Sag mir, wo die Blumenkinder sind. Wo sind sie geblieben?

Klaus Maria Brandauer spielt in Antonin Svobodas Film über Wilhelm Reich endlich den Mann, in den er sich schon in den 1960er Jahren verknallte

Von Bernd NitzschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Nitzschke

„Er war eine eindrucksvolle Persönlichkeit, voll jugendlicher Intensität. […] Seine klinische Erfassung […] machten ihn zu einem vorzüglichen Lehrer.“ So äußerte sich Richard Sterba im Rückblick über Wilhelm Reich, dessen Schüler er in Wien einst war. Sterba hat aus Solidarität mit Sigmund Freud nach der Besetzung Österreichs 1938 als einziger nicht-jüdischer Psychoanalytiker das Land verlassen. Hans Magnus Enzensberger hingegen – die Indianer hätten ihn „Der alles und das auch noch viel besser weiß“ genannt – beurteilte Wilhelm Reich strenger: „Im Ernst, er kämpfte gegen die Unterdrückung, hat vielen geholfen […]. Danach nur noch Kauderwelsch, Science Fiction. Lebensbläschen gegen die emotionale Pest, Vegeto-Bio-Orgon-Energetik […].“

Von diesem „Danach“ handelt Antonin Svobodas Film „Der Fall Wilhelm Reich“. Also handelt er vom letzten Lebensabschnitt eines Emigranten, der Norwegen, wo er 1934 Zuflucht gefunden hatte, noch kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs verlassen konnte, weil er einen Lehrauftrag an der New School of Social Research in New York und das dazu nötige Professorenvisum endlich erhalten hatte. Nach dem ‚Anschluss’ war aus dem Österreicher unfreiwillig der deutsche Staatsbürger Wilhelm Reich geworden. In einem Schreiben der deutschen Botschaft in Oslo an das Auswärtige Amt in Berlin wurde Reich so beschrieben: Er sei „eine der übelsten jüdischen Typen, die man sich vorstellen kann“; er habe „als Hauptfach die ‚Sexualökonomie’ gewählt, eine ‚Wissenschaft’, die selbst von marxistischer Seite heute als Schweinerei bezeichnet wird“. Seine Ausbürgerung sei „beschleunigt in die Wege zu leiten“. Für das Auswärtige Amt war Wilhelm Reich kein Unbekannter. Als führender Vertreter der Sexpol-Bewegung hatte er sich als Gegner der Nationalsozialisten in Berlin profiliert. In einer Akte des Amtes aus dem Jahr 1935 heißt es dazu, Reich habe schon „vor der nationalsozialistischen Revolution im Kampf für den Kommunismus Deutschland mit einer Menge von Schmutzliteratur überschwemmt“. Gemeint war damit unter anderem Reichs Aufklärungsbroschüre „Sexualerregung und Sexualbefriedigung“ (1929), die bereits in der Weimarer Republik auf dem Index stand. Den erfolgreichen Indizierungsantrag hatte Josef Weber gestellt, der Leiter des Landesjugendamtes in Münster, der nach dem Krieg im Kabinett Arnold (CDU) als NRW-Sozialminister Karriere machte und 1956 das Große Bundesverdienstkreuz erhielt. Die „Westfälische Jugend“, Webers Verbandszeitschrift, hatte schon 1930 Grund zum Jubeln: „Wir freuen uns, daß das Jugendamt damit (gemeint war der Indizierungsantrag der Broschüre) erfolgreich den Kampf gegen die üble Aufklärungsliteratur, die unsere heranwachsende Jugend vergiftet, aufgenommen hat.“

Während Reich in Oslo noch auf die Ausreise in die USA wartete, verhaftete die Gestapo in Bremen den 23jährigen Martin Meyer, der dort die illegale Jugendarbeit der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) leitete. 1937 hatte er in Südschweden an einer geheimen SAP-Konferenz teilgenommen, bei der – wie man in Bremen herausgefunden hatte – ein gewisser „Dr. Reich“ und ein „Willi Brandt“ (später SPD-Vorsitzender, Bundeskanzler und Friedensnobelpreisträger) anwesend waren. Allen dreien wurde „Vorbereitung zum Hochverrat“ vorgeworfen.

