Die Revision dessen, was wir glaubten verstanden zu haben

Schleiermachers Hermeneutik heute – Betrachtungen anlässlich einer Neuedition

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist auffällig still geworden um die Hermeneutik und ihre Geschichte. Die Methodendebatten scheinen fürs erste beendet. Der Poststrukturalismus schreckt niemanden mehr; die Kontroverse, die in den 1980er-Jahren zwischen Hans-Georg Gadamer und Jacques Derrida geführt wurde und die zahllose Gegenüberstellungen von Hermeneutik und Dekonstruktion zur Folge hatte, teils mit heftigen Invektiven der Adepten, ist wohl nur noch wissenschaftshistorisch von Interesse. Der Theorie- und Methodenpluralismus ist längst sprichwörtlich, man hat sich mit ein bisschen Niklas Luhmann, ein wenig Pierre Bourdieu, einem Standardset Roland Barthes, Michel Foucault und Stephen Greenblatt, wahlweise auch mit Judith Butler, Jacques Lacan oder Julia Kristeva ganz behaglich eingerichtet. All diese Namen (und noch einige mehr) gelten unkontrovers als Klassiker der modernen Literaturtheorie, und mit ihrem Dasein als Klassiker ist ihnen einiges von ihrem Provokationspotential genommen worden.

In dieser Situation scheint es anachronistisch, aber gerade deswegen vielleicht besonders reizvoll, an einen Klassiker zu erinnern, der einer ganz anderen Zeit entstammt. Friedrich Schleiermacher (1768-1834) wird üblicherweise nicht auf dem Hochaltar der Literaturtheorie verehrt. Dennoch ist er ohne Zweifel einer der bedeutendsten und folgenreichsten Denker für unseren Umgang mit Texten. Die unlängst im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe von Schleiermachers Schriften erschienenen Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik sind Anlass, dieser klassischen Theorie einige Bemerkungen zu widmen.

Die Hermeneutik als Theorie und Praxis der Textauslegung und als Kunstlehre des Verstehens ist sicherlich keine genuine Errungenschaft des Deutschen Idealismus, kann sie doch auf eine Jahrtausende alte Tradition verweisen. Allerdings wird die Zeit um 1800 als entscheidende Wende auf dem Weg zu einer modernen, wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Hermeneutik angesehen. Dem Theologen, Philosophen und Philologen Schleiermacher kommt in dieser Entwicklung die Hauptrolle zu. Zugeschrieben wurde ihm diese Rolle vor allem von Wilhelm Dilthey, der das Schleiermacher-Bild maßgeblich prägte. In seinem für die Geschichtsschreibung der Hermeneutik äußerst folgenreichen Aufsatz „Die Entstehung der Hermeneutik“ von 1900 führt er aus, erst Schleiermacher sei „die definitive Begründung einer wissenschaftlichen Hermeneutik“[1] gelungen.

Schleiermacher wird seither als Begründer der modernen Hermeneutik gesehen. Diese Deutungen schaffen selbst das Faktum, das sie behaupten. Schleiermachers Theorie wird zum ‚Wendepunkt‘ in der Geschichte der Hermeneutik, indem sie für sämtliche späteren hermeneutischen Theorien die erste historische Referenz ist. Die von der Rezeptionsgeschichte festgeschriebene beispiellose Stellung Schleiermachers gründe sich auf zwei Pionierleistungen: Deren eine bestehe darin, zum ersten Mal eine allgemeine Hermeneutik als Begründung der vielen vorhandenen juristischen, theologischen und philologischen Spezialhermeneutiken vorgelegt zu haben. Zum anderen habe Schleiermacher erstmals, wie es bei Dilthey heißt, eine „Analysis des Verstehens“[2] geleistet, was gleichbedeutend mit einer transzendentalen Wende in der Geschichte der Hermeneutik sei. Bei beiden Leistungen ist allerdings, die jüngere Forschung hat darauf hingewiesen, Vorsicht geboten. Eine theoretische Fundierung der Hermeneutik durch eine Bestimmung des Verstehensbegriffs hat Schleiermacher nicht ausgeführt. Wohl aber geht aus seinen Überlegungen nur zu deutlich hervor, dass ihm das Verstehen zum Problem wurde. Hermeneutik sei „die Kunst, sich in den Besitz aller Bedingungen des Verstehens zu setzen“[3] – das Verstehen beruhe mithin auf Bedingungen, die erst erfüllt werden müssen, was als unendliche Aufgabe anzusehen sei. Schleiermachers Auslegungslehre ist eine methodische Reflexion über die praktischen Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens.

