Autopsie des offenen Bildes

Bruce Bégouts „Motel. Ort ohne Eigenschaften“ begibt sich auf die Spur des globalen Nomaden

Von Simone Sauer-KretschmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Sauer-Kretschmer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn das Motel ein Ort ohne Eigenschaften ist, dann sollte es essayistisch recht schnell abhandelt werden können. Doch so ist es nicht, wie der Philosoph Bruce Bégout in seinem Buch überzeugend darlegt (Der französische Titel „Lieu commun. Le motel américan“ trifft es wesentlich besser). Seine Ausgangsfragen wollen nicht nur wissen, was das Motel nach innen wie außen sein kann, sondern auch seine angrenzenden ‚Randzonen‘ erforschen. Allen voran die amerikanische suburbia mit ihren Einkaufszentren, Tankstellen und Raststätten.

Bégouts Hauptgegenstand aber bleibt das Motel, „[…] weil es in den Städten und insbesondere im literarischen wie kinematographischen Imaginären und in der Bilderwelt ihrer Bewohner einen ganz besonderen Platz einnimmt.“ Später ist von einer ‚inneren Mediathek‘ die Rede, die mit dem Nachdenken über das Motel so untrennbar verbunden sei, dass sich Bégouts Ansatz am ehesten als hybride Form zwischen Fakt und Fiktion beschreiben lässt. Was dabei herauskommt sind partiell Spekulationen, doch zumeist solche, die den Leser für die ‚Kunst des Motels‘ einnehmen und sich als überaus anschlussfähig erweisen, was (nicht nur) amerikanische Topografien betrifft.

Doch Bruce Bégout will mehr: seine ‚Autopsie des Motels‘ schließt auch den dort einkehrenden Reisenden ein, dem der Status des globalen Nomaden verliehen wird. Der Pariser Flaneur beweist mit jedem seiner Schritte, dass er die Stadt, die er durchschlendert, ‚bis zum Übermaß beherrscht‘, so Bégout. Der amerikanische Nomade erscheint ihm hingegen als Fremder im eigenen Land, der den Eindruck erweckt, als käme er gerade von einer langen Reise. Diese Reise über die amerikanischen Highways besitzt längst nicht mehr den unschuldigen Anstrich eines Urlaubsvergnügens – wenn sie diesen mit dem Motel als Etappenziel überhaupt je hatte –, sondern ist harte Arbeit: Denn der Grund für das ständige berufliche Umherziehen wird im Liberalismus verortet, der wirtschaftlichen Erfolg nur demjenigen garantiert, der bereit ist, dem Fluss des Kapitals in ständiger Mobilität zu folgen. Für Bégout ergibt sich daraus eine Ähnlichkeit mit dem amerikanischen Hobo, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts, mal hier, mal dort Arbeit findend, durch Amerika zog. Im Gegensatz zur heutigen ‚Hobohème‘ war deren Ahne in der sozialen Hierarchie jedoch ganz unten angesiedelt.

Mobilität also ist – wie längst bekannt – kein Makel mehr (Das französische Original des Textes ist 2003 erschienen.). Ihre architektonische Entsprechung im Motel realisiert zu finden erscheint daher als zutreffende Beobachtung, die weiter führt: Durch Gestaltung der Innenräume und Außenanlagen nach einfachen Standards der Kargheit und Reduktion, wird das Motel noch immer erfasst von Edward Hoppers Momenten des Stillstands, der Einsamkeit und der Leere. Für den Motel-Reisenden ergibt sich aus dieser Abwesenheit nicht nur ein Verlust, sondern auch die Möglichkeit, das räumliche Paradebeispiel des Nicht-Ortes mit neuem Sinn zu füllen. Dass dies häufig mit der Versuchung des Illegalen in Verbindung gebracht wird, resultiert zum einen aus der dem Motel spezifischen Anonymität; zum anderen aus den unzähligen ‚Sex and Crime‘-Geschichten, die das amerikanische Kino und die Literatur kennt, in denen das Motel zum Schauplatz wird.

All diese Erzählungen mögen mit der Grund dafür sein, warum es auch Bégout ab und an mit den assoziierenden Schlüssen durchgeht, und er das Motel semantisch überstrapaziert. Besonderes Kopfschütteln verursacht der Versuch, den amerikanischen serial killer mit den Verkaufsstrategien amerikanischer Großkonzerne (und Franchiseunternehmen) zu parallelisieren. Es leuchtet dabei vielleicht noch ein, dass beide Parteien auf Standardisierung und Serialisierung ausgerichtet sind, doch überwiegt der Verdacht, dass passend gedacht werden sollte, was in vielerlei Hinsicht dann doch auf allzu wackligem Fundament steht.

Von einigen wenigen Digressionen dieser Art abgesehen, ist Bégouts „Motel“ eine wunderbare Sammlung von höchst subjektiven Einblicken hinter gewöhnlich fest verschlossene Türen, die der Autor dem Leser, in der Funktion des Spions, öffnet.

Titelbild

Bruce Bégout: Motel. Ort ohne Eigenschaften.
Übersetzt aus dem Französischen von Franziska Humphreys.
Diaphanes Verlag, Zürich 2012.
235 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783037342343

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