Die Erfüllung des patriarchalischen Übersolls

Über einen würdigen Festakt zum Tag der deutschen Männersprache

Von Luise F. PuschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Luise F. Pusch

An jedem zweiten Samstag im September feiern wir den Tag der deutschen Sprache. Ich wusste davon bis zu jenem Samstag nichts, hielt mich aber an diesem Tag zufällig in Köthen auf, und dort ist der Sitz der Neuen Fruchtbringenden Gesellschaft, einer „Vereinigung zur Pflege der deutschen Sprache“. Den barocken Namen verdankt die Gesellschaft ihrer Vorgängerin, die im Jahre 1617, also vor bald 400 Jahren, nach dem Vorbild der italienischen Accademia della Crusca unter Mitwirkung des Fürsten Ludwig von Anhalt-Köthen gegründet wurde.

Die Neue Fruchtbringende Gesellschaft beging den Tag der deutschen Sprache würdig mit einem Festakt. Die PreisträgerInnen des Schreibwettbewerbs „Schöne deutsche Sprache“ für Schülerinnen und Schüler waren aus allen Teilen Deutschlands und sogar aus Südtirol herbeigeeilt, um sich feiern zu lassen und ihre Preise entgegenzunehmen.

Meine Geschwister und ich machen jedes Jahr im September eine kleine Reise zur Pflege unserer Geschwisterlichkeit; diesmal ging es nach Dessau ins Bauhaus und nach Köthen auf den Spuren Johann Sebastian Bachs und Samuel Hahnemanns. Wir tranken gerade vor dem Köthener Schloss unseren Milchkaffee, da fiel mir ein großes Schild in die Augen, das den Festakt ankündigte. In einer Viertelstunde sollte er beginnen, der Eingang zu der Veranstaltung war gleich neben dem Café. Kurzentschlossen verabschiedete ich mich von meinen Geschwistern und ließ sie allein zu den Bach- und Hahnemann-Ausstellungen ins Historische Museum pilgern. Ich wollte wissen, was die jugendlichen PreisträgerInnen über die „Schöne deutsche Sprache“ zu sagen hätten.

Das Veranstaltungszentrum in Köthen besitzt mehrere Säle, der größte heißt Johann-Sebastian-Bach-Saal, der zweitgrößte Wilhelm-Friedemann-Bach-Saal. Der Sprach-Festakt fand in einem kleineren Saal statt, der Anna-Magdalena-Bach-Saal heißt. Der kleinste Saal ist Maria Barbara Bach gewidmet. Dabei ist Maria Barbara Bach, Johann Sebastians erste Frau, von den Vieren, nach denen die Säle benannt sind, die einzige, die in Köthen begraben liegt.

Der Anna-Magdalena-Bach-Saal war voll besetzt; ich schlüpfte als eine der Letzten hinein und fand noch einen Platz in der Mitte, nahe der Tür.

Der Festakt begann mit einer musikalischen Darbietung des Chors des Köthener Ludwigsgymnasiums. Es war ein großer Chor, etwa 30-40 Personen, schätze ich, marschierten da an mir vorbei nach vorne. Knaben- und Männerstimmen gab es vielleicht 5-10.

Alsdann sprach der Oberbürgermeister der Stadt ein paar Grußworte. Er sagte, die Veranstaltung habe den Sponsoren – nein, dies Wort wolle er hier lieber nicht wählen – habe also den Unterstützern viel zu danken. Danach sprach die Vorsitzende der Neuen Fruchtbringenden Gesellschaft, Frau Professorin Doktorin Uta Seewald-Heeg. Diese feminine Betitelung wird ihr nicht gefallen, denn das Femininum ist ihr offenbar fremd. Während der Rede des Oberbürgermeisters hatte ich in dem Veranstaltungsheft geblättert und daraus entnommen, dass die „Preisträger“ fast ausnahmslos Preisträgerinnen waren: Unter den 13 PreisträgerInnen waren nur zwei Jungen. Dennoch sprach Frau Professorin nur von Preisträgern.

Dann redete der Staatssekretär des Kultusministeriums Dr. Jan Hofmann. Er war der einzige bei dieser Feierstunde zu Ehren der deutschen Sprache, der sich einer gerechten Sprache befleißigte. Es war diesem Publikum vielleicht egal, aber immerhin, es war Wahlkampfzeit, und da sprechen inzwischen fast alle PolitikerInnen streng geschlechtergerecht.

Danach durften neun Preisträgerinnen und zwei Preisträger ihre preisgekrönten Texte verlesen und ihre Preise in Empfang nehmen. Die Einführung und Vorstellung der Einzelnen übernahm jeweils Frau Brzezek, die Vorsitzende des Preisgerichts. Liebevoll und enthusiastisch widmete sie sich dieser Aufgabe, aber auch ihr kam kaum mal ein Femininum über die Lippen. Selbst rein weibliche Dreiergrüppchen von Preisträgerinnen, die sie nach vorn bat, waren für sie „Preisträger“.

Die deutsche Sprache ist zwar eine Männersprache, aber die Vermännlichung rein weiblicher Gruppen sieht nicht einmal ihre Grammatik vor. Vielmehr ist das ungrammatisch. Ich nenne es „die Erfüllung des patriarchalischen Übersolls“ wie in dem klassischen Beispiel „Die Menstruation ist bei jedem ein bißchen anders“. Diesem Übersoll waren sowohl die Vorsitzende der Fruchtbringenden Gesellschaft als auch die Vorsitzende des Preisgerichts (neun Frauen, acht Männer) strengstens verpflichtet.

