Krankheit und Moral

Der Fall Lenz und seine Umwertung durch Georg Büchner in medizingeschichtlichen Kontexten

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Mehr als zwei Jahrhunderte liegt diese Krankheitsgeschichte zurück, und wie kaum eine andere hat sie die Aufmerksamkeit der literarischen Öffentlichkeit zwischen Goethezeit und Gegenwart für sich einnehmen können. Die ersten Anzeichen seiner schweren geistigen Erkrankung hatten sich eben vor zwei Monaten bemerkbar gemacht, als der ruhebedürftige Jakob Michael Reinhold Lenz am 20. Januar 1778 über die verschneiten Vogesen in das abgeschiedene Steintal kam. Hier suchte er auf Anraten seiner Freunde Hilfe bei dem Pfarrer Johann Friedrich Oberlin. Der protestantische Landgeistliche, der sich mit seinen pädagogischen und sozialreformerischen Aktivitäten einen Namen gemacht hatte, ging mit dem Patienten auf eine Weise um, die christlichen und zugleich aufgeklärten Tugenden vorbildlich entsprach. Diesen Eindruck jedenfalls versuchte jener Krankenbericht Oberlins, den Georg Büchner später seiner Erzählung „Lenz“ zugrunde legte, mit Nachdruck zu vermitteln. Der Pfarrer, der als Helfer in derartigen Fällen einen guten Ruf hatte, war nach zwanzig Tagen in seinen Bemühungen um den kranken Dichter offensichtlich gescheitert. Die „Anfälle seiner Melancholie“ (das Wort bezeichnete damals anders als heute einen krankhaften Zustand nahe dem Wahnsinn) belasteten und erschreckten die Menschen um ihn zunehmend, für den Kranken selbst nahmen sie lebensbedrohliche Formen an. Oberlin ließ den „bedauernswürdigen Patienten“ daher nach Straßburg fortschaffen.

Sein Bericht darüber, adressiert an einen Kreis von Freunden und Förderern, ist mehr als ein nüchternes Protokoll der Ereignisse. Er gibt sich deutlich als Rechtfertigung gegenüber potenziellen Vorwürfen zu erkennen – und nebenbei auch als moraldidaktisches Exempel, als Fallbeispiel für normwidriges und normgerechtes Verhalten. Mehrfach und akzentuiert veranschaulichte der Philanthrop hier mit der Vorbildlichkeit seines eigenen Verhaltens, was einem aufgeklärt-empfindsamen Geist als eine der ranghöchsten Tugenden zu gelten hatte: die Fähigkeit zum Mitleid. Doch unmittelbar verknüpft mit der sympathetischen Identifikation steht, ebenso stark betont, die moralische und religiöse Distanzierung von dem Schwermütigen: „Man setze noch das zärtlichste Mitleiden hinzu, das seine unermeßliche Qual, deren Zeuge wir nun so oft gewesen, uns einflößen mußte. Denn fürchterlich und höllisch war es was er ausstund, und es durchbohrte und zerschnitt mir das Herz, wenn ich an seiner Seite die Folge[n] der Prinzipien die so manche heutige Modebücher einflößen, die Folgen seines Ungehorsams gegen seinen Vater, seiner herumschweifenden Lebensart, seiner unzweckmäßigen Beschäftigungen, seines häufigen Umgangs mit Frauenzimmern, durchempfinden mußte.“

Mit seiner moralistischen Erklärung der Melancholie, die ihm als Folge normwidriger Verhaltensweisen erschien, folgte Oberlin nicht nur gängigen Denkmustern seiner Zeit, sondern er bediente sich damit, mehr oder weniger bewusst, einer Strategie zur Durchsetzung sozialer Normen, die, unterschiedlich ausgeprägt, in Diskursen über Gesundheit und Krankheit bis heute beliebt und wirksam geblieben ist. Die Lektüre verwerflicher „Modebücher“ (vermutlich aus dem Umkreis des „Sturm und Drang“), Ungehorsam gegen den Vater, herumschweifende Lebensart, unzweckmäßige Beschäftigungen und häufiger Umgang mit Frauenzimmern haben, daran lässt Oberlin keine Zweifel, Lenz krank gemacht.

Wo Experten- oder Laiendiskurse über Krankheiten mit Schuldzuweisungen verknüpft sind, enthalten sie den Appell, was krank macht zu meiden, zu beseitigen oder zu verändern. Krankheit erscheint als Sanktion für ein Verhalten, das den geltenden oder postulierten Normen nicht entspricht. Theorien über Krankheitsursachen, die zu beeinflussen in der Macht menschlicher Möglichkeiten steht, tragen in sich Sanktionsandrohungen, die zu hochgewerteten Verhaltensformen anleiten. Die meist nicht explizierte, doch präsupponierte Logik der normsetzenden Argumentation folgt einem Schema, das sich folgendermaßen umreißen lässt: Sie unterstellt zunächst einen Konsens darüber, dass Gesundheit ein Basiswert ist, der als solcher von allen am Diskurs Beteiligten einvernehmlich akzeptiert wird, dass also Krankheiten ein Übel sind, dem jeder entgehen möchte. Man gibt als ursächliche Bedingungen für Krankheiten bestimmte Verhaltensweisen an und zieht daraus den normsetzenden Schluss: Man soll diese Verhaltensweisen vermeiden.

Im 18. Jahrhundert und noch weit darüber hinaus liefert die bürgerliche Sexualmoral für diese Logik normativer Argumentation besonders anschauliche Beispiele. Neben vielen anderen Krankheiten musste auch die Melancholie als Sanktionsandrohung gegen sexuelle Normwidrigkeiten herhalten. Wenn Oberlin den „häufigen Umgang mit Frauenzimmem“ als pathogenen Faktor anführt, wenn Goethe den kranken Werther von sich selbst sagen lässt, wie er „vom Kummer zur Ausschweifung und von süßer Melancholie zur verderblichen Leidenschaft“ übergegangen sei, oder wenn Wilhelm Waiblinger später Hölderlins Melancholie und Wahnsinn auch auf dessen Bereitschaft zurückführt, „sich im Sinnentaumel, in wilden unordentlichen Genüssen, in betäubenden Ausschweifungen zu vergessen“, dann sind damit relativ diskret Zusammenhänge angesprochen, die viele Ärzte damals unmissverständlicher und aggressiver formulierten, zum Beispiel der preußische Militärarzt Johann Ulrich Bilguer:

„Die besten Aerzte aller Zeiten, und aller Völker […] bezeugen: ‘Daß der Verlust einer Unze des männlichen Saamens mehr schwäche, als der Verlust von vierzig Unzen Blut.’ Und gewiß ist es, […] daß die unmäßig, und besonders zu frühzeitig getriebenen Liebeswerke, die Fähigkeit des Verstandes, die Einbildungskraft, das Gehirn, das ganze Nervengebäude, alle natürlichen Handlungen, den Magen, die Gedärme, die Verdauung usw. schwächen. Daß die Wollüstigen den Appetit und die Verdauung der Speisen verlieren, und dagegen grobes dickes Blut, Mangel an hinlänglicher Nahrung und Lebensgeister, Herzklopfen, Ohnmachten, Schwindel, Zittern, rohes Wesen in dem Magen, Ekel, Aufstoßen, Erbrechen, und den Unterleib mit Winden angefüllet; desgleichen allerhand Krämpfungen, Gichtschmerzen und Gliederkrankheiten, die Darm- und Magensucht u.s.f. bekommen; daß sie sehr leicht in Melancholie und Raserey verfallen, und daß sie gemeiniglich alle in eine Art der Auszehrung übergehen und sehr zeitig sterben.“