Die Bremer Justiz wusste allerdings nicht, dass der „Dr. Reich“ eben der Mann war, den die deutsche Botschaft in Oslo unbedingt loswerden wollte. Und so erhielt er dort den für die Ausreise in die USA benötigten Pass, den er umgehend zurückwies – und zwar mit dieser Begründung: „Der Pass lautete auf den Namen Wilhelm Israel Reich. […] Ich hatte um keine Namensänderung angesucht. Die von Ihnen durchgeführte Namensänderung ist daher unrechtmäßig.“ Ja, so war Wilhelm Reich – und so wird er von Klaus Maria Brandauer verkörpert: als ein Giordano Bruno des 20. Jahrhunderts, der selbst dann, wenn ihm das Wasser bis zum Halse steht, den rettenden Strohhalm verschmäht – sprich: sich weigert, eine Wahrheit zu widerrufen, von der er überzeugt ist. Und doch gelang Reich ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten – mit einem „Identitätspapier“, das ihm die Norweger auf seinen richtigen Namen ausgestellt hatten.

Als Reich im August 1939 in New York an Land ging, wähnte er sich in Freiheit. Er hatte sich geirrt. Als vormaliges Mitglied der KPD – aus der er Ende 1933 wegen „konterrevolutionärem“ Verhalten ausgeschlossen worden war (er hatte die stalinistische Sozialfaschismusthese abgelehnt und von der Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung gesprochen, als das Polit-Büro noch den nahen Sieg des Proletariats in Hitler-Deutschland verkündete) – geriet Reich auch in den USA bald ins Visier der Staatsschützer. Er sei eine „potentiell gefährliche Bedrohung für die innere Sicherheit“, heißt es in einem FBI-Dossier aus dem Jahr 1941.

Aber nicht nur paranoide Antikommunisten, auch Linksintellektuelle, die in der Zeitschrift „The New Republic“ publizierten, sahen in Reich damals eine Gefahr: Er bedrohte ihre Ideale, hatte er die Moskauer Schauprozesse doch bereits zu einer Zeit verurteilt, als die Autoren dieser Zeitschrift noch für die Unterstützung des Aufbaus des Sozialismus in der Sowjetunion warben. In den 1950er-Jahren wendete sich das Blatt: Die Redaktion verfiel der McCarthy-Hysterie, zu deren Opfern auch der vermeintliche Krypto-Kommunist Wilhelm Reich gehören sollte.

Als Reichs Buch „Massenpsychologie des Faschismus“, das erstmals 1933 in einem dänischen Exil-Verlag erschienen war, 1946 in den USA in einer bearbeiteten Neuauflage herauskam, sah sich Reich in „The New Republic“ heftigen Angriffen ausgesetzt. Er vertrete eine „Art von Psycho-Faschismus“ und lenke „mit Nazi-ähnlichen Parolen vom politischen Kampf“ ab, hieß es. Zu den Autoren dieser Zeitschrift zählten aber nicht nur Freunde der Sowjetunion; auch namhafte Psychoanalytiker – darunter Karl Menninger, der von 1941 bis 1942 Präsident der American Psychoanalytic Association (APA) war – schrieben für das Blatt. Reich war für psychoanalytische Vereinsfunktionäre nun aber das sprichwörtlich rote Tuch. Wegen seines – unter Berufung auf Psychoanalyse und Marxismus – öffentlich ausgetragenen Kampfes gegen den Faschismus war er 1933 auf Drängen Freuds aus der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG) und damit – den geltenden Statuten gemäß – aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) ausgeschlossen worden. Den Grund nannte Felix Boehm, der als ‚arischer’ Statthalter der Psychoanalyse in Hitler-Deutschland im Sommer 1933 mit der NS-Bürokratie verhandelte, um eine Verbot der Psychoanalyse abzuwenden, in einem vertraulichen Bericht, der für Ernest Jones, den Präsidenten der IPV, bestimmt war, ganz offen: „Bekanntlich war Reich häufig öffentlich als Kommunist und Psychoanalytiker aufgetreten, wobei er seine Ansichten als Ergebnisse der Psychoanalyse hingestellt hatte. […] Gegen dieses Vorurteil hatte ich zu kämpfen.“ Boehms Kampf war erfolgreich: Die Integration der Psychoanalyse in das NS-Gesundheitssystem gelang. Und so konnten mit Hilfe psychoanalytischer Techniken bis 1945 „unfähige Weichlinge zu lebenstüchtigen Menschen“ erzogen werden, wie es in einem Artikel hieß, den ein DPG-Funktionär 1933 im „Reichswart“, einem antisemitischen Hetzblatt, veröffentlichte. Als Wilhelm Reich davon erfuhr, nannte er den Artikel eine „Schande für die gesamte psychoanalytische Wissenschaft und Bewegung“.

