ ist ihr dritter Roman, der bei der Companhia verlegt wurde. Er wurde im Jahr seines Erscheinens in der Kategorie „Junge Autoren“ mit dem Rachel de Queiroz-Preis, benannt nach der brasilianischen Schriftstellerin und Menschenrechtlerin, ausgezeichnet.

Was macht diesen kurzen Roman so bemerkenswert? Gewiss die Inszenierung der Erzählung. Es handelt sich um eine Art akustischer Installation. Der Hauptteil des Textes besteht aus 22 Tonbandaufzeichnungen. Eine weibliche Stimme – man erfährt bald ihren Namen, Érika – berichtet über vergangene Ereignisse, ihre aktuellen Wahrnehmungen und ihre Gefühlslage. Sie tut das an einem entlegenen Ort: an der Küste einer kleinen namenlosen Insel im Südatlantik. Der Ort hat eine bestimmte Funktion, er ermöglicht – zumindest zeitweise, zumindest vordergründig – die Trennung von allem Bekannten und Gewohnten. Zeit wird hier nicht mit Zeigern gemessen, Raum, vor allem das Meer, ist nicht durch Begrenzungen erfahrbar. Adressat dieser Aufzeichnungen ist Érikas Lebensgefährte und Künstlerkollege Alex, den sie nach dem Krebstod der gemeinsamen Freundin (und Geliebten) Karen verlassen hat.

Es gibt aber noch eine weitere – anonyme – Erzählinstanz, die zwischen den und teilweise während der einzelnen Tonbandaufzeichnungen in Erscheinung tritt, mitteilt, was abgesehen von den Worten auf dem Band zu hören ist, wie die Stimme der Sprecherin klingt, ihr Atem, manchmal auch zitiert, was Érika sonst noch sagt, wenn sie nicht direkt in das Mikrofon spricht. Diese Erzählinstanz, die sich an das Publikum des Buches wendet, scheint, so darf man vielleicht die ersten Stellen verstehen, sich auch erst auf das, was sie hört, einstellen zu müssen. Erst mit ihrem allerletzten Kommentar wird deutlich, dass sie die Aufzeichnungen gefunden hat, in dem von Érika inzwischen verlassenen Zimmer auf der Insel. Das heißt, die privaten Tonbänder erreichen ihren Adressaten nicht; sie bleiben in einer Art „Ausstellungsraum“, werden öffentlich.

Das akustische Dokument hat weitere Ebenen, denn mitunter gibt es auch Aufnahmen in der Aufnahme: so nimmt Érika zum Beispiel Gespräche während der Abendessen mit dem befreundeten Ehepaar Vanessa und Bruno auf und integriert sie dann in ihre Aufzeichnungen für Alex. Sogar Alex’ besorgte Nachrichten auf dem Anrufbeantworter und Auszüge aus einem Dokumentarfilm über ihn spielt Érika Alex wieder vor. Eine akustische mise en abyme.

Worum geht es nun eigentlich? Wollte man es banal ausdrücken, könnte man sagen: Gegenstand des Berichts ist das Scheitern der Beziehung zwischen Érika und Alex. Das aber wird der Komplexität der Geschichte kaum, ihrem gedanklichen Anspruch noch weniger gerecht. Die Liebes- und Arbeitsbeziehung zwischen Érika und Alex ist ebenso besonders wie die Art, sie zu erzählen. Es handelt sich nämlich, wie schon angedeutet, nicht um eine Zweier-, sondern um eine Dreierbeziehung. Der Eindringling heißt Karen. Karen, die gemeinsame Freundin, in der Darstellung von Érika genauso verhuscht und bedürftig wie manipulativ, zwingt das Paar Érika und Alex, sich immer wieder neu ihrer selbst zu vergewissern. Nach Karens Tod stehen Alex und Érika endgültig vor der Herausforderung, ihre Beziehung zu ordnen. Wer waren sie vor Karen? Wer werden sie nach Karen sein? Wer war überhaupt Karen? Es ist also eine Geschichte von Liebe, Leiden, Tod, Schuld, Selbstrechtfertigung, Freundschaft, Enden und Anfängen. Es geht um die Macht von Worten, Bildern und Geräuschen. Die Geschichte – die übrigens kein bestimmtes Ende hat, sondern an einer Stelle einfach aufhört – soll hier nicht nacherzählt werden, sondern beschrieben werden, was Saavedra mit diesen Ingredienzien macht. Sie verbindet den Bericht über die Vorgänge mit Reflexionen über Kunst, Schreiben, Abhängigkeiten, Erinnerung, Identitäten und letztlich mit der ganz großen Frage nach dem Sinn des Seins.