Die Allianz medizinischer und moralischer Diskurse hat für die normativen Konstruktionen moderner, säkularisierter Gesellschaften eine erhöhte Anziehungskraft. Denn als normsetzende Sanktionsinstanz muss hierbei kein metaphysisches Wesen mehr angenommen werden und auch keine soziale Autorität, deren Legitimität sich bezweifeln läßt. Die menschliche Natur selbst ist es, die physische und die psychische, an der man sich nicht straflos versündigen darf. „So schrecklich rächt die Natur den Frevel gegen ihren eigenen Willen!“ resümierte Heinrich von Kleist in seinem Bericht über das Würzburger Julius-Hospital die wahrhaft abschreckende Schilderung eines kaum mehr menschenähnlichen „Wesens, den ein unnatürliches Laster wahnsinnig gemacht hatte“. Die Natur rächt den Frevel gegen ihre Forderungen. Das ist die säkularisierte Version einer Denkform, die Krankheiten als von Gott gesandte Mahnungen oder Bestrafungen interpretierte. In einer moraldidaktischen Kalendergeschichte kommuniziert der „Herrgott“ mit einem „Kirchenvater“, der „wie ein Toller [!] in Saus und Braus“ dahinlebt, über das Medium diverser körperlicher Gebrechen. Sie strafen den Sünder und werden vom Herrgott zugleich als mahnende Zeichen deklariert, auf den Tod stets vorbereitet zu sein. Solche religiös fundierten Funktionalisierungen und Semantisierungen von Krankheiten bleiben noch über das 18. Jahrhundert hinaus literarisch präsent, doch wird in den normvermittelnden Diskursen über Krankheiten die Autorität Gottes zunehmend durch die der Natur substituiert. „Wenn die Natur verabscheut, so spricht sie es laut aus. Das Geschöpf […], was falsch lebt, wird früh zerstört. Unfruchtbarkeit, kümmerliches Dasein, frühzeitiges Verfallen – das sind ihre Flüche, die Kennzeichen ihrer Strenge. Nur durch unmittelbare Folgen straft sie. Da! Seht um euch her, und, was verboten und verflucht ist, wird euch in die Augen fallen.“ Der königlichpreußische Leibarzt Christoph Wilhelm Hufeland stellte dieses Zitat aus „Wilhelm Meisters Lehrjahren“ als Motto vor den praktischen Teil seiner „Makrobiotik“, eines Kompendiums bürgerlich-aufgeklärter Moral, die sich durch Verheißungen eines gesunden und langen Lebens rechtfertigte. Wer „falsch lebt“, den straft die Natur durch frühzeitige Zerstörung. Gleich in der Vorrede zur dem ungemein erfolgreichen Buch über „Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern“, erklärte Hufeland, „daß physische und moralische Gesundheit“ unmittelbar „verwandt“ sind, betonte die Unentbehrlichkeit „der moralischen Gesetze […] zur physischen Erhaltung und Verlängerung des Lebens“ und unterstellte die Schrift dem „doppelten Zweck“, „nicht bloß die Menschen gesünder und länger lebend, sondern auch durch das Bestreben dazu besser und sittlicher zu machen!“

Die Gesundheitskampagne der Aufklärung, an der sich literarische Texte intensiv beteiligten, war auch eine Kampagne zur Erziehung der Gesellschaft gemäß den bürgerlichen Normen der theoretischen und praktischen Vernunft. Oberlins Bericht über den kranken Lenz zeigt sich davon deutlich geprägt. Auch noch sein aufgeklärt-empfindsames Mitleid, das in der Geschichte des Umgangs mit psychisch Kranken gegenüber frühaufklärerischen Positionen zweifellos ein humanitärer Fortschritt war, unterlag moralisch geregelten Einschränkungen. Mitleid verdiente ihnen zufolge vornehmlich jener Leidende, der sich nicht gänzlich außerhalb bürgerlicher Ordnungsvorstellungen bewegte. Der völlig amoralische und unverbesserliche „Bösewicht“ hatte keinen Anspruch auf Sympathie, man durfte ihm gegenüber vielmehr Verachtung und Abscheu bekunden. Wer aber wie Lenz die Gültigkeit bestehender Normen durch sein Sündenbewusstsein bestätigte, wer wie er, von seinen Anfällen abgesehen, einen „großen Verstand und ein ausnehmend teilnehmendes Herz“ zeigte, der konnte trotz seiner Verfehlungen des Mitleids wert sein. Und noch auf eine andere Weise war das nach dieser Regel eingeschränkte Mitleidsgebot in der zweiten Jahrhunderthälfte eingebunden in das aufklärerische Konzept moralischer Bildung. Gemäß der Parole „Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch“, der die natürliche Solidarität der Leidenden als emotionale Basis aller sozialen Tugenden galt, stützte sich Lessings Programm einer ästhetischen Einübung in die Mitleidsfähigkeit auf den optimistischen Glauben an die Möglichkeit, die Gesellschaft moralisch zu vervollkommnen.

Mit der Lektüre von Büchners „Lenz“ sieht man sich demgegenüber in eine deutlich veränderte historische Situation versetzt und bereits in die Nähe zur literarischen Moderne des 20. Jahrhunderts gerückt. Zwar bleibt auch Büchners Erzählfragment vom Ethos des Mitleidens entschieden geprägt, doch an dem zuversichtlichen Glauben an den moralischen Fortschritt der Menschheit hat es keinen Anteil mehr. Vor allem aber hat sich die Erzählung von dem moralistischen Blick auf den Kranken, wie er in Oberlins Bericht eingegangen war, völlig gelöst. Wahnsinn als selbstverschuldete Folge normwidrigen Verhaltens, der Fall Lenz als moraldidaktisches Exempel zur Bestätigung oder Durchsetzung jener sittlichen Prinzipien, denen der Kranke nicht entsprochen hat: diese Perspektive und Funktion sind nicht mehr die der Büchnerschen Krankheitsgeschichte. Was die Erzählung vermittelt, scheint vielmehr übereinzustimmen mit einer medizingeschichtlichen Entwicklung, in deren Verlauf seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts, also zeitlich parallel zur Entstehung von Büchners Werk, die moralistischen Interpretationen psychischer Krankheiten zunehmend auf Ablehnung stoßen. Am Beispiel „Lenz“ läßt sich aber auch zeigen, dass das skizzierte Schema normvermittelnder Argumentation und Strategie trotz der Distanzierung vom moralistischen Blick aufgeklärter Provenienz in wesentlichen Bestandteilen erhalten bleibt, in Einzelheiten freilich modifiziert und zum Teil mit völlig unterschiedlichen Norminhalten gefüllt wird.

Um 1830 etwa beginnt in der deutschen Psychiatriegeschichte die Periode der „Somatiker“. Mit ihrer gegen die idealistische und naturphilosophische Psychopathologie gerichteten These, dass psychische Krankheiten stets nur Begleitsymptome oder Folgeerscheinungen körperlicher Defekte seien, lehnten diese auch die Nachforschungen über Schuld und Unschuld der Kranken ab und versuchten sie von der moralischen Selbstverantwortlichkeit für ihr Leiden zu befreien. Ein früher und richtungsweisender Repräsentant der somatischen Psychiatrie war Maximilian Jakobi, Sohn des Goethe-Freundes Friedrich Heinrich Jakobi. Bereits der Titel seiner 1830 erschienenen Schrift „Beobachtungen über die Pathologie und Therapie der mit dem Irresein verbundenen Krankheiten“ formuliert wesentliche Postulate des medizinischen Perspektivenwandels: Empirische „Beobachtung“ sollte an die Stelle philosophischer Spekulation treten und das Irresein stets ursächlich „verbunden“ mit Körperkrankheiten gesehen werden. Als primär somatischer Defekt sollte jede psychische Krankheit der moralischen Erklärung und Bewertung entzogen und das Krankheitsgeschehen als eine ichfremde Macht akzeptiert werden, über die der Betroffene selbst nicht mehr mit freiem Geist verfügen kann.