Ja, Antonin Svobodas Film „Der Fall des Wilhelm Reich“ folgt in – zumeist düsteren – Bildern einer wahren Geschichte. Selbst der Titel des Films hat eine Geschichte: 1947 erschien in „The New Republic“ ein Beitrag unter der Überschrift „Der seltsame Fall des Wilhelm Reich“. Die Journalistin Mildred Brady warf darin Reich vor, er beute die Hoffnungen gestörter und kranker Menschen aus, wenn er behaupte, mit Hilfe der von ihm in Akkumulatoren eingefangenen Orgon-Energie könne er sexuelle Störungen beseitigen und Krankheiten aller Art (einschließlich Krebs) heilen. 1997 folgte dann noch das Buch „Der Fall Wilhelm Reich – Beiträge zum Verhältnis von Psychoanalyse und Politik“, herausgegeben von Karl Fallend und Bernd Nitzschke.

Der von Brady erhobene Vorwurf, Reich betreibe Scharlatanerie, Geschäftemacherei und Pornografie, vervielfältigte sich, als der Artikel in populären Zeitschriften (die zum Teil in Millionenauflage erschienen) vollständig oder auszugsweise nachgedruckt wurde. Ein Beitrag, in dem Bradys Anklagen zitiert wurden, trug die Überschrift „Sind Psychoanalytiker wahnsinnig?“ („Cosmopolitan“ 1951). Aufgrund der Pressekampagne wurde die Food and Drug Administration (FDA), die in den USA für die Arzneimittelzulassung zuständige Behörde, auf Reich aufmerksam. 1947 begann eine mehrjähriger Observation, die 1954 zur gerichtlichen Anordnung führte, sämtliche Gerätschaften, die mit Orgon-Energie zu tun hatten, und alle damit im Zusammenhang stehenden Schriften seien zu zerstören und zu verbrennen. Das war ein Déjà-vu-Erlebnis für Reich. Ein erstes Mal hatten bereits die Nationalsozialisten seine Schriften verbrannt. Das war am 10. Mai 1933 auf dem Opernplatz in Berlin. Reich war damals einer von vier Psychoanalytikern (die anderen waren Sigmund Freud, Anna Freud und Siegfried Bernfeld), deren Werke in Flammen aufgingen.

Für die in den USA angeordnete Vernichtung der Schriften und Geräte Reichs bedankte sich die Journalistin Mildred Brady mit diesen Worten bei der FDA: „Es entbehrt nicht eines gewissen Reizes, dass ein Artikel, den man vor Jahren geschrieben hat, letztlich solche Früchte trägt.“ Richard L. Frank, der Sekretär der APA, meldete sich ebenfalls zu Wort. Offenbar wollte er zum Ausdruck bringen, dass die in seinem Verein organisierten Psychoanalytiker – anders als Reich – nicht wahnsinnig seien. Frank versicherte dem Direktor der FDA: „Dr. Reich und seine Mitarbeiter sind keine Mitglieder der American Psychoanalytic Association, und ihre Theorien und Aktivitäten sind allen unseren Theorien und Praktiken fremd.“

Bleibt anzumerken, dass „rund die Hälfte“ der Mitglieder der von Richard L. Frank vertretenen Organisation – also etwa 100 Psychoanalytiker – in den 1940er-Jahren „mit dem US-amerikanischen Geheimdienst“ zusammenarbeitete (so Knuth Müller  in der an der FU Berlin 2013 vorgelegten Promotionsarbeit „Im Auftrag der Firma: Begegnungen der psychoanalytischen Gemeinschaft mit dem US-amerikanischen Geheimdienstnetzwerken seit 1940“).