Das was Érika über das Betrachten eines Bildes sagt, gilt genauso für Ereignisse wie für die Lektüre von Büchern: Vorwissen und Kontext nehmen Einfluss auf die Deutung. Das gilt auch für die Lektüre von „Landschaft mit Dromedar“: eine zweite Lektüre führt zu anderen Interpretationen als die erste. Wissen (zum Beispiel von Karens Krebserkrankung) bedeutet Zugzwang. Diesem Zwang verweigert Érika sich. Sie reagiert gar nicht, bricht wortlos den Kontakt ab, gibt niemandem Erklärungen. Aber funktioniert das so? Kann man sich einmal erworbenem Wissen verweigern? Wohl nicht. Wissen ist herrisch, niemand kann sich auf den Status ante quem zurückziehen. Das muss auch Érika erkennen.

Wie kommen die Dromedare da ins Spiel? Im Roman dienen die Dromedare als Touristenattraktion auf der Insel; sie stehen, wenn man so will, für das gewöhnliche Glück: ein Zustand, eine Option, mit der Érika zeitweise liebäugelt, die sie aber im Grunde verachtet. Sie probiert den Ritt auf den Dromedaren im wörtlichen und übertragenen Sinn aus, gerät in Versuchung, sich „schaukeln zu lassen“ – entscheidet sich aber letztlich dagegen. Wichtiger als Sicherheit, „Rahmung“ des Lebens, Kalkulierbarkeit, ist Freiheit, auch wenn diese gegen die Gefühle anderer durchgesetzt werden muss.

Weder Alex, der erfolgreiche, charismatisch seine Umgebung vereinnahmende Intellektuelle, noch Érika, die sich allmählich von seiner künstlerischen und emotionalen Dominanz emanzipiert, haben je „rahmbare“ Werke, sondern vor allem Installationen kreiert. Auch die Tonbandaufzeichnungen wollte Érika ursprünglich als Material für eine Ausstellung verwenden. Sie sollten aus dem Erzählten ein Kunstwerk machen. Spät kommt sie zu der Erkenntnis, dass sie ein persönliches, privates Dokument schafft, das nicht erst durch Öffentlichkeit Bedeutung erhält. Und doch wird das Gesprochene schließlich zum Kunstwerk.

Die Mündlichkeit, das Produzieren der Geschichte während des Erzählens fingieren zwar Intimität und Authentizität. Ästhetisch wird diese Authentizität durch stilistische Mittel wie elliptische Sätze, Gedankensprünge, umgangssprachliche Ausdrücke suggeriert. Aber der mündliche Bericht, dessen Kennzeichen Gegenwärtigkeit, Unkontrolliertheit und Flüchtigkeit sind, wird aufgezeichnet, zunächst als Tonbandaufnahme, dann als Verschriftlichung des Gesagten. Fixierung löst Flüchtigkeit ab, Kontrollierbarkeit die Unkontrollierbarkeit, Wiederholbarkeit die Einmaligkeit. In keinem Fall wird Realität einfach abgebildet, sondern konstruiert. Realität wird zur Fiktion, zu Kunst.

Die Originalität des Buches liegt in der Formidee, die die Leserin und den Leser zu ständigen Reflexionen über das Erzählen, die Medialität und die Deutung von Erzähltem herausfordert.

Trotz der Befrachtung der Geschichte mit vielleicht allzu vielen Themen existentieller und kunsttheoretischer Dimensionen, ist sie spannend und mit überraschenden Wendungen erzählt. Man darf auf die nächsten Erzählexperimente von Carola Saavedra gespannt sein.

Carola Saavedra: Landschaft mit Dromedar. Roman.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Carola Saavedra: Landschaft mit Dromedar. Roman.
Übersetzt aus dem Portugiesischen von Maria Hummitzsch.
Verlag C.H.Beck, München 2013.
175 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783406647093

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