Über 500 Texte waren eingesandt worden – ich habe noch nicht herausgefunden, ob fast ausschließlich Mädchen und junge Frauen sich an dem Wettbewerb beteiligt haben oder ob die Teilnahme paritätisch und die Mädchen/jungen Frauen einfach besser waren. Ich werde dem nachgehen. Seltsam war jedenfalls, dass die geschlechtermäßig völlig unausgeglichene Leistungsbilanz gar nicht thematisiert wurde.

Zum Schluss gab es noch eine Darbietung der Tanzgruppe des Ludwigsgymnasiums Köthen. Wieder war die Bühne übervoll – allerdings gab es leider keine Bühne, nicht einmal ein Podest. Und so sah ich denn von den Tanzenden nur die Köpfe auf und abwippen, manchmal flogen auch Arme hoch. Auch von den Preisträgerinnen hatte ich nur hier und da mal kurz den Haarschopf wahrnehmen können, und ich saß immerhin in der Mitte. Wie mag es erst den hinter mir Sitzenden ergangen sein, den stolz mit angereisten Eltern??

Die miese Ausstattung passte irgendwie zu Anna Magdalena, sie starb bekanntlich in bitterer Armut.

Übrigens war die Tanzgruppe reichlich und rein weiblich besetzt. Kein einziger Junge schwang da sein Tanzbein.

Zwischenfazit: Die ganze Veranstaltung wurde fast ausschließlich von Mädchen und Frauen bestritten. Etwa drei Prozent der Beteiligten mögen Knaben gewesen sein. Dieser verschwindenden Minderheit zu Ehren wurde aber dauernd das Maskulinum verwendet, besonders eifrig von den leitenden Frauen selber, die es doch eigentlich hätten besser wissen müssen. Oder vielleicht gerade nicht? Sprachpflege ist ja oft ein sehr konservatives Anliegen: Meist soll die eigene Sprache vor fremden Einflüssen, sogenannten Verunreinigungen, beschützt oder gar vor ihnen “gerettet” werden.

Und auch die feministische Sprachkritik ist in sprachpflegerischen Kreisen eher verpönt. Auf dem Tisch vor dem Anna-Magdalena-Bach-Saal lagen kostenlose Broschüren zum Mitnehmen, darunter auch die Sommerausgabe des Blattes „Deutsche Sprachwelt“. Leitartikel war „Neusprech? Nein danke!“ – eine Polemik gegen das generische Femininum, die in dem Vorwurf gipfelte: „Die Sprache soll nicht mehr die Wirklichkeit abbilden, sondern eine geschlechtergerechte Scheinwelt schaffen.“

Diese Gefahr der Schaffung einer „geschlechtergerechten Scheinwelt“ bestand bei der Preisverleihung nun wirklich nicht. Vielmehr wurde mittels der herrkömmlichen Männersprache eine Schein-Männerwelt geschaffen, die die unbestreitbare weibliche Wirklichkeit (Überlegenheit?) sprachlich auslöschte.

Kommen wir abschließend zu der Preisaufgabe und den preisgekrönten Texten. Als Thema war ausgeschrieben worden „Mein schönster Wortschatz“. Diese Aufgabe ist schwer zu verstehen. „Mein Wortschatz“ – das ist die Gesamtheit der Worte, die ich kenne. Da ich nur eine solche „Gesamtheit“ habe, kann es „meinen schönsten Wortschatz“ eigentlich nicht geben. Die Preisträgerinnen bogen sich deshalb die Aufgabe so zurecht, dass sie wenigstens lösbar war. Die meisten behandelten das Thema „Meine liebsten Wörter“, andere inszenierten einen Wettkampf zwischen Wörtern oder Wortarten. Diejenigen, die das Thema zum Wettkampf umfunktionierten, waren interessanterweise die beiden männlichen Teilnehmer. Den Mädchen war eher nicht nach Kämpfen, sondern mehr nach Feiern zumute, nach dem Motto „Schöne deutsche Sprache, schöner deutscher Wortschatz“.

Die einzige, die sich direkt mit der Widersinnigkeit der Aufgabenstellung auseinandersetzte, war Viktoria Horn. Sie beginnt mit dem Satz: „Jeder Mensch trägt einen anderen Wortschatz mit sich herum. Anders gesagt, es gibt etwa 7 Milliarden verschiedene Wortschätze auf der Welt zu entdecken …“. Nach weiteren klugen Überlegungen macht sie uns mit dem Wort „Kassentransportbandübersichtstrennholz“ bekannt und erläutert, das sei die Bezeichnung für das Brettchen, das die Waren an der Ladenkasse übersichtlich trennt. Sie fügt hinzu: „Im Moment ist es … mein schönster Wortschatz. Warum? Weil dieses Wort einen so unbedeutenden und unscheinbaren Gegenstand beschreibt, diesem aber trotzdem einen so großen Platz in der deutschen Sprache zuspricht. Die deutsche Sprache ist sozial.“

Und Viktoria Horn ist intelligent und witzig. Aus ihr könnte einmal eine gute Linguistin werden. Von mir hätte sie den ersten Preis bekommen. Leider bekam sie nur den zweiten. Aber das ist bei einer so durchwachsenen Veranstaltung vielleicht auch gerade gut so.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag gehört zu Luise F. Puschs Glossen „Laut & Luise“, die seit Februar 2012 in unregelmäßigen Abständen bei literaturkritik.de erscheinen.