Am 3. November 1957, kurz vor seinem 60. Geburtstag, starb Wilhelm Reich im Zuchthaus Lewisburg (Pennsylvania). Dort saß er wegen „Missachtung“ des Gerichts ein, das die Zerstörung seines Lebenswerks angeordnet hatte. Ein letztes Mal hatte er einer Autorität widersprochen – doch diesmal war der Preis sehr hoch. Reich bezahlte mit seinem Leben. Er starb an „Herzversagen“, heißt es. Man könnte aber auch sagen: Wilhelm Reich starb an gebrochenem Herzen.

Klaus Maria Brandauer spielt diesen Wilhelm Reich im Film so überzeugend, als sei er dessen Zwillingsbruder. Reich, der umso stärker an das Gute in den Menschen glauben musste, je verzweifelter er wurde, sieht sich im Gefängnis einem Psychiater gegenüber, der ihn auf seinen Geisteszustand untersuchen und ein Gutachten über ihn erstellen soll. Diese Konfrontation zwischen dem – vielleicht oder tatsächlich? – verrückten Dr. Reich und dem Dr. Hamilton, der vormals Reichs Schüler war und jetzt die in psychiatrische Diagnosen gegossene – tatsächliche oder eingebildete? – Vernunft repräsentiert, findet vor einem Einwegspiegel statt, hinter dem ein Großer Bruder sitzt, ein Mann des US-Geheimdienstes.

In einem Interview, das er, kurz bevor der Film im Herbst 2013 an den Start ging, der „WAZ“ gab, sagte Brandauer: „Wir schauen in dem Film einem Menschen zu, der nicht an sich scheitert, sondern der so viel Knüppel zwischen die Beine geworfen bekommt, dass er kaum Luft zum Atmen hat. Auch heute noch hat Reich viele Feinde, die über ihn schreiben, ohne etwas zu sagen zu haben. Ich finde, das ehrt ihn. Ich habe mich schon früher in den 60ern verknallt in ihn. Für die Flower-Power-Generation und die ‘68er war er ja eine Art Sinngeber.“ Ja, das war Reich: ein Prophet, zu dem das Lied passte, das Scott McKenzie sang: All across the nation such a strange vibration / People in motion / There’s a whole generation / with a new explanation / People in motion, people in motion / For those who come to San Francisco / Be sure to wear some flowers in your hair / If you come to San Francisco / Summertime will be a love-in there. Sag mir, wo die Blumenkinder sind. Wo sind sie geblieben? Glaubten diese Verrückten tatsächlich daran, der militärisch-industrielle Komplex ließe sich durch Liebe (John Lennons make love, not war) von seiner Geschäftsgrundlage, dem Krieg, abbringen?

In Antonin Svobodas Film erinnern wenige idyllische Bilder an die verlorene Zeit – kurze Augenblicke, ein See in Maine, in dem Reichs Tochter Eva so befreit schwimmt, als sei sie noch einmal in ihre verlorene österreichische Heimat eingetaucht. Dann wieder endlose Düsternis: Verrat, Verfolgung. Eine Mitarbeiterin Reichs verabredet sich am Ufer des Sees mit einem Geheimdienstagenten. Ein Staatsschützer will von einem Taxifahrer vor Ort noch etwas mehr über den „Kommunisten-Arzt“ wissen, der diese „Sex-Kisten“ benutzt, mit denen er angeblich heilen kann. Dieser Taxifahrer wiederum gibt seine antisemitischen Überzeugungen zum Besten, ohne zu ahnen, mit wem er spricht: mit Reichs Tochter Eva, die nach langen Jahren der Trennung ihren Vater endlich wieder sehen will. Und dann doch immer wieder diese verrückte Hoffnung: Reich meint, er könne mit dem von ihm konstruierten Cloudbuster Regen machen und die Wüste in Arizona so erblühen lassen wie die Frau, die Reichs Orgon-Akkumulator benutzt hat und endlich ein Kind bekommen kann.