Auch die Leistung der erstmaligen Begründung einer allgemeinen Hermeneutik ist strittig. Schleiermacher entwickelt seine Auslegungslehre ausdrücklich in Hinsicht auf den Umgang mit dem Neuen Testament. Doch mit der Formulierung spezieller Anwendungsregeln könne die Hermeneutik nicht beginnen, „sondern wir müssen auf die allgemeinen Principien zurückgehn“[4]. Schleiermacher ist um eine allgemeine Hermeneutik als theoretisches Fundament bemüht, auf dem jede Einzeldisziplin, die mit der Exegese von Schriften beschäftigt ist, aufbauen kann und muss. Allerdings klammert er bei seinen Bemühungen um eine allgemeine Hermeneutik zu weiten Teilen frühere Hermeneutiken vornehmlich der Aufklärungszeit aus, die ebenfalls den Anspruch der Grundlegung einer allgemeinen Auslegungslehre erhoben. Er hat sich außerdem wiederholt auf direkte Vorläufer wie Friedrich August Wolf und Friedrich Ast bezogen. Seit Josef Körner wurde auch immer wieder nach dem Verwandtschafts- oder gar Abhängigkeitsverhältnis von Schleiermachers Hermeneutik und Kritik zu Friedrich Schlegels ungeschriebener „Philosophie der Philologie“ gefragt. Die Stilisierung Schleiermachers zum großen Neuerer ist daher nicht unproblematisch.

Von Fragen der Einflussforschung abgesehen: Schleiermachers Hermeneutik stellt den größten interpretationstheoretischen Wurf der Romantik dar. Schleiermacher beschäftigte sich seit 1805 bis zum Ende seines Lebens mit Hermeneutik und Kritik und hielt wiederholt Vorlesungen über diese Gegenstände. Er weitete den Gegenstandsbereich radikal aus. Jede sprachliche Äußerung, nicht nur klassische oder heilige Schriften, könne Gegenstand der Hermeneutik sein, fordere gar eine Verstehensbemühung. Eine Verstehenstheorie im Anschluss an die mit Immanuel Kants kritischer Philosophie verbundene Erschütterung der Gewissheiten kann nicht mehr einen gelungenen Verstehensakt voraussetzen. Schleiermacher fordert eine strenge Praxis des Verstehens, die nicht erst bei Schwierigkeiten oder dunklen Stellen ansetzt, sondern davon ausgeht, dass sich das Verstehen nicht von selbst ergibt. Das Missverstehen wird als Regelfall, nicht mehr als der zu vermeidende Ausnahmefall angesehen.

Der Verstehensversuch müsse berücksichtigen, dass jede auszulegende sprachliche Mitteilung in einer Beziehung sowohl zur Gesamtheit der Sprache als auch zum gesamten Denken ihres Urhebers steht. Schleiermacher unterscheidet eine grammatische und eine psychologische Auslegung (die er bisweilen auch technische Auslegung nennt), die weder hierarchisch zu verstehen sind, noch in der Praxis getrennt werden können, da ansonsten die Auslegung mangelhaft bliebe. Das Gebiet der grammatischen Auslegung ist das Verständnis der Sprache des Textes. Sie stützt sich auf sprachliche und historische Kenntnisse und situiert den Text im Ganzen der Sprache seiner Entstehungszeit. Die psychologische Auslegung will die Subjektivität des Autors und seiner Gedanken aus der Totalität seines Lebens heraus verstehen. Beiden Auslegungsarten geht es um die Individualität des Autors, sei es seiner Sprache oder seiner Art zu denken. Das Individuelle könne indes nicht ohne den Blick auf das Ganze des ursprünglichen Kontextes erkannt werden. Die Konstruktion dieses Kontextes wird als unendliche Aufgabe bestimmt, für die es keine sicheren Regeln geben könne. Dies erkläre sich aus der Unendlichkeit der Sprache, da sprachliche Elemente nicht über eine festgelegte Bedeutung verfügen, sondern Bedeutung nur als Produkt von Differenzen zu allen übrigen Elementen der Sprache zu denken sei; hier berührt sich Schleiermachers Sprachtheorie mit der Ferdinand de Saussures, die ihrerseits für moderne Sprach- und Literaturtheorien von erheblicher Bedeutung war.

