Das Leben hat schon längst begonnen

Über Florian Bergmeiers Roman „Wo all das hier nicht ist“

Von Heike HaufRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heike Hauf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Valentin, ein junger Mann, kommt nach einem Drogenentzug im Taunus zurück nach Hamburg. Eigentlich will er dort nur seine Wohnung auflösen und sich endlich seinem Jugendfreund Manuel anschließen und in Frankreich ein neues Leben beginnen. Doch in seiner Post befindet sich die Nachricht eines amerikanischen Notars, die ihm den Tod seines Vaters mitteilt. Unverhofft kommt damit eine größere Erbschaft auf ihn zu.

Nach dem Debüt „Nosig“ (1999) und „Gänsebucht“ (2007) ist dies Florian Bergmeiers dritter Roman. Wie die vorausgegangenen beschreibt auch der vorliegende die Hoffnung auf Befreiung durch die subjektive Verarbeitung der Vergangenheit und damit eine neu ausgerichtete Zukunft. Auch wenn der Protagonist dieses Mal nicht im Flugverkehr, sondern bei einer Versicherungsgesellschaft für Frachtschiffe beschäftigt ist, zieht es ihn in die Ferne.

Nachdem der Icherzähler seine Wohnung aufgelöst und in New York die rätselhafte Erbschaft entgegengenommen hat, reist er weiter nach Manila. Hier ist er aufgewachsen. Auf der Suche nach einer geeigneten Organisation, der er das hinterlassene Geld spenden kann, beobachtet er den von Armut, Prostitution und Gewalt geprägten Alltag Manilas.

In Rückblenden erinnert sich Valentin an seine Kindheit in Manila. In schlaglichtartigen Szenen aus der Sicht eines Kindes, das einem gewalttätigen Vater ausgesetzt war, wird hier ein grundlegendes Trauma deutlich. Weder die mitleidlose Mutter noch die rücksichtslose Schwester schützten den Jungen. Nur der kleine Bruder verkörpert das Inbild der Unschuld.

Von den unglücklichen Familienverhältnissen geprägt, gerät Valentin in seinen späteren Beziehungen in ungewollte Opferrollen, in denen er sich gedemütigt und einsam fühlt. Auf der Flucht vor der äußeren Welt und den damit verbundenen Selbstverleugnungen taucht er schließlich tief in den Rausch ab. Von billigen Straßendrogen bis zu exklusiven Events. Und es scheint, dass er sich erst kurz vor seinem Totalabsturz in die Entzugsklinik einweisen lässt. Von nun an nimmt er selbst das Heft in die Hand.

In den Romanen dieser Sommersaison wurde unter anderem um die Welt geflogen, als ob es kein Morgen gäbe, auf höchste Berge gestiegen, um die eigenen Grenzen zu testen. Es wird Hab und Gut verschenkt, bis nur noch der eigene Körper der Selbstauslöschung im Weg steht. Zurück ins Leben werden die Helden nur durch die Liebe befördert.

Auch dieser Protagonist muss erst der werden, der er ist. Aber das Leben hat schon längst begonnen. In Bergmeiers Roman sind große Abschnitte verwoben, die Aufklärung zum Thema Gewalt und Sexualdelikte geben. Auf der psychologischen Ebene erfährt der Leser, wie es innerhalb einer Familie zu Unterdrückung und folterähnlichen Szenen kommen kann. Aber auch bezüglich der Realität auf den Philippinen, wo der Autor selbst gelebt hat: Drogen, Kinderprostitution, Armut, Gewalt in einem Geflecht von Familie, staatlicher Korruption und Massentourismus, aus dem es schwerlich ein Entkommen gibt. „Es gebe Mädchen mit inneren Verletzungen, offensichtlich mehrfach vergewaltigt, voller Drogen, schwanger – und trotzdem felsenfest davon überzeugt, dass ihnen nichts wirklich Schlimmes passiert sei, davon überzeugt, dass alles normal sei. Und sie verdrängten schließlich, nach dem Motto ‚life goes on‘. Aber die Mädchen, so Sister Estrelia weiter, müssten sich zunächst an ihre Vergangenheit erinnern, um sie wirklich vergessen zu können, sonst würden die Schatten sie ein Leben lang verfolgen. Das sei, wie ich mir vorstellen könne, ein Luxus, den sie den ‚special children‘ leider nicht bieten könnten. Die meisten von ihnen seien zu stark behindert, geistig wie körperlich, viele mit Down-Syndrom, um sich verständlich zu machen. Eine Therapie mache das natürlich so gut wie unmöglich, da helfe nur ‚love, love, love‘.“

Dabei schafft es Bergmeier, auch die Anmut von absoluter Unschuld in Form des kleinen Bruders so anschaulich zu beschreiben, dass dessen Verlust für den Protagonisten umso schmerzlicher und bösartiger hervortritt. „Seine Wimpern blinzeln, am liebsten würdest du dort hineinspringen, wo er gerade ist, willst dort schwimmen und fliegen und Loopings mit ihm drehen und Pirouetten. Dann ist er schon eingeschlafen, hat alles in seinen Schlaf mitgenommen, es gibt keinen Unterschied für ihn, er weiß, wenn er die Augen wieder öffnet, ist alles noch genauso wie vorher. Seine langen Wimpern, wie sanft, denkst du dir, wie kann nur ein Mensch so etwas Sanftes haben wie diese Wimpern, von denen der Bruder gar nichts weiß. Du willst von ihm alles wissen, ob es dort, wo er jetzt gerade ist, so aussieht wie vor seiner Geburt, du willst unbedingt wissen, wie es da aussieht, weil du dir sicher bist, dass er das alles weiß, so ruhig und vertraut und in sich ist er, in sich, in einer ganz anderen Welt, und seine Wimpern, jede einzelne, sind vielleicht das größte Wunder.“

Aussteigen aus der Gewaltspirale, ohne in die Denkmuster von Gut und Böse zu verfallen, ist eine Kunst. Aus einem durch die elterliche Gewalt konstituierten Masochismus hilft nur das Hinsehen auf einen größtmöglichen Teil der Wahrheit. Die Frage, ob er glücklicher ist, wenn er dort ist, „wo all das hier nicht ist“ – im Rausch zum Beispiel, stellt sich Valentin dann nicht mehr. Mit welchem Trick er der Falle ohne Liebesjoker entkommt, bleibt nachzulesen in diesem sprachlich überzeugenden Roman mit einem sympathischen Helden.

Titelbild

Florian Bergmeier: Wo all das hier nicht ist. Roman.
Elfenbein Verlag, Berlin 2013.
207 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783941184213

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