Ja, der Glaube versetzt Berge! Ja, Wilhelm Reich war so verrückt wie jener Mann, der vor 2000 Jahren Blumenkinder zu sich kommen ließ: „Wahrlich ich sage euch: Es sei denn, daß ihr umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen“ (Matthäus 18:13). Also schreibt Wilhelm Reich gegen Ende seines Lebens noch ein Buch: „Christusmord“. Darin verkündet er Botschaften, als sei er der Erlöser: „Indem du erkennst, dass die Liebe in deinem Körper Gott selbst ist, brechen die Schranken am Eingang des Paradieses, die du in deinen Träumen und in deiner Abwehr gegen das lebendige Leben auf Erden eigenhändig errichtet hast.“

So ließe sich im Hinblick auf Wilhelm Reichs letzte Lebensphase mit Berufung auf Hans Magnus Enzensbergers gesunden Menschenverstand ein Fazit ziehen. „Danach nur noch Kauderwelsch, Science Fiction. Lebensbläschen gegen die emotionale Pest, Vegeto-Bio-Orgon-Energetik“ … Doch halt, Antonin Svobodas Film zeigt mehr als diese Oberfläche. Wenn einer glaubt, er müsse sich, wild um sich schießend, gegen den Terror seiner Nachbarn zur Wehr setzen, dann ist er ein Paranoiker. Und wenn Millionen daran glauben, ihr Land ließe sich nur verteidigen, wenn Drohnen auf Menschen abgeschossen werden, die sich nicht zur Wehr setzen können, dann handelt es sich um einen Krieg gegen den Terror. Und deshalb handelt Svobodas Film nicht nur vom individuellen, sondern auch vom kollektiven Wahnsinn.

Ich erlaube mir an dieser Stelle aus einem Buch zu zitieren, das vor vierzig Jahren erschienen ist. Darin heißt es über den ganz normalen Wahnsinn: „Was als eine Form der tiefsten Erniedrigung anzusehen wäre, wird, dem herrschenden Wertgesetz gemäß, als Erreichen eines hehren Zieles gefeiert. Die unterjochte Vernunft, die im Auftrag betriebene Zerstörung der Vernunft, die dem ökonomischen Prinzip nur folgt, setzt die falschen Kategorien von Wert und Unwert fest. Wertvoll ist, was diesem Prinzip zufolge nützlich ist; unwert alles, was in der von diesem Prinzip beherrschten Wirklichkeit nutzlos ist. Die Verfolgung all jener Nutzlosigkeit, die nicht selbst an irgendeiner Stelle wieder nützlich ins System der festgelegten Zwecke sich integrieren läßt, besitzt ihren subtilen Ausdruck nur so lange, wie Zurückhaltung noch von Nutzen ist. […] Im Faschismus erhielt dieses vernünftige Bewertungsprinzip nur etwas offeneren Ausdruck, als er üblich ist: Die Wahnsinnigen wurden umgebracht […]“ (Bernd Nitzschke: „Die Zerstörung der Sinnlichkeit“, 1973) – und die Vernünftigen wurden nach dem Krieg in Sicherheit gebracht, soweit sie aus „nachrichtendienstlichen oder militärischen Gründen“ für die US-Regierung wichtig waren.

In einer US- Direktive aus dem Jahr 1945 heißt es, in Deutschland seien „alle Kriegsverbrecher“ festzunehmen, mit Ausnahme derjenigen, die nützliches Wissen sammeln konnten. Sechs Jahre, nachdem Wilhelm Reich in den USA (wie er glaubte) Zuflucht gefunden hatte, fanden dort etwa 1.500 NS-Wissenschaftler ein neues Zuhause, darunter der Chemiker Otto Ambros, der als Giftgasexperte der Buna-Werke in Auschwitz tätig war, und die NS-Ärzte Hubertus Strugold und Walter Paul Schreiber. Der eine hatte Erfahrungen mit Kälteexperimenten im KZ Dachau gesammelt, der andere hatte an KZ-Insassen Meskalinversuche unternommen. Als Anfang der 1950er-Jahre Schreibers Tätigkeit für die US-Militärforschung bekannt wurde, erhob sich in der Öffentlichkeit Protest. Mit Unterstützung der US-Regierung durften er und seine Familie nach Argentinien ausreisen. Um es mit einem Satz zu sagen: „Der Fall Wilhelm Reich“ war schon vor der Flucht von Edward Snowden ein sehenswerter Film. Nach Snowdens Flucht aus den USA ist er das erst recht.


Der Fall Wilhelm Reich (The Strange Case of Wilhelm Reich), Österreich 2012. Regie: Antonin Svoboda. Darsteller: Klaus Maria Brandauer, Julia Jentsch, Länge: 110 Min.

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