Berüchtigt ist die romantische Hermeneutik für die Forderung, man solle den Autor besser verstehen, als er sich selbst verstand. Dabei ist gerade der vermeintliche Nachteil des Auslegers, nicht unmittelbar zu wissen, was der Autor dachte, der entscheidende Vorteil. Das Unbewusste des Autors, das vom Ausleger bewusst gemacht werden kann, bietet die Möglichkeit des Besserverstehens. Nicht zuletzt die grammatische Auslegung macht das Besserverstehen möglich, da sich der Ausleger in einem größeren Ausmaß die Bedeutung der Sprache bewusst macht, als es der Autor tat. Dass ein Autor besser verstanden werden soll, gründet sich nicht auf eine höhere Genialität des Auslegers, sondern richtet sich auf eine erweiterte Ausschöpfung des semantischen Gehalts eines Textes. Herzstück der hermeneutischen Texttheorie ist der hermeneutische Zirkel, demzufolge das Einzelne aus dem Ganzen und das Ganze aus dem Einzelnen zu verstehen sei. Ziel der Auslegung ist die semantische Übereinstimmung der einzelnen Textelemente. Der Zirkel ist nicht nur innerhalb des einzelnen Textes gültig, sondern bestimmt auch dessen Stellung innerhalb eines Zeitalters, eines Sprachschatzes, einer Textgattung oder des gesamten Schaffens seines Autors.

Schleiermacher bestimmt das Auslegen als „Kunst“. Das bedeutet nicht, dass er im Sinne der frühromantischen Kunstkritik den Ausleger selbst zur Produktion poetischer Werke auffordert. Wohl aber bedürfe der Auslegers des Vermögens, selbst schöpferisch sein zu können. Vor allem aber sei die Hermeneutik keine strenge Methode, deren einzelne Schritte starr zur Anwendung kommen könnten. Es handele sich um ein „lebendiges Verfahren, für das keine mechanischen Regeln gegeben werden können“[5]. Ohne ein – methodisch nicht einholbares – „Talent“ des Auslegers bleibe die Auslegung erfolglos. Doch Schleiermacher ist als Theoretiker der Interpretation nicht annähernd so spekulativ, wie man angesichts seiner Epoche vermuten könnte. Er ist vielmehr an handfesten Problemen interessiert. So müsse bei dem Bemühen, einen Text zu verstehen, Sicherheit über dessen Authentizität bestehen. Darüber zu befinden, ist Aufgabe der „Kritik“. Das kritische Geschäft, das sich mit der „Beurtheilung der Ächtheit ganzer Schriften oder einzelner Theile derselben“[6] befasst, ist als steter Begleiter der hermeneutischen Bemühung konzipiert: „Eine Disciplin setzt die andre voraus“[7]. Deswegen hat Schleiermacher seit 1826/27 auch ausführlich über die Kritik gesprochen, die er den Ausführungen zur Hermeneutik anhängte.

Diese grob umrissenen Versatzstücke seiner Theorie differenziert Schleiermacher in seinen Aufzeichnungen und Vorlesungen sehr detailliert aus.[8] Dabei kommen sowohl anregende Aspekte zum Tragen als auch solche, die problematisch sind und für die Schleiermacher kritisiert wurde: Wiederholt kommt in den Vorlesungen die notwendige Kongenialität des Auslegers, eine Tendenz zur Einfühlung oder die Ausrichtung auf die Subjektivität des Verfassers zum Ausdruck. So soll der Ausleger den Autor als individuelle Einheit auffassen und sich in ihn hineinversetzen, um seine Produktivität zu verstehen.[9] Es geht um ein Verstehen des Menschen und seiner schöpferischen Tätigkeit, nicht um ein Verstehen des Textes um seiner selbst willen.

