Ein Roman rund wie die Erde

Joanna Bator erzählt in „Wolkenfern“ von Heimatverlust, Reiselust und der Grenzen überwindenden Vorstellungskraft

Von Alexandra SauterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Sauter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Leben, um davon zu erzählen“ wählte Gabriel García Márquez vor rund zehn Jahren als Titel für seine Autobiografie. Bescheiden fasste Márquez zusammen, was am Ende uns allen als einzige Möglichkeit bleibt. Erst im Erzählen bewegen sich unsere Erfahrungen in eine Ordnung und gewinnen Bedeutung. Erzählen kann gar das Leben bewahren: Scheherazade rettete mit ihren Geschichten, tausendundeine Nacht lang, nicht nur sich selbst, sondern auch den von Misstrauen und Hass auf die treulosen Frauen vergifteten König Schehriyar. Mit dem Erzählen gewann sie die Liebe. Den wahren Kern dieser märchenhaften Wendung bekräftigte Marcel Reich-Ranicki in seiner Autobiografie „Mein Leben“: Geschichten der Weltliteratur erzählte Reich-Ranicki im Warschauer Versteck nach der Flucht aus dem Ghetto. Seinen polnischen Beschützer Bolek Gawin lenkte er so Abend für Abend vom Gedanken ab, die Juden, die er verbarg, nicht doch noch aus Angst den deutschen Besatzern auszuliefern.

„Wolkenfern“, der Anfang Oktober erschienene Roman der polnischen Autorin Joanna Bator, zeigt alle Nuancen des Erzählens – als Unterhaltung, spätes Eingeständnis, zur Verschleierung wahrer Tatsachen – und darunter den Kern: Erzählen ist menschliches Bedürfnis, es spendet seelische Kraft so wie Essen und Trinken die körperliche. Anfang Oktober erhielt Bator in Warschau für ihren aktuellen Roman „Dunkel, fast Nacht“ (polnisch „Ciemno, prawie noc“) den bestdotierten polnischen Literaturpreis. Der Öffentlichkeit verkündete der polnische Literaturbetrieb eine Botschaft, die schon zuvor Tatsache geworden war: Publiziert hatte Bator bereits vor rund zehn Jahren. Doch mit drei Romanveröffentlichungen seit 2009 und einem seltenen erzählerischen Ideenreichtum hat sie die Literaturszene ihres Landes so schnell erobert wie lange vor ihr niemand Anderes. Nun gewinnt Bator von Übersetzung zu Übersetzung die anderen Literaturräume Europas für sich.

„Sara ist eine Nachfahrin der Hottentotten-Venus, beginnt Dominika. Und auch wenn sie es nicht ist, sie könnte es sein. Hast du schon mal von der Hottentotten-Venus gehört? Ja, hab ich, antwortet Małgosia und denkt bei sich, dass Dominika Chmura die Einzige ist, die nach Jahren nicht mit einem unehelichen Kind, einem ausländischen Bräutigam oder deutschen Gebrauchtwagen nach Piaskowa Góra zurückkommt, sondern mit einer solchen Geschichte.“ Wieder vereint sitzen die Freundinnen aus Schulzeiten eines Winterabends auf dem Dach des Wohnblocks Babel. Schnee fällt, sie rauchen Joints, einige Stockwerke unter ihnen liegt Dominikas Großmutter Halina hustend im Sterben. Für sie ist die Enkelin in die niederschlesische Arbeiterstadt Wałbrzych zurückgekehrt, nach jahrelanger Reise, die sie über München, die oberbayerische und die hessische Provinz in die USA und schließlich nach New York geführt hat. Dominikas Reise ist nicht zu Ende, doch für einen Moment atmet sie auf: Sie beginnt, die Geschichte ihrer Wegbegleiterin Sara Jackson zu erzählen.