Die ausschließlich somatische Orientierung der Psychopathologie mag heute aus guten Gründen in vieler Hinsicht fragwürdig erscheinen; in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts jedoch verbanden sich mit ihr im Gegensatz zu dem immer rigideren und politisch restaurativen Moralismus der „Psychiker“ Positionen des humanitären, sozialen und politischen Fortschritts. Maßgeblich von den Somatikern gingen die Versuche aus, in der Praxis der Irrenbehandlung die mechanischen, im Namen der Vernunft, Ordnung und Sittlichkeit durchgeführten Zwangstherapien zu mildern, die Anstalten zu reformieren und in der Rechtsprechung die Unzurechnungsfähigkeit kranker Täter geltend zu machen. Politisch standen die Somatiker meist auf der Seite der Liberalen, einige hatten unter staatlichen Verfolgungen zu leiden.

J. B. Friedreich zum Beispiel verlor 1832 seine medizinische Professur in Würzburg, da man aufrührerische Umtriebe von Studenten seinem Einfluss anlastete. Als streng naturwissenschaftlich orientierter Mediziner, der den „Sitz der psychischen Krankheiten“ ausschließlich im Körper sah, wandte er sich 1836 mit Nachdruck gegen die Vorstellung, „dass Verläugnung der Vernunft und Moral, Leidenschaften und die Sünde die Quelle der psychischen Krankheiten seyen; […] und jeder Wahnsinn ein selbst verschuldeter Zustand, jeder Wahnsinnige ein Kind des Teufels sey.“ Schon neun Jahre später, 1845, konstatierte Wilhelm Griesinger, der in den dreißiger Jahren wegen seines republikanischen Engagements von der Tübinger Universität verwiesen worden war und 1848 zur entschiedenen Linken gehörte, in seinem für die Psychiatrie Jahrzehnte lang grundlegenden Lehrbuch über „Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten“: „Eine wirkliche Polemik gegen die moralistischen Auffassungen der Geisteskrankheiten ist heutzutage nicht mehr nöthig.“ Trotzdem mochte er auf diese Polemik noch nicht verzichten: „Nichts ist falscher, nichts wird mehr von der täglichen Beobachtung verworfen, als jeder Versuch, das Wesen der Geisteskrankheiten in das sittliche Gebiet zu verlegen. Laut genug sprechen freilich die Thatsachen für eine sehr häufige psychische Entstehungsweise dieser Krankheiten […]. Aber, während die Sphäre der Sittlichkeit ganz innerhalb des bewussten, freien Denkens enthalten ist, liegen die Ausgangspunkte der anomalen geistigen Processe, zu denen diese Gehirnkrankheiten Anlass geben, auf einem ganz anderen Gebiete. Aus dunkeln Verstimmungen des psychischen Gemeingefühls, der Selbstempfindung gehen beim Irresein ursprünglich affectartige Seelenzustände hervor, und wenn sich aus diesen ein, den Kranken überwältigendes falsches Vorstellen und Streben herausgebildet hat, so ist dieser schon in einem Zustande, dem die ersten Voraussetzungen aller Sittlichkeit, die Besonnenheit, die Möglichkeit einer Ueberlegung und Wahl, fehlen, und all sein Thun kann gar nicht mehr unter den sittlichen Gesichtspunkt fallen.“

Der zitierte Abschnitt sowie der gesamte § 7 des Lehrbuchs, dem er entnommen ist, sind für die Geschichte der Beziehung zwischen Pathologie, Moral und Literatur in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Griesingers Kritik moralistischer Krankheitsvorstellungen geht nämlich über strikte Positionen somatisch fixierter Psychiatrie hinaus, insofern sie „eine sehr häufige psychische Entstehungsweise dieser Krankheiten“ ausdrücklich in Rechnung stellt. Die Moralismuskritik der Somatiker war in ihrer Opposition zu goethezeitlichen Pathologien vielfach erkauft mit dem Verlust jener Perspektive, die im 20. Jahrhundert den Gegnern der Schulpsychiatrie (und Medizin generell) treffende Argumente lieferte. Denn während der moralistische Blick auf den Kranken tendenziell noch den ‘ganzen’ Menschen erfasste – seinen Geist, seinen Körper und seine gesamte Lebensgeschichte –, verlor die strikt naturwissenschaftlich orientierte Medizin mit der Ablehnung moralischer Erklärungs- und Beschreibungsansätze auch die psycho- und soziogenetischen Krankheitsbedingungen aus den Augen. Gerade der Psychiater, der, unter anderem mit seinem 1818 erschienenen „Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens“, vom „rationalen Standpunkt aus entworfen“, die moralistische Deutung psychischer Krankheiten auf die Spitze getrieben hatte und damit den Somatikern zu einem Hauptgegner wurde, Johann Christian Heinroth nämlich, der bedeutendste Repräsentant der Psychiatrie der Restaurationszeit, der im Rahmen seiner vernunftreligiösen Vorstellungen jede „Seelenstörung“ als Abfall von Gott und der „heiligen Vernunft“, als das Böse und Teuflische schlechthin beschrieb, gerade er betonte so nachdrücklich wie kaum ein anderer die Notwendigkeit, das Krankheitsgeschehen in seinen psychischen wie somatischen und lebensgeschichtlichen Gesamtzusammenhängen zu verstehen: „Wir sind nicht aufmerksam genug auf den ganzen Lebensgang seelengestörter Individuen, wir würden sonst finden, daß Melancholie, Wahnsinn, Manie usw. stets Resultat des Gesammtlebens sind“.

Eine Voraussetzung dafür, die ganzheitlichen Ansätze der goethezeitlichen Medizin und Psychopathologie zu bewahren oder wieder aufzunehmen, ohne in ihre moralistischen Implikationen zurückzufallen, war die semantische Entkoppelung zweier Begriffe, die um 1800 partiell synonym und austauschbar verwendet wurden: „moralisch“ und „psychisch“. „Moralisch“, das hält noch der entsprechende Band des Grimmschen Wörterbuches von 1885 fest, bedeutete damals nicht nur das Gleiche wie „sittlich“ oder „die Sittenlehre betreffend“, sondern fungierte ebenso als Gegenbegriff zu „physisch“ bzw. „physiologisch“. „Moralisch“ deckte damit auch Inhalte ab, die als „geistige“, „psychische“ oder „psychologische“ bezeichnet wurden. Psychische und sittliche Normabweichungen wurden also begrifflich nicht prinzipiell unterschieden, denn beide konnten als „moralische Krankheiten“ gelten. Der Erfahrungsseelenkunde eines Karl Philipp Moritz beispielsweise bereitete es daher trotz ihres wissenschaftlichen Anspruchs keine Schwierigkeiten, über den „Wahnwitz“ hinaus auch „den Geitz, die Verschwendung, die Spielsucht, den Neid, die Trägheit, die Eitelkeit u.s.w. unter die Gemüths- oder Seelenkrankheiten zu rechnen“. Denn das „eigentliche Glück unsres Lebens“ hänge doch wohl davon ab, „daß wir so wenig, wie möglich, neidisch, habsüchtig, eitel, träge, wollüstig, rachsüchtig u.s.w. sind; denn alles dieß sind ja Krankheiten in der Seele, die uns oft mehr, wie irgend eine körperliche Krankheit, die Tage unsres Lebens verbittern können.“ Dem psychopathologischen Blick war der moralisch-sittliche inhärent.

Der zum Tode kranke Werther, dem Büchners Lenz-Figur etwa so nahe steht wie der reale Lenz dem jungen Goethe, spricht, als er mit Albert über den Selbstmord debattiert, von einem „moralischen“ Leiden und meint damit ein psychisches, ein Leiden des „Geistes“. Die Frage sei nicht, „ob einer schwach oder stark ist, sondern ob er das Maß seines Leidens ausdauern kann, es mag nun moralisch oder körperlich sein.“ Doch obwohl Werther gegen Alberts aufgeklärt-moralistische Verurteilung des „lasterhaften“ Selbstmords argumentiert, schließt seine Rede vom „moralischen“ Leiden die „sittliche“ Bedeutungskomponente des Begriffs durchaus mit ein. Vergleicht er doch selbst die Tat des Selbstmörders mit Fällen des Diebstahls, des Mordes und der erotischen Übertretung. Deren sittliche Negativität steht auch für Werther außer Frage, doch anders als Albert insistiert er mit jener Blickwendung von der Tat auf den Täter, die sich auch in der Strafrechtsdiskussion der Goethezeit vollzog, darauf, in der Urteilsbildung über ein Verbrechen die „innern Verhältnisse einer Handlung“ zu erforschen, „die Ursachen zu entwickeln, warum sie geschah, warum sie geschehen mußte“. Diebstahl sei in der Tat ein Laster, konzediert Werther, „aber der Mensch, der, um sich und die Seinigen vom gegenwärtigen Hungertode zu erretten, auf Raub ausgeht, verdient der Mitleiden oder Strafe?“ Warum die lasterhafte Handlung „geschehen mußte“: Im Gegensatz zu Albert kommt es Werther auf dieses „mußte“ an. Deshalb auch rückt er das „moralische“ Leiden, das zum Selbstmord führt, in die unmittelbare Nähe körperlicher Krankheiten. Denn dass der kranke Körper der sittlichen Autonomie Grenzen setzt, darüber zumindest kann Werther einen Konsens voraussetzen: „ich finde es ebenso wunderbar zu sagen, der Mensch ist feige, der sich das Leben nimmt, als es ungehörig wäre, den einen Feigen zu nennen, der an einem bösartigen Fieber stirbt.“ Dem Autor war diese Argumentation so wichtig, dass er sie Werther in leicht abgewandelter Form gleich mehrfach wiederholen ließ. Man kann sie auch als ein in Deutschland frühes Beispiel für einen Einstellungswandel gegenüber psychisch Abweichenden lesen, der bewirkte, dass sie als „Kranke“ auch räumlich von den Kriminellen und Asozialen geschieden wurden. „Du gibst mir zu“, sagt Werther zu Albert, „wir nennen das eine Krankheit zum Tode, wodurch die Natur so angegriffen wird, daß teils ihre Kräfte verzehrt, teils so außer Wirkung gesetzt werden, daß sie sich nicht wieder aufzuhelfen, durch keine glückliche Revolution den gewöhnlichen Umlauf des Lebens wieder herzustellen fähig ist.“ Die Rede ist hier noch von tödlicher Körperkrankheit; erst im Anschluss daran erfolgt die Übertragung auf den Bereich des „Geistes“, und zwar wieder in der Absicht, die vernünftig-sittliche Entscheidungsfreiheit auch im Bereich psychischer Leiden in Frage zu stellen: „Nun, mein Lieber, laß uns das auf den Geist anwenden. Sieh den Menschen an in seiner Eingeschränktheit, wie Eindrücke auf ihn wirken, Ideen sich bei ihm festsetzen, bis endlich eine wachsende Leidenschaft ihn aller ruhigen Sinneskraft beraubt und ihn zugrunde richtet.“ Der für Albert „zu allgemein[en]“ Rede schließt sich ein Exemplum an, nämlich die Geschichte eines Mädchens, das von dem Geliebten verlassen wurde und ins Wasser ging: „blind, in die Enge gepreßt von der entsetzlichen Not ihres Herzens, stürzt sie sich hinunter, um in einem rings umfangenden Tode alle ihre Qualen zu ersticken. – Sieh, Albert, das ist die Geschichte so manches Menschen! und sag‘, ist das nicht der Fall der Krankheit? Die Natur findet keinen Ausweg aus dem Labyrinthe der verworrenen und widersprechenden Kräfte, und der Mensch muß sterben.“

Die Geschichte von den „Leiden des jungen Werthers“ wird zur Krankheitsgeschichte, und mit ihrer seinerzeit neuartigen Tendenz, sich der unmissverständlichen Verurteilung des kranken Selbstmörders zu enthalten, stand sie quer zu den moraldidaktischen Erwartungen ihrer aufgeklärten Kritiker. Zwar nahmen auch sie Werther als krank wahr, doch mit ihrem moralistisch-pejorativen Krankheitsbegriff insistierten sie, wie Albert (und wie wenige Jahre später Oberlin gegenüber Lenz), auf der sittlichen Schuld des Leidenden. Auf dem Weg des intellektuellen Bewusstseins hin zur Exkulpierung des psychisch Kranken, der von der somatischen Psychopathologie im 19. Jahrhundert bis zur vorläufig letzten Konsequenz ausgebaut wurde, nahm der junge Goethe mit dem „Werther“ früh eine fortgeschrittene Position ein, an die Büchners Erzählung über Goethes Jugendfreund anknüpfen konnte. Doch während Goethe das psychische Leiden mit körperlicher Krankheit noch verglich, um als gemeinsames Merkmal die Unbeherrschbarkeit durch Vernunft hervorzuheben, ist die psychische Störung für den Somatiker eine Körperkrankheit.

Diese Differenz ist symptomatisch für eine tiefe Kluft, die sich im 19. Jahrhundert zwischen der positivistisch-naturwissenschaftlichen Medizin und der Literatur auftut. Soweit sich nämlich zwischen Goethezeit und Gegenwart die Psychopathologie somatisch verengt und die Medizin an den exakten Naturwissenschaften orientiert, verringert sich ihr Anregungspotential für literarische und ästhetische Diskurse oder erscheint ihnen zumindest höchst problematisch. Umgekehrt wird die literarische Auseinandersetzung mit Gesundheit und Krankheit dieser Medizin und Psychopathologie als mögliche Erkenntnishilfe weithin gleichgültig, wenn nicht zum Ärgernis. Der intensive Ideenaustausch zwischen avancierter Literatur und Medizin in der Aufklärung und vor allem in der Romantik brach gegen Mitte des 19. Jahrhunderts, als der naturwissenschaftliche Positivismus in der Medizin sich durchgesetzt hatte, in Deutschland für drei Jahrzehnte weitgehend ab und wurde erst gegen Ende des Jahrhunderts, im Vorfeld und Kontext der Psychoanalyse vor allem, mit neuer Intensität wieder aufgenommen.

Für Griesinger war jede psychische Krankheit eine Gehimkrankheit, und obwohl er psychische Ursachen für „die häufigsten und ergiebigsten Quellen des Irreseins“ hielt, räumte sein Lehrbuch den somatischen Ursachen (Kopfverletzungen, Nervenverletzungen, Wechselfieber, Herz- und Lungenkrankheiten, Schwangerschaft etc.) gut dreimal so viel Seiten ein und zeigte damit, wo seine Interessenschwerpunkte lagen – Interessenschwerpunkte, die gewiss nicht die von Goethes „Werther“ oder Büchners „Lenz“ waren. Mangelndes Interesse an oder Unkenntnis der organischen Grundlagen psychischer Krankheiten machten die Somatiker den dichterischen Darstellungen pathologischer Phänomene wiederholt zum Vorwurf. Unmittelbar neben den „moralistischen Betrachtungsweisen“ stehen bei Griesinger die „poetischen“ als Paradigmen der Inkompetenz und Wahrheitswidrigkeit. Das Monopol auf Wahrheit reservierte er energisch dem medizinisch-naturwissenschaftlich geschulten Blick: „Da das Irresein eine Krankheit, und zwar eine Erkrankung des Gehirns ist, so kann es für dasselbe kein anderes richtiges Studium geben, als das ärztliche. Die Anatomie, Physiologie und Pathologie des Nervensystems, und die gesamte specielle Pathologie und Therapie bilden für den Irrenarzt die allernothwendigsten Vorkenntnisse. Alle nicht-ärztlichen, namentlich alle poetischen und moralistischen Auffassungen des Irreseins sind für dessen Erkenntniss nur vom allergeringsten Werthe. Einzelne poetische Darstellungen Wahnsinniger sind in manchen, der Natur abgelauschten Zügen vortrefflich (Ophelia, Lear, vor allem Don-Quixote); aber indem der Dichter fast durchaus diese Zustände mit Umgehung ihrer organischen Grundlagen, nur von der geistigen Seite, als Resultate vorausgegangener sittlicher Conflicte auffassen, und nur das, was diesem Zwecke dient, hervorheben muss, wird seine Schilderung zum mindesten einseitig.“

Mit dem Vorwurf der Einseitigkeit wird die zunächst strikte Ausgrenzung dichterischer Diskurse von der „richtigen“ Wahrnehmung des Wahnsinns modifiziert. Sie ist rigoros, wo es um die „organischen Grundlagen“ geht, doch sie mildert sich in dem Maße, in dem die psychiatrische Ätiologie der Psychogenese des Krankheitsgeschehens ihre Aufmerksamkeit zuwendet. Bei Griesinger deutet sich bereits an, wo die Grenzen, die den medizinisch-naturwissenschaftlichen und den literarischen Diskurs über Krankheit scheiden, später wieder geöffnet werden: dort nämlich, wo die Abkehr von moralgenetischen Erklärungen von Krankheiten nicht zugleich mit der Abkehr von psychogenetischen Erklärungen einhergeht, wo der ganzheitliche Blick goethezeitlicher Psychopathologie wieder aufgenommen wird, doch ohne seine moralistischen Implikationen, wo also „psychisch“ und „moralisch“ nicht mehr das gleiche bedeuten. Im § 77 seines Lehrbuchs über „Psychische Ursachen“ zitiert Griesinger anerkennend Pinel, „das Muster eines Irrenarztes“ (ungeachtet seines noch ungebrochen moralistischen Krankheitsbegriffs!), der an jeden neuen Kranken zunächst die Frage gerichtet habe: „haben Sie Verdruss, Kummer, Widerwärtigkeiten erlitten?“ So zu fragen ist literarischen Krankheitsgeschichten, zumal wenn sie die moralistische Distanz gegenüber ihren kranken Figuren aufgegeben haben, keineswegs fremd. Und die meisten der psychischen Krankheitsursachen, die Griesinger anführt, gehören zu ihrem festen Motivinventar. Einige davon sind auch im „Werther“ und in „Lenz“ von zentraler Bedeutung: „bald ist es ein plötzlich erregter Zorn, Schrecken oder Kummer über eine Beleidigung, einen Vermögensverlust, eine rohe Beeinträchtigung der Schamhaftigkeit, einen schnellen Todesfall u. dergl., bald sind es die langsam an der Seele nagenden Folgen des zurückgewiesenen Ehrgeizes, der Reue über eigene unrechtmässige Handlungen, des Hauskreuzes, der unglücklichen Liebe, der Eifersucht, der Verkennung, des gezwungenen Verweilens in inadäquaten Verhältnissen […] immer sehen wir da die stärksten Wirkungen, wo eine lange Concentration der Wünsche und Hoffnungen auf einen Gegenstand stattgefunden, wo sich der Mensch in gewisse Zustände ganz hineingelebt hatte und wo nun mit gewaltsamer Hemmung dieser Interessen, den Vorstellungen ihr Uebergang in Strebungen abgeschnitten wird, und damit ein Riss in das Ich und ein heftiger innerer Kampf entsteht.“

Der gebildete Arzt der Goethezeit führte in solchen Zusammenhängen ganz selbstverständlich literaturgeschichtlich prominente Beispiele zur Veranschaulichung an. Freud hat später diese Gepflogenheit in verstärktem Maße wieder aufgenommen. Griesinger hingegen verzichtete auf literarische Illustrationen seiner Ausführungen fast gänzlich. Die Literaturfeindlichkeit der Psychiatrie war wohl nie so stark wie zu der Zeit, als sie sich als strikt naturwissenschaftliche Disziplin zu konsolidieren versuchte. Von manchem Somatiker vor Griesinger waren noch weit abschätzigere Urteile über literarische Krankheitsdarstellungen zu hören. Friedrich Bird vor allem, der Schüler des erwähnten Maximilian Jakobi, hat sich in dieser Hinsicht hervorgetan. Im Titel einer 1839 erschienenen Schrift sprach er von der „Belletristik in ihren schädlichen Einflüssen auf die Psychiatrie“, klagte über den Unfug, den die schöne Literatur mit ihrer Einmischung in den Kompetenzbereich der medizinischen Psychopathologie treibe, polemisierte gegen die Unsitte seiner Kollegen, literarische Werke, vor allem die Shakespeares, als Belege für die Wahrheit ihrer psychiatrischen Aussagen heranzuziehen, sei doch beispielsweise „Hamlet“ für die wissenschaftliche Pathologie ohne jeden Wert. Birds harsche Kritik, die sich vor allem gegen Justinus Kerner richtete, war getragen von dem Affekt gegen moralische und psychogenetische Wahnsinnsauffassungen. Rigoroser denn auch als Griesinger diktierte er der Literatur ihre Grenzen: „Die Belletristik mag die Laster, die Tugenden, die Leidenschaften der Menschen und letztere in allen nur denkbaren Situationen nach Belieben schildern; […] aber in die Pathologie, in die Psychiatrie muß sie sich nicht verwirren, oder die Aerzte müssen den Unsinn ab- und zurückweisen.“

In der Optik der strikt somatischen Pathologie des 19. Jahrhunderts wird der literarische Diskurs über Krankheit zum unsinnigen, wahrheitswidrigen, der Medizin und dem Patienten schädlichen Diskurs, durchsetzt von Mythen und Metaphern, Phantasien und falschem Bewußtsein. Dem historischen Stand dieser Optik zeigt sich auch noch der 1978 in deutscher Übersetzung erschienene Essay Susan Sontags über die „Krankheit als Metapher“ verbunden. Dieser ungewollt literaturfeindliche Essay der amerikanischen Literaturkritikerin, der man Literaturfeindlichkeit sonst nicht nachsagen kann, ist eine Kampfschrift gegen alle Krankheitsmetaphern, und das heißt, wie schon die einleitenden Bemerkungen deutlich machen, gegen alle Redeweisen über Krankheit, die in ihr mehr als ein physisches Phänomen sehen. „Mein Thema ist nicht die physische Krankheit als solche, sondern die Verwendung der Krankheit als Bild oder Metapher. Zeigen will ich, daß Krankheit keine Metapher ist und daß die ehrlichste Weise, sich mit ihr auseinanderzusetzen – und die gesündeste Weise, krank zu sein – darin besteht, sich so weit wie möglich von metaphorischem Denken zu lösen, ihm größtmöglichen Widerstand entgegenzusetzen.“

Metaphorisches ist ‘uneigentliches’ Sprechen, und der Begriff der Krankheitsmetapher setzt eine verbindliche Vorstellung darüber, was mit „Krankheit“ eigentlich gemeint ist, voraus. „Die physische Krankheit als solche“, so Susan Sontags bezeichnende Formulierung, ist für sie dieses ‘Eigentliche’ und ‘Wirkliche’. Über Krankheiten im Zusammenhang mit psychischen Befindlichkeiten, kulturellen Normen oder gesellschaftlichen Verhältnissen zu reden, heißt dagegen, sie zu metaphorisieren. „Das psychologische Verständnis untergräbt die ‘Realität’ einer Krankheit.“ Die Beispiele, die Sontag für derart realitätswidrige Metaphorisierungen anführt, sind zum großen Teil literarischen Texten entnommen. Nicht zufällig, denn dort, wo literarische Texte Krankheiten zu einem zentralen Motiv und Thema machen, scheint ihnen die Tendenz zur Metaphernbildung in Susan Sontags Sinn immer schon inhärent zu sein. Die Kritikerin vermag jedenfalls keinen literarischen Text zu nennen, der unmetaphorisch über Krankheit spricht. Der poetische Diskurs neigt wohl generell dazu, Krankheiten in Sinnzusammenhänge zu integrieren, die über den streng eingegrenzten Sinnhorizont und Funktionsbereich einer wissenschaftlich-technischen Medizin, wie sie der Amerikanerin als vorbildlich vor Augen steht, hinausgehen.

Vor allem auch in der Absicht, den Kranken von den moralistischen Implikationen „unwissenschaftlicher“ Krankheitsvorstellungen zu entlasten, ist Susan Sontags Kampf gegen die Metapher den Somatikern des 19. Jahrhunderts verbunden. Straf-, Schuld- und Minderwertigkeitsphantasien, wie sie den Kranken durch populäre und pseudowissenschaftliche Krankheitsbilder aufgebürdet werden, gilt vorrangig ihre kritische Aufmerksamkeit. Die Einschätzung der Krankheit als „Prüfung des moralischen Charakters“, die „Vorstellung, daß eine Krankheit eine besonders geeignete und gerechte Bestrafung sein könne“, die Ausdeutung von Krankheiten „als Metaphern für das Böse“: solche „albernen und gefährlichen Ansichten bringen es zuwege, daß die Last der Krankheit dem Patienten aufgebürdet wird“. Gerade auch die „spezifisch moderne Vorliebe für psychologische Erklärungen“ sei in hohem Maße mit belastenden Schuldzuweisungen assoziiert: „Psychologische Krankheitstheorien sind machtvolle Instrumente, um die Schande auf die Kranken abzuwälzen. Patienten, die darüber belehrt werden, daß sie ihre Krankheit unwissentlich selbst verursacht haben, läßt man zugleich fühlen, daß sie sie verdient haben.“

Dass Susan Sontag hiermit gegen Vorstellungen von selbstverschuldeter Krankheit opponiert, die schon im 19. Jahrhundert ihre Gültigkeit verloren, ließe sich leicht zeigen. Dass sie zudem mit ihrer Metaphernkritik der Wissenschaftsgläubigkeit des 19. Jahrhunderts verhaftet ist und dabei medizinische Erkenntnisgewinne im 20. Jahrhundert, unter anderem aus dem Umkreis psychosomatischer und epidemiologischer Forschungen, ignoriert oder als bloße Spekulation abtut, sei nur angemerkt. Dass sie jedoch mit überzeugenden Beispielen illustrieren kann, wie professionelle oder laienhafte Krankheitsvorstellungen häufig zu wirksamen Elementen normvermittelnder Diskursstrategien funktionalisiert werden, und zwar auf eine vielfach fragwürdige Weise, macht ihren Essay ungemein anregend und fordert den Literarhistoriker zu Präzisierungen, Modifizierungen und auch Bestätigungen heraus. Selbst an ihren globalen Einwänden gegen alle Krankheitsbegriffe, die die Grenzen somatischer Reduktionen überschreiten, ist so viel richtig: Je weiter sich der Horizont medizinischer Pathologie und Therapie zum ganzheitlichen Verständnis von Krankheiten hin öffnet, desto durchlässiger wird er für (möglicherweise missbräuchliche) Normsetzungen, die die gesamte Lebenspraxis betreffen.

Hier setzt das lebhafte Interesse kultureller Diskurse über Gesundheit und Krankheit an, auch in der Literatur und ihrer Kritik. Kaum ein anderes Begriffspaar ist so hochgradig mit normativen Implikationen besetzt, und das umso wirksamer, als diese oft vorbewusst bleiben. Mit den Begriffen und um die Begriffe „gesund“ und „krank“ wird zwischen Goethezeit und Gegenwart nicht zuletzt auch deshalb so heftig gerungen, weil es in ihnen um höchste Werte säkularisierter Kulturen geht, um das diesseitige Heil und Glück einzelner, sozialer Gruppen oder der ganzen Gattung Mensch, und weil die kulturellen Vorstellungen über Genese, Symptomatik und Therapie von Krankheiten über die individuellen Verhaltensweisen und sozialen Verhältnisse bestimmen, die dem Heil und Glück förderlich oder abträglich sind.

Das literarische Interesse an Krankheit bleibt auch da, wo es sich ähnlich der positivistischen Medizin von moralistischen Vorstellungen lossagt, weiterhin auf Fragestellungen konzentriert, denen es um geltende oder gewünschte soziale Normen und Werte geht. Büchners „Lenz“ mag dafür als Beispiel stehen, zumal sich in dieser Erzählung bereits charakteristische Merkmale literarisch „moderner“ Umgangsformen mit Krankheit abzeichnen.

Man hat diese „Modernität“ häufig auf Büchners medizinisch-naturwissenschaftliche Ausbildung zurückgeführt und die Erzählung, gerade auch von psychiatrischer Seite, als exakte und detaillierte Fallgeschichte, als „eine frühe Schizophreniestudie“ bewundert. Von Wissenschaftlichkeit im Sinne der empiristischen Psychiatrie des 19. Jahrhunderts kann jedoch bei dieser literarischen Krankheitsgeschichte kaum die Rede sein, zumal Büchner auch als Mediziner der goethezeitlichen Naturphilosophie noch keineswegs ganz den Rücken gekehrt hatte. Die Sprache dieser Psychiatrie hält objektivierende Distanz zu ihrem Gegenstand, ihre Sprache über den Wahnsinn ist scharf geschieden von der Sprache des Wahnsinns selbst. Büchners Erzählung hingegen sucht die Nähe zu dem Kranken, die Sprache dieser Dichtung versucht über weite Strecken, der Eigenart wahnsinnigen Fühlens und Sprechens zu folgen, indem der Erzähler die Perspektive des Kranken einnimmt. Gerade darin, dass Büchners Erzählweise sich von dem pathologischen Sujet affizieren läßt, liegt, zumindest in poetologiegeschichtlicher Hinsicht, ein entscheidender Aspekt ihrer Modernität. Wenn manche Interpreten den „Lenz“ dennoch als eine quasi medizinische Pathographie lesen konnten, liegt das auch daran, dass Büchner dort, wo er die Instanz eines auktorialen Erzählers sprechen lässt, mit ausdrücklichen Erklärungen und Bewertungen des Geschehens äußerst zurückhaltend ist und scheinbar eine dokumentarische Neutralität einnimmt. Allein schon dieses Erzählprinzip verbietet es ihm, die moralistische Perspektive Oberlins zu übernehmen, hatte er doch schon zur Rechtfertigung des „Danton“ kategorisch erklärt: „Der Dichter ist kein Lehrer der Moral“, und lässt er doch seinen Lenz gegen die idealistische Ästhetik programmatisch den Dichter hochschätzen, der „die Natur am Wirklichsten gibt“. Dennoch ist die Krankheitsgeschichte keineswegs frei von wertsetzenden Annahmen über die Pathogenese des psychischen Zustands, an dem Lenz leidet und der das Mitleid des Lesers evoziert. Sie werden zwar nicht ausdrücklich formuliert, sind jedoch vor allem dem Arrangement der Handlungselemente durchaus zu entnehmen. Sogar jene Sätze, mit denen Oberlin die Melancholie seines Patienten auf moralisches Fehlverhalten zurückführt, bleiben in Büchners Erzählung, obwohl sie nicht wörtlich übernommen wurden, von zentraler Bedeutung – einer Bedeutung freilich, die Oberlins Wertmaßstäbe in ihr Gegenteil verkehrt.

Das Krankheitsgeschehen in Büchners Erzählung ist gekennzeichnet durch den wiederholten Wechsel zwischen psychischen Stabilisierungs- und Destabilisierungsphasen, zwischen Zuständen ruhiger und heiterer Lebendigkeit auf der einen, von Angst, Verzweiflung und innerer Erstarrung auf der anderen Seite. Die oft abrupten Umschläge in der psychischen Befindlichkeit werden zwar nicht erklärt, erscheinen aber auch selten ganz unmotiviert; die jeweils vorausgehenden Ereignisse machen sie psychologisch verständlich. Der Erzähler lässt den Leser wissen, was auf Lenz „wohltätig“ wirkt und was ihn krank macht. Im Steintal findet er zunächst eine heile und heilsame Welt vor. In ihr ist noch etwas von der vertrauten Einheit des einzelnen mit der sozialen Gemeinschaft, mit der Natur und mit Gott erfahrbar. Das Pfarrhaus wird ihm gleich nach der Ankunft zu einem Ort familiärer Geborgenheit: „er war gleich zu Haus, […] er wurde ruhig“. Als er aber von der Familie getrennt im Schulhaus übernachten muss, erfasst ihn panische Angst. Am anderen Tag wiederum erfährt Lenz als Begleiter Oberlins, was es heißt, sozial integriert und anerkannt sowie im Einklang mit der Natur und mit Gott zu leben. Bald wird er auch in den Nächten ruhiger.

Als wesentliche Voraussetzung für Lenz‘ psychisches Wohlbefinden im Steintal hat Büchner die Abgeschiedenheit dieser zunächst heil erscheinenden Welt von jener anderen herausgearbeitet, aus der der Kranke kam und in der er krank wurde. Im Steintal weiß man nichts von seiner Vergangenheit und fragt man nicht nach seiner Zukunft; man akzeptiert ihn so, wie er augenblicklich ist, und das erscheint ihm selbst als Bedingung neuen Glücks. „Oberlin wußte von Allem nichts; er hatte ihn aufgenommen, gepflegt; er sah es als eine Schickung Gottes, der den Unglücklichen ihm zugesandt hätte, er liebte ihn herzlich. Auch war es Allen notwendig, daß er da war, er gehörte zu ihnen, als wäre er schon längst da, und Niemand frug, woher er gekommen und wohin er gehen werde.“ Die Situation ändert sich von Grund auf und für Lenz mit zunehmend katastrophalen Folgen, als Kaufmann in das Steintal kommt: „Lenzen war Anfangs das Zusammentreffen unangenehm, er hatte sich so ein Plätzchen zurechtgemacht, das bißchen Ruhe war ihm so kostbar und jetzt kam ihm Jemand entgegen, der ihn an so vieles erinnerte, mit dem er sprechen, reden mußte, der seine Verhältnisse kannte.“ Mit dem unheilvollen Erscheinen Kaufmanns ist die Trennung der beiden Welten aufgehoben. Die Normen und Ansprüche der einen trägt er in die andere hinein, und diese haben für Lenz offensichtlich eine traumatische Bedeutung: „Nach dem Essen nahm ihn Kaufmann bei Seite. Er hatte Briefe von Lenzens Vater erhalten, sein Sohn sollte zurück, ihn unterstützen. Kaufmann sagte ihm, wie er sein Leben hier verschleudre, unnütz verliere, er solle sich ein Ziel stecken und dergleichen mehr. Lenz fuhr ihn an: ‚Hier weg, weg! nach Haus? Toll werden dort?’“ Lenz weiß, was ihn gänzlich wahnsinnig machen könnte, und der Erzähler stellt dieses Wissen nicht in Frage. Schon mit der gequälten Heftigkeit seiner Reaktion („ich würde toll! toll! Laßt mich doch in Ruhe! Nur ein bißchen Ruhe, jetzt wo es mir ein wenig wohl wird!“) zeigt er ihn im Recht. Allein die Konfrontation mit Kaufmann, der doch kaum mehr als ein Übermittler väterlicher Forderungen ist, stört sein psychisches Gleichgewicht nachhaltig. Als Oberlin nach seiner Rückkehr aus der Schweiz, mittlerweile informiert über das Vorleben seines Patienten, diesen wie zuvor Kaufmann dazu ermahnt, „sich in den Wunsch seines Vaters zu fügen“, und zu ihm sagt: „Ehre Vater und Mutter“ („und dergleichen mehr“, fügt der Erzähler in abschätzigem Ton hinzu), reagiert der eben noch heiter Gestimmte wiederum mit „heftige[r] Unruhe“, Tränen und „abgebrochen“ artikulierten Sätzen.

Der Erzähler rückt sowohl Kaufmann als auch Oberlin mit diesen Szenen in ein zweifelhaftes Licht. In dem Maße, in dem Oberlin mit Kaufmann die Welt des Vaters gegenüber Lenz vertritt, verliert er, was anfangs dem Kranken so heilsam war: die Fähigkeit des liebenden Verstehens, die Büchner selbst mit seiner Erzählung bezeugte und die er mit seiner Titelfigur der Kunst programmatisch abforderte: „Man muß die Menschheit lieben, um in das eigentümliche Wesen jedes einzudringen, es darf einem keiner zu gering, keiner zu häßlich sein, erst dann kann man sie verstehen“. Weit stärker noch als später Oberlin geht Kaufmann diese Fähigkeit des liebenden Verstehens ab. Sein Moralismus steht ihr entgegen. Büchner hat den Wortlaut des Gesprächs zwischen Kaufmann und Lenz nicht dem Oberlin-Bericht entnommen, sondern in allen Einzelheiten erfunden. Dennoch knüpft der Dialog an den Bericht an, und zwar an eben jene Sätze, mit denen der Pfarrer die „Schwermut“ seines Patienten als Folge normwidriger Verhaltensweisen erklärte. Büchner hat diese Sätze nicht einfach weggelassen, sondern ihre Moral in dieses Gespräch transformiert. Oberlins Erklärung der „Anfälle“ des Kranken aus dem Ungehorsam gegenüber dem Vater überführt die Erzählung in die Forderung Kaufmanns, Lenz solle zum Vater zurückkehren und ihn unterstützen. Und Oberlins erklärender Hinweis auf die „herumschweifende Lebensart“ des Kranken und seine „unzweckmäßigen Beschäftigungen“ wird zum Vorwurf Kaufmanns, dass Lenz „sein Leben hier verschleudre, unnütz verliere“, und zur Aufforderung, „er solle sich ein Ziel stecken“ („und dergleichen“, fügt auch hier schon der Erzähler distanziert hinzu, um die Phrasenhaftigkeit solcher Rede zu kennzeichnen). Die Pointe dieser Transformierung liegt darin, dass diejenigen Normen, deren Missachtung in der Perspektive des Oberlin-Berichtes krank macht und deren Einhaltung Gesundheit verspricht, in der Optik des Büchnerschen Textes selbst als pathogen erscheinen. Sie werden damit völlig umgewertet.

Die Logik normvermittelnder Argumentation bleibt bei Büchner die gleiche, die Norminhalte freilich werden in ihr Gegenteil verkehrt. Die in der Welt des Vaters geltenden Prinzipien der Nützlichkeit und Zweckorientiertheit menschlichen Verhaltens erscheinen alles andere als geeignet, das „Wohl“ von Lenz zu fördern. Lenz (und mit ihm Büchner) postuliert jedoch eine Art Grundrecht auf individuelles Wohlbefinden, und er macht es zur Basis seiner Argumentation gegen Fundamente einer Leistungsethik, die gegenwärtige Bedürfnisse zugunsten späterer Gratifikationen zurückzustellen fordert: „Immer steigen, ringen und so in Ewigkeit Alles, was der Augenblick gibt, wegwerfen und immer darben, um einmal zu genießen; dürsten, während einem helle Quellen über den Weg springen. Es ist mir jetzt erträglich, und da will ich bleiben; warum? warum? Eben weil mir wohl ist“.

Wohlbefinden bzw. Gesundheit waren schon für einen aufgeklärten Moralisten wie Oberlin Werte, mit denen er die von ihm vertretenen Normen rechtfertigen konnte. Für Büchner behalten diese Werte ihre Gültigkeit, doch begründet er mit ihnen nun die Kritik an eben jenen Normen. Die Logik der normsetzenden Argumentation bleibt trotz wechselnder Inhalte gleich; nur in einem Bestandteil wird sie modifiziert, und auch darin ist „Lenz“ beispielgebend für die Literatur der Moderne bis hin zur Gegenwart. Der aufgeklärte Moralismus tendierte dazu, den Kranken mit Schuldzuweisungen für normwidriges Verhalten zu belasten, die Ursache der Krankheit in ihm selbst zu suchen; die Moderne hingegen neigt dazu, das kranke Individuum zu exkulpieren, die Ursachen seiner Krankheit in sozialen Verhältnissen oder kulturellen Normen zu lokalisieren und statt den Kranken diese zu belasten. Büchners Krankheitsgeschichte auf die Kritik sozialer Verhältnisse und Normen zu reduzieren, die vom Vater des Kranken, von Kaufmann und gegen Ende auch von Oberlin repräsentiert werden, oder sie gar als einen frühen Beitrag zum Thema Kapitalismus und Schizophrenie zu lesen, mag den Stellenwert des Gesprächs zwischen Kaufmann und Lenz überschätzen, andere Bedeutungsebenen des Textes übersehen und gegenwärtig verbreitete Perspektiven in der kulturkritischen Auseinandersetzung mit psychischen Krankheiten auf den Text projizieren. Aber das Interesse, das Büchners „Lenz“ unter solchen Gesichtspunkten in den vergangenen Jahren auf sich ziehen konnte, beruht nicht lediglich auf Missverständnissen. In „Lenz“ ist eine ‚moderne’ Variante normvermittelnder Logik in Diskursen über Gesundheit und Krankheit zumindest im Ansatz paradigmatisch präformiert. Sie folgt nicht mehr dem Schema: ‚Bestimmte Verhaltensweisen machen krank, vermeide diese also!’, sondern kollektiviert es in der Weise, dass nicht mehr vorrangig das Individuum, sondern soziale Lebensformen und kulturelle Normen für die Krankheiten des einzelnen haftbar gemacht und als veränderungsbedürftig hingestellt werden: ‚Bestimmte Verhältnisse machen krank, diese sind also zu verändern!’

In Büchners „Lenz“ deutet sich damit ein Perspektivenwechsel in der Literaturgeschichte normvermittelnder Diskurse über Gesundheit und Krankheit von der Art an, wie er im Hinblick auf epidemiologische Forschungen im 20. Jahrhundert und auf die dort statistisch belegten Korrelationen zwischen „der Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe und der Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten“ von dem Medizinhistoriker Paul Ulrich Unschuld folgendermaßen beschrieben wurde: „Zum ersten Mal ist damit nicht mehr der Kranke selbst an seinem Zustand schuld, etwa weil er gesündigt hat, wie es zahlreiche religiös fundierte Konzepte besagten, oder weil er gegen gesellschaftliche Normen verstoßen hatte, wie es in weltlichen Sozialtheorien fundierte Konzepte besagten; die Gesunden, die Privilegierten trifft nun die Verantwortung, die Schuld! Nicht der Kranke muß seinen Lebensstil ändern, um zu gesunden, die Gesunden müssen ihren Lebensstil ändern, um den ‘Benachteiligten’ zur ‘Gesundung’ zu verhelfen.“

Krankheiten können unter solchen Gesichtspunkten der Anklage gegen soziale Normen dienen, die als pathogen gelten, und den Appell legitimieren, sie durch andere, ‚gesündere’ zu ersetzen. Mit diesem Perspektivenwechsel, der sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts durchzusetzen beginnt, geht vielfach eine veränderte Einstellung zu wesentlichen Bestandteilen bürgerlicher Wertvorstellungen einher. Diese gelten nun nicht mehr als naturgemäße Garanten der Gesundheit, sondern als naturwidrige Produzenten von Krankheit. Die Natur bleibt normsetzende Instanz, die mit Krankheit sanktioniert, was ihrem Willen entgegensteht. Die dominierenden Vorstellungen darüber freilich, was den Gesetzen der Natur gemäß und damit der Gesundheit des Menschen förderlich ist, wandeln sich innerhalb eines Jahrhunderts fundamental. Der allenthalben hochgewertete Begriff der „Natur“ (oder auch der des „Lebens“) fungiert als Leerformel, die sich mit verschiedensten Norminhalten füllen lässt. Diese gewinnen dadurch die Aura unumstößlicher Autorität. Dass die Prinzipien aufgeklärter Moral in der (gottgegebenen) Natur des Menschen gründen, daran besteht für einen aufgeklärten Geist von der Art Oberlins oder auch Hufelands kein Zweifel. Auf die Natur des Menschen beruft sich indes auch Büchners Kritik eben dieser Moral.

Der Beitrag übernimmt Teile aus Thomas Anz: Gesund oder krank? Medizin, Moral und Ästhetik in der deutschen Gegenwartsliteratur. Stuttgart: Metzler 1989.