Die „romantische Hermeneutik“ ist indes nicht auf Schleiermacher zu beschränken. Zu ihr zählen weite Teile der frühromantischen Philologie und Kunstkritik – etwa Friedrich Schlegels Ansätze, „das Verstehen zu verstehen“[10] – oder Friedrich Asts Hermeneutik-Lehrbuch von 1808. August Boeckhs von Schleiermacher beeinflusste systematische philologische Methodenlehre tradierte die Grundgedanken der romantischen Hermeneutik durch weite Teile des 19. Jahrhunderts.[11] Die anderen Autoren der romantischen Hermeneutik erhielten bei weitem nicht die gleiche Aufmerksamkeit wie Schleiermachers Überlegungen. Doch auch sein Frühwerk, in dem sich zahlreiche Vorwegnahmen des hermeneutischen Programms finden, wurde bislang kaum in diesem Zusammenhang beachtet.

Die Verstehenstheorien der romantischen Hermeneutik haben sich über Schlegel, Ast, Schleiermacher, Boeckh und Dilthey weit in das geisteswissenschaftliche Selbstverständnis des 20. Jahrhunderts fortgesetzt. Kritisch gesehen wurde die romantische Hermeneutik bei Hans-Georg Gadamer, dessen Hauptwerk „Wahrheit und Methode“ (1960) einen Meilenstein in der Theoriegeschichte des 20. Jahrhunderts darstellt. Gadamer, der die hermeneutische Phänomenologie seines philosophischen Lehrers Martin Heidegger in eine Texthermeneutik zu übersetzen sucht, attestiert der romantischen Hermeneutik eine „Fragwürdigkeit“.[12] Er lehnt, gegen Dilthey gewendet, Schleiermachers Ausrichtung auf die Rekonstruktion eines ursprünglichen Sinnes ab und orientiert sich bei seinem eigenen hermeneutischen Projekt ausdrücklich an Hegel. Diese andere Ausrichtung, zumal unter dem Schatten von Heideggers Existenzialhermeneutik, gibt Gadamers Theorie ein Gepräge, das mit der philologisch motivierten Kunstlehre Schleiermachers wenig gemein hat. Während Gadamer das hermeneutische Geschäft auf „Wahrheit“ ausrichtet („Methode“ aber, pointiert gesagt, ablehnt), kritisiert er bei Schleiermacher die Ausrichtung des Verstehens auf die Individualität des Autors statt auf den Wahrheitsgehalt des Werkes. Für Gadamer ist Schleiermacher eine bedeutende Station der Hermeneutikgeschichte, bleibt aber hinter den Anforderungen einer philosophischen Hermeneutik zurück.

Eine ganz andere Rolle nimmt Schleiermacher für Peter Szondis Entwurf einer „literarischen Hermeneutik“ ein. Szondi beklagt das Fehlen einer spezifisch literarischen Hermeneutik als „Lehre von der Auslegung, interpretatio, literarischer Werke“.[13] Nachdem Dilthey, Heidegger und Gadamer die Hermeneutik von der philologischen Praxis abgelöst und zu einer Metatheorie gemacht hatten, kritisiert Szondi in seiner Vorlesung „Einführung in die literarische Hermeneutik“ von 1967/68 eine Hermeneutik, die „sich erhaben über das [fühlt], was einst ihre Aufgabe war, nämlich eine materiale Lehre von der Auslegung zu sein“.[14] Ihm fehlt der Anwendungsaspekt einer Hermeneutik, die sich vornehmlich als Analyse des Verstehens selbst begreift. Er fordert eine „literarische Hermeneutik“, die den ästhetischen Charakter der auszulegenden Texte zur Prämisse der Auslegung macht, ein Bewusstsein von der eigenen Historizität hat (was er der klassischen philologischen Hermeneutik absprach) und die vor allem eine „materiale“, also „auf die Praxis eingehende“ Auslegungslehre sei.[15] Ein Vorbild für eine solche literarische Hermeneutik war ihm Schleiermacher. 1970 beschäftigte sich Szondi, schon im Titel seines klugen Essays eine Aktualität seines Gegenstandes bekräftigend, mit „Schleiermachers Hermeneutik heute“.[16] Er akzentuiert Schleiermachers Hermeneutik anders als die Klassiker der philosophischen Hermeneutik und findet die sprachtheoretischen, aber auch philologischen und praxisbetonten Aspekte von Schleiermachers Auslegungstheorie anregend.

Der bislang letzte Abschnitt der Theoriegeschichte, der in größerem Maßstab Wirkung erzielte, und auch der vorläufig letzte große Versuch, Schleiermachers Hermeneutik zu aktualisieren, ist Manfred Franks Buch „Das individuelle Allgemeine“ von 1977. Frank initiierte einen Dialog zwischen Schleiermachers Hermeneutik und vornehmlich poststrukturalistischen Ansätzen und zeigte, dass zwischen diesen beiden scheinbar unvereinbaren Denkrichtungen eine größere Schnittmenge gesehen werden kann, als dies zunächst zu vermuten wäre. Für Furore sorgte auch Jochen Hörisch, der den (letztlich nicht überzeugenden) Versuch unternahm, aus Schleiermachers Frühwerk eine „Antihermeneutik“ zu extrahieren. Hörischs dezidiert antihermeneutisches Pamphlet „Die Wut des Verstehens“ von 1988 greift eine Formulierung aus Schleiermachers Reden „Über die Religion“ auf und vermeint, auf dieser Grundlage eine fundamentale Wandlung Schleiermachers festzustellen. Der junge Schleiermacher sei Hermeneutikkritiker, Antihermeneutiker gar gewesen, während er später der „Saulus-Paulus der Hermeneutik“ gewesen sei, ein „übergelaufener Rebell, der seine beste Einsicht verriet“.[17] Auch wenn Hörischs Lesart sich bei genauerer Betrachtung als ‚Wut des Missverstehens‘ erweist, da bereits Schleiermachers Frühwerk die Prämissen seines hermeneutischen Projekts teilt, erhielt seine Einschätzung in der Forschung ein großes Echo, sei es zustimmend oder ablehnend. Über die tatsächlichen der Hermeneutik gewidmeten Texte Schleiermachers erfährt man bei Hörisch gleichwohl wenig Substantielles.

Vereinzelte jüngere Deutungen interessieren sich für Schleiermachers Theorie der Textkritik und Bibelhermeneutik (wodurch sie den Schritt vom Allgemeinen zurück zum Speziellen gehen).[18] Zwar befindet sich dieser Forschungszweig noch in den Anfängen; das könnte sich aber durch die neue Ausgabe ändern. Die Ausführungen zur Kritik dürften die meisten neuen Aufschlüsse bieten. In Zeiten, in denen leidenschaftliche Fachdebatten über die Theorie und Praxis der Textedition und -kritik geführt werden, könnten Schleiermachers ausführliche Darlegungen zur Kritik auf fruchtbaren Boden fallen. Ob diese Ausführungen über ihren theoriegeschichtlichen Wert hinaus innovative Aspekte bereithalten, muss noch diskutiert werden. Sicher ist, dass bereits die deutlichere Akzentuierung des kritischen Geschäfts den Blick auf Schleiermachers hermeneutisches Projekt verändert.

All diesen Etappen der Rezeptionsgeschichte ist, wenn auch nicht immer so deutlich markiert wie bei Szondi, ein „heute“ eingeschrieben. Allen war es um eine nicht nur unausweichlich vom eigenen historischen Standpunkt ausgehende Interpretation Schleiermachers zu tun, sondern um eine Diskussion, was ein klassischer theoretischer Komplex für Probleme und Denkansätze der jeweiligen Gegenwart bieten und leisten kann. Auch heute ist Schleiermachers Hermeneutik der Frage ausgesetzt, welches Anregungspotential sie uns Heutigen bieten kann, wenn man sie nicht auf ihren Status als klassischen Gegenstand reduziert. Eine heutige Beschäftigung mit Schleiermachers Hermeneutik steht aber nicht nur deswegen unter veränderten Vorzeichen, weil sich die theoretische Landschaft und das Selbstverständnis der „Geisteswissenschaften“ enorm gewandelt haben. Auch der Gegenstand selbst tritt heute anders in Erscheinung – erstmals in Form einer Edition, die höheren philologischen Ansprüchen genügt und der Forschung ein sicheres und breiteres Fundament liefert.

Typisch für seine Epoche ist dieses Gedankengebäude schon dadurch, dass es zu Schleiermachers Lebzeiten trotz umfänglicher Vorarbeiten nie zu einem Lehrbuch ausgearbeitet werden konnte. Diesen Mangel kann keine Edition kompensieren. Die von Wolfgang Virmond unter der Mitarbeit von Hermann Patsch, beide seit vielen Jahren intime uns ausgewiesene Schleiermacher-Kenner, besorgte Edition aber kommt dem so nah, wie es irgend möglich ist. Sie übertrifft schon quantitativ alle bisherigen Edition bei weitem. Die Editionsgeschichte beginnt 1838, als Friedrich Lücke aus Schleiermachers Nachlass und Nachschriften einen Text erstellte, den Schleiermacher so niemals geschrieben oder als Vorlesung gehalten hat.[19] Lückes Edition ist noch immer wirksam, machte sie doch Manfred Frank zur Grundlage seiner Ausgabe von 1977.[20] Eine verdienstvolle kritische Edition von Schleiermachers Manuskripten legte Heinz Kimmerle 1959 vor.[21] Der teils fragmentarische Zustand der knappen Notizen konnte allerdings kein hinlängliches Bild von der konkreten, systematischen Ausprägung der hermeneutisch-kritischen Theorie entstehen lassen. Die bisherigen Ausgaben boten also entweder philologisch unzuverlässige Vorlesungstexte oder bisweilen skizzenhafte Originalmanuskripte. Die neue Edition versammelt sämtliche erhaltenen Originalmanuskripte Schleiermachers seit 1805 nebst einer Abschrift der „Allgemeinen Hermeneutik“ von 1809/10. Vor allem aber enthält diese Ausgabe vier vollständige Vorlesungsnachschriften, die zum Teil erstmalig zugänglich gemacht werden. Damit ist das Textmaterial für ein vollständiges Bild von Schleiermachers hermeneutisch-kritischem Projekt zwar nicht erschöpft, aber nun so vollständig wie noch nie. Beachtet werden müssen dafür auch die bereits an anderem Ort in der Kritischen Gesamtausgabe edierten Akademievorträge „Über den Begriff der Hermeneutik mit Bezug auf F. A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch“ (1829) sowie „Über Begriff und Einteilung der philologischen Kritik“ (1830), aber auch die Übersetzungstheorie, die Platon-Einleitungen, exegetische Schriften und die frühen Rezensionen. Außerdem lassen die neu edierten Vorlesungen die systematische Nähe von Hermeneutik und Kritik zu Schleiermachers Ästhetik und Dialektik erkennen, von theologischen und religionsphilosophischen Prämissen seiner Bibelauslegungen ganz zu schweigen. Schleiermachers Hermeneutik sollte heute nicht mehr als isoliertes Spezialgebiet innerhalb eines großen systematischen Oeuvres gelesen werden.

Es ist bemerkenswert, dass nicht jede Vorlesungsnachschrift alle Aspekte beinhaltet, die üblicherweise mit Schleiermachers Hermeneutik verbunden werden. Es wäre auf dieser Grundlage zu fragen, ob die Forschung einzelne Aspekte überbetont hat, die für Schleiermacher nicht in jeder Entwicklungsphase von Relevanz waren. Die neue Textgrundlage führt zu einer Unternehmung, die laut Schleiermacher ein Bestandteil jeder Auslegung ist: „noch einmal die ganze Operation zu wiederholen und die Revision dessen anzustellen, was wir glaubten verstanden zu haben“[22]. Es ist damit zu rechnen, dass das Verständnis von und der Forschungsstand zu Schleiermachers Hermeneutik einer solchen Revision unterzogen werden. Die neu edierten Texte stürzen sicherlich nicht alle bisherigen Erkenntnisse um, akzentuieren und gewichten allerdings manches anders, als es bisher bekannt war. Das gilt gleichermaßen für einzelne Begriffe wie für komplexe methodische Zusammenhänge. Ein gewandeltes Bild im Detail wird sich zwangsläufig ergeben. Es ist zu vermuten, dass Schleiermachers Hermeneutik „heute“, wie schon Szondi forderte, nicht vorrangig auf einen praxisfernen philosophischen Anspruch hin gelesen werden wird. Gegen die Stilisierung Schleiermachers zum ersten Denker, der die Hermeneutik als transzendentale Grundlegung des Verstehens konzipiert habe, wendete Szondi kritisch ein, dass es in der Nachfolge Diltheys „immer mehr Brauch [wurde], vom Höhenflug einer Philosophie des Verstehens zur irdischen Praxis der Auslegung und ihrer Methodenlehre nicht mehr zurückzukehren“.[23] Gerade einer solch ‚irdischen‘, sich um philologische Belange kümmernden Praxis der Textauslegung hat Schleiermacher aber noch einiges zu sagen.