In Bed-Stuy, dem Stadtteil der Schwarzen, wächst Sara auf und schafft als eine der wenigen den Sprung nach Manhattan, auf die bessere Seite New Yorks, um von dort nach Europa aufzubrechen. Mit in die Welt hinaus nimmt Sara die Geschichte ihrer Vorfahrin, von der sie durch ihre Urgroßmutter Destinee erfahren hat. In Destinees Erzählung war die „schwarze Venus“ eine gefeierte Pariser Sängerin, der „alle möglichen Napoleone“ zu Füßen lagen und der der eine große Napoleon gänzlich erlag. Gebannt saugt die kleine Sara die Erzählung der Urgroßmutter auf und spinnt sie im Erwachsenwerden selbst weiter. Dominika bringt die Kunde von der schwarzen Venus in die polnische Provinz. Gemeinsam mit Małgosia füllt sie Lücken auf und malt sich die zentrale Begegnung mit dem einstigen Herrscher der Welt aus: „Sara hat erzählt, erzählt Dominika, sie habe sich ihre Begegnung immer wieder vorgestellt. Und wie?, fragte Małgosia. Wir haben doch eigentlich nur unsere Vorstellungskraft, antwortet Dominika und stößt eine Rauchwolke zum Wałbrzycher Himmel, aus dem der Schnee immer dichter auf das Dach des Babel fällt. Denk dir doch deine Version der Begegnung der Venus mit Napoleon aus! Na gut, sagt Małgosia.“ In Dominikas und Małgosias grotesker Version nimmt die nackte, wuchtige und besinnungslos betrunkene Venus die Sache in die Hand, sie überwältigt den kleinen Kaiser: „Sie gluckste ihn an, die restlichen Knöpfe flogen ab, sie fand, was sie suchte, und setzte sich zurecht, aaaah, stöhnte er, welch ein Tempo, welche Glut!“

Diese nächtliche Erzählstunde legt das Thema des Romans offen wie ein Pathologe das Innere eines Menschen. Die Geschichten der Erwachsenen sind unsere frühesten, oft wertvollsten Erinnerungen. Sie machen Identifikation möglich, stoßen uns in die Welt hinein. Saras Selbstbewusstsein erwacht, als sie selbst dem aufmerksamen polnischen Emigranten Icek Kac in seinem Laden von Venus erzählt: „Zum ersten Mal wollte jemand ihre Geschichten hören!“ Doch unsere Erzählungen sind Konstrukte, Gebäude im Wandel: „Wolkenfern“ verzaubert mit wundersamen Geschichten und lässt zugleich jene ernüchternde Erkenntnis im Hintergrund mitlaufen. Für die Teenagerin endet Venus’ und Napoleons Liebe im lupenreinen Glück, doch die heranreifende und von der Liebe gänzlich ungerührte Sara sieht „bald ein, dass es anders ausgesehen haben musste, wenn sie sich überhaupt getroffen hatten, von Liebe konnte da keine Rede sein.“

Jene Sara ist wahrscheinlich nicht einmal die biologische Urenkelin der leseunkundigen und erzählfreudigen Destinee, mörderisch sind die Umstände ihrer Geburt. Entscheidend ist die Blutsverwandtschaft nicht: Geschichten können wir uns aneignen, unsere Erfahrungen und die Geschichte müssen miteinander nur in Einklang kommen. Nicht anders verhält es sich mit den menschlichen Beziehungen: Die „Teetanten“ Aniela und Róza – in einem anderen der zahlreichen Erzählstränge – nehmen die elternlose Grażynka an Kindes statt an und beschenken sie mit der reinsten, weil uneigennützigen Liebe. Sie sind damit die wahren Mütter. Dominika und Małgosia wiederum schaffen aus dem Venus-Stoff mündlich eine literarische, hintergründige Erzählung, in der Geschlechterbilder drohend wanken. Die Entscheidungen, die sie dabei treffen, verlangen den Erzählerinnen Mühe ab, Genuss ist ihr Lohn. Ein sinnliches Vergnügen verspürt Joanna Bator selbst im Schreiben, so sagte sie es der Wochenzeitung „Tygodnik Powszechny“ kurz nach Erscheinen von „Wolkenfern“ im polnischen Original.

Ein Autounfall, keine Erzählung wie bei Sara, hat Dominika in die Welt hinausgetrieben. In einer Münchner Klinik erwacht sie Anfang der 1990er-Jahre aus dem Koma, in dem sie zusammen mit ihrem Mathematik-Genie alle Zukunftspläne verloren hat. Wieder bei Kräften folgