Erz und Blech

Über das Vergessen und Wiederentdecken von Lyrikern und Lyrikerinnen

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

Mit schöner Regelmäßigkeit werden von Zeit zu Zeit vergessene Bücher und Autoren wiederentdeckt. Manchmal sind unter ihnen auch Lyriker oder Lyrikerinnen, so etwa, vor einigen Jahren, Mascha Kaléko. Das ist immer eine erfreuliche Angelegenheit – abgesehen davon, dass es natürlich nicht erfreulich ist, wenn Werke und ihre Urheber vergessen sind, die das nicht verdienen. Solche Wiederentdeckungen ereignen sich oft im Herbst, rechtzeitig zur Buchmesse. Daraus kann man nicht nur lernen, dass manche Jahreszeiten der Erinnerung besonders förderlich sind. Das Wiederentdecken Vergessener oder gar Verschollener ist auch für sich ein eigenartiger Vorgang des literarischen Lebens, der Beachtung verdient, unabhängig von seinen Ergebnissen im Einzelnen.

Zwischen drei Parteien spielt er sich ab. Da ist einer, der wiederentdeckt wird, manchmal sogar noch zu Lebzeiten, einer, der wiederentdeckt, und einer, für den er das tut. Vergessene in das Gedächtnis der literarischen Öffentlichkeit zurückzubringen ist vor allem das Anliegen von Kritikern und Lektoren. Sie entdecken, stellvertretend, jemanden wieder für ein Publikum, das allerdings zahlreich genug sein muss, damit es die Mühe lohnt, nicht zuletzt finanziell. Literaturwissenschaftler sind selten an diesem Geschäft beteiligt. Als Historiker dem Gedächtnis verpflichtet, kennen sie in der Regel ohnehin mehr Literatur, als der Markt verlangt. Leser wiederum, wenn sie diesen Namen verdienen, entdecken unentwegt Autoren, manche, ihnen schon bekannte, auch wieder neu, aber in der Regel nur still für sich.  

Das öffentliche Wiederentdecken ist geräuschvoller. Es ist erklärtermaßen ein  Kampf gegen die „elende Geschichte der Vernachlässigung“, wie Peter Härtling in seinem Buch „Vergessene Bücher“ schrieb, das inzwischen wohl auch vergessen ist. Die stehende Formel ‘etwas dem Vergessen entreißen’ lässt schon erkennen, mit wieviel Pathos das Wiederentdecken verbunden ist, besonders wenn die Vergessenen, wie die von Härtling gewürdigten, nicht nur Opfer von „Vernachlässigung und Gleichgültigkeit“, sondern auch von „Vertreibung und Mord“ waren. Der Hinweis auf diese „Toten und Vertriebenen“ versteht sich als eine Korrektur. Den Lesern – nicht selten auch anderen Kritikern – wird signalisiert, dass sie einem Autor Unrecht tun, wenn sie ihn weiter ignorieren und ihr Urteil über ihn nicht revidieren. Die Wiederentdecker fordern mit einem Wort literarische Gerechtigkeit ein, die es aber vermutlich auch nicht häufiger gibt als die juristische. Nebenbei beweisen sie außerdem noch ihre überlegene Bildung und möchten Einfluss ausüben, also kulturelle Macht.

Man muss ihnen zugute halten, dass ihre Aufgabe gewaltig ist. Zweifellos gibt es für sie viel zu tun. Die Gedichte und die Dichter, die vergessen wurden und werden, sind nicht zu zählen. Auf jeden Fall sind sie zahlreicher als die, die der literarischen Öffentlichkeit im Gedächtnis geblieben sind. Nur ein Beispiel: 1953 gaben Hans Egon Holthusen und Friedhelm Kemp die vielgelesene und oft zitierte Anthologie „Ergriffenes Dasein. Deutsche Lyrik 1900-1950“ heraus. Binnen zwei Jahren erlebte sie vier Auflagen. Sie war so weit verbreitet, dass sie heute noch antiquarisch leicht zu bekommen ist. In ihrem Bemühen, „eine respektable Epoche deutscher Poesie“ darzustellen, die zugleich „ein bedeutender und revolutionärer Abschnitt sprachgeschichtlicher Entwicklung“ war, hatten die Herausgeber Gedichte aus einem halben Jahrhundert ausgewählt – chronologisch angefangen bei der 1864 geborenen Ricarda Huch, endend mit Heinz Piontek, Jahrgang 1925. Große Namen sind dieser Anthologie zu finden: von Stefan George, Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke bis zu Gottfried Benn, Bertolt Brecht und Paul Celan.

Für den Leser von heute allerdings ist sie fast noch mehr eine Versammlung vergessener Namen, durch das Alphabet hindurch: von Richard Billinger und Georg Britting, Hans Carossa und Peter Gan über Rudolf Hagelstange und Friedrich Georg Jünger, Horst Lange und Max Mell bis zu Fritz Usinger und Georg von der Vring – den einen Herausgeber Hans Egon Holthusen nicht zu vergessen. Ihre Gedichtbände, die im Anhang der Anthologie aufgeführt werden, sind längst vergriffen und werden nicht wieder aufgelegt. Manche dieser Vergessenen wie Rudolf Borchardt, Theodor Däubler, Klabund, Elisabeth Langgässer, Rudolf Alexander Schröder, Josef Weinheber oder Carl Zuckmayer stehen zwar noch in Literaturgeschichten – aber als Lyriker finden sie kaum noch ihr Publikum.

Angesichts solcher Listen, die leicht aufzumachen sind, muss man sich fragen, warum nicht nur einige wenige, sondern so viele Autoren und Autorinnen vergessen werden. Die naheliegende Antwort: weil sie nicht gut genug waren, weil es ihren Gedichten an literarischer Qualität mangelt, stimmt oft, aber nicht immer. Natürlich gibt es ein gerechtes, ja gnädiges Vergessen, auch in der Literatur. Wer möchte sich schon an die Bestseller der letzten oder vorletzten Saison erinnern? Oder gar an die Moden von vorvorgestern, etwa die Balladen eines Theodor Körner oder eines Börries von Münchhausen? Selbst die Jugendgedichte mancher Großer wie Rainer Maria Rilke dürfen getrost vergessen werden, ganz zu schweigen vom Spätwerk mancher Späten wie beispielsweise Josef Weinheber.

Allerdings werden nicht immer nur mangelhafte Werke vergessen. Während manches gute Gedicht die Zeiten nicht überdauert hat, ist das einigen schwachen – z.B. von Friedrich Schiller – sehr wohl gelungen. Nicht alles, was die Kritik – mit einem Ausdruck Kurt Tucholskys – ‚aussortiert’, wird auch vergessen, umgekehrt aber vieles, was vorher ihren Beifall gefunden hat. Denn auch sie hatte und hat ihre Moden. Der Anteil der Kritik am literarischen Vergessen – ebenso wie am Erinnern – wird von ihr selber gelegentlich überschätzt.

Tatsächlich ist das Vergessen letztlich das Werk des Lesers. Er will und er muss vergessen, schon weil er nicht alles lesen kann, was geschrieben wurde, nicht einmal das, was ohne Zweifel seine Aufmerksamkeit verdienen würde. Die alte Literatur bildet einen Berg, den er gar nicht abtragen kann. Immer drängt neue nach, die seine Aufmerksamkeit beansprucht. Das Vergessen ist sein Mittel, die Macht der Vergangenheit zu brechen. Es ist die Kehrseite seines Bedürfnisses nach Neuem. Insofern ist gegen die habituelle Vergesslichkeit des Lesers wenig auszurichten; der Kritiker kann sie nur von Mal zu Mal unterbrechen.

Wann ein Vergessener oder eine Vergessene es verdient, wiederentdeckt zu werden, ist schwer allgemeingültig festzulegen. In der Regel führt man zu ihren Gunsten an, dass sie noch immer ‚lesbar’ seien, also zumindest ‚verständlich’, oder dass sie wieder ‚aktuell’ seien, uns also etwas zu sagen haben, was wir, zumindest von ihnen, noch nicht vernommen haben. Manche sind auch, durch das Vergessen, gewissermaßen unverbraucht. Die großen Auslegungsinstanzen, Schule, Universität und Feuilleton, haben sich ihrer noch nicht bemächtigt, und so muten sie dann geradezu wie Entdeckungen an, nicht wie Wiederentdeckungen.

Auf Vergessene hinzuweisen bereitet eine Befriedigung, die dem Bewusstsein einer guten Tat ähnlich ist. Was aber geschieht mit Autoren oder Autorinnen, wenn sie wiederentdeckt worden sind? Im besten Fall werden sie in den Kanon aufgenommen, wie es vor hundert Jahren bei Hölderlin der Fall war. Ihre Bücher bleiben lieferbar, ihre Gedichte werden wieder gelesen und interpretiert, wie die Mascha Kalékos. Im schlechtesten Fall werden sie gleich wieder vergessen, wie es Walter Mehring widerfahren ist. Vor 30 Jahren gab Christoph Buchwald eine Werkausgabe heraus, die sogar ins Taschenbuch ging. Sie hat nicht verhindern können, dass Mehrings Gedichte und Chansons heute vergessen sind. In die „Frankfurter Anthologie“ ist er nur einmal, Mascha Kaléko hingegen elfmal aufgenommen worden.

Vergessen zu werden ist ein Berufsrisiko von Schriftstellern. Erklärtermaßen erstreben sie das Gegenteil: Ruhm und Unsterblichkeit. Selbstbewusst, wenn nicht sogar anmaßend, schrieb Horaz im dritten Buch seiner „Oden“: „Exegi monumentum aere perennius“ („Ich hab ein Werk vollbracht, dem Erz nicht zu vergleichen“, wie Opitz übersetzte). Er werde, fuhr Horaz fort, nicht ganz sterben, sein Ruhm bei der Nachwelt vielmehr noch wachsen:

non omnis moriar multaque pars mei
vitabit Libitinam: usque ego postera
crescam laude recens [… ].

Spätere Dichter sind vorsichtiger gewesen und haben die Möglichkeit, vergessen zu werden, zumindest in Betracht gezogen. „Ich benötige keinen Grabstein“, hat Brecht in seinem gleichnamigen Gedicht 1933 geschrieben, als er noch nicht wusste, dass er nicht nur einen Grabstein bekommen würde, sondern auch das eine oder andere Denkmal. Noch nüchterner gab sich 1921 Ezra Pound in seinem Gedicht „E.P. Ode pour l’election de son sépulcre“, das auch Brecht gekannt und kommentiert hat. Es bezieht sich auf Pierre Ronsards Ode, in der er beschreibt, wie er sich sein Grab wünscht: ländlich-schlicht unter einem Baum, aber doch kenntlich, damit seine Leser zu ihm pilgern und ihn ehren könnten. Pound sah sich, als 35-Jähriger, nicht wie Ronsard auf dem Weg in die Unsterblichkeit, sondern in die Obskurität:

Unaffected by the march of events,
He passed from men’s memory in l’an trentiesme
De son eage [… ]

Pound hat dann zwar noch einiges dafür getan, dass es nicht so gekommen ist. Gleichwohl durchzieht sein Gedicht zumindest die Befürchtung, er könnte als Autor vergessen werden. Er fürchtete aber nicht, dass Besseres kommen würde als das, was er geschrieben hatte, sondern nur Leichteres:     

All things are flowing
Sage Heracleitus says;
But a tawdry cheapness
Shall outlast our days.

Das mag ein Ärgernis, aber auch ein Trost für bedeutende Autoren sein, die sich zuwenig beachtet fühlen: dass ihre Gedichte vielleicht beständiger als Erz sind, aber nicht als Blech.

Literaturhinweise

Peter Härtling: Vergessene Bücher.  Karlsruhe: von Loeper Verlag 1983 (Neuausgabe). Zitate, S. 10, 9 und 9.

Kurt Tucholsky: Die Aussortierten. In: Ders: Gesammelte Werke. Hg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Band 9: 1931. Reinbek bei Hamburg 1993 (1. Auflage 1975), S. 112-115. 

Ergriffenes Dasein. Deutsche Lyrik von 1900-1950. Ausgewählt von Hans Egon Holthusen und Friedhelm Kemp. Ebenhausen bei München: Wilhelm Langewiesche-Brandt 1. Auflage 1953. Zitate S. 348.

Horaz: Sämtliche Werke. Lateinisch und deutsch. München: Artemis & Winkler 13. Auflage 1993. Zitate S. 170.

Ezra Pound: Selected Poems. Edited with an introduction by T.S. Eliot. London: Faber and Faber o.J. Zitate S. 173 und 174.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zu Signet von Simone Frieling.