Womöglich kann diese neue Textgrundlage ein Beweggrund sein, die Stille, die sich um die Hermeneutik ausgebreitet hat, zu verlassen. Gerade eine Zeit, die sich für methodologisch aufgeklärt hält und wie selbstverständlich mit einem Methodenpluralismus operiert, läuft Gefahr, texthermeneutische Grundsatzreflexionen aus den Augen zu verlieren. Die Beschäftigung mit diesem Klassiker der Literaturtheorie kann dazu dienen, die Sinne dafür zu schärfen, was wir betreiben, als verstünde es sich von selbst: das heikle Geschäft, Texte verstehen zu wollen.

[1] Wilhelm Dilthey: Die Entstehung der Hermeneutik. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. V. Leipzig, Berlin 1924. S. 317-338, hier S. 327.

[2] Wilhelm Dilthey: Die Entstehung der Hermeneutik. S. 327.

[3] Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik. Hg. v. Wolfgang Virmond unter Mitwirkung von Hermann Patsch (= Kritische Gesamtausgabe. Im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen hg. v. Günter Meckenstock und Andreas Arndt, Ulrich Barth, Lutz Käppel, Notger Slenczka. Zweite Abteilung. Vorlesungen. Band 4). Walter de Gruyter, Berlin, Boston 2012. S. 73.

[4] Ebd. S. 193.

[5] Ebd. S. 470.

[6] Ebd. S. 452.

[7] Ebd. S. 453.

[8] Zu einer differenzierteren Betrachtung und Kontextualisierung von Schleiermachers Hermeneutik sowie ihrer Rezeption  vgl. Manuel Bauer: Schlegel und Schleiermacher. Frühromantische Kunstkritik und Hermeneutik. Paderborn, München, Wien, Zürich 2011.

[9] Friedrich Schleiermacher: Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik. S. 370.

[10] Friedrich Schlegel: Abschluß des Lessing-Aufsatzes. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. II. Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801). Hg. u. eingeleitet v. Hans Eichner. München, Paderborn, Wien, Zürich 1967. S. 397-419, hier S. 412.

[11] Vgl. August Boeckh: Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften. Hg. v. Ernst Bratuscheck. Stuttgart 1966 (unveränderter reprografischer Nachdruck der 2., v. Rudolf Klussmann besorgten Ausgabe, Leipzig 1886).

[12] Vgl. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Gesammelte Werke. Bd. 1. Hermeneutik I. Unveränderte Taschenbuchausgabe. Tübingen 1999. S. 177ff.

[13] Vgl. Peter Szondi: Einführung in die literarische Hermeneutik. Studienausgabe der Vorlesungen. Bd. 5. Hg. v. Jean Bollack und Helen Stierlin. Frankfurt am Main 1975. S. 9.

[14] Peter Szondi: Einführung in die literarische Hermeneutik. S. 11.

[15] Peter Szondi: Einführung in die literarische Hermeneutik. S. 25.

[16] Vgl. Peter Szondi: Schleiermachers Hermeneutik heute. In: Ders.: Schriften II. Hrsg. v. Jean Bollack mit Henriette Beese. 3. Auflage. Frankfurt am Main 1996, S. 106–130.

[17] Jochen Hörisch: Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik. Erweiterte Nachauflage. Frankfurt am Main 1998. S. 61.

[18] Vgl. bspw. Daniel Weidner: Bibel und Literatur um 1800. München 2011.

[19] Vgl. Friedrich Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hg. v. Friedrich Lücke. Berlin 1838.

[20] Vgl. Friedrich Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers. Hg. und eingeleitet v. Manfred Frank. 7. Auflage. Frankfurt am Main 1999.

[21] Vgl. Friedrich Schleiermacher: Hermeneutik. Nach den Handschriften neu hg. und eingeleitet v. Heinz Kimmerle. Heidelberg 1959.

[22] Friedrich Schleiermacher: Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik. S. 387.

[23] Peter Szondi: Schleiermachers Hermeneutik heute. S. 108.

Titelbild

Friedrich Schleiermacher: Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik. Kritische Gesamtausgabe.2. Abteilung, Band 4.
De Gruyter, Berlin 2012.
1162 Seiten, 259,00 EUR.
ISBN-13: 9783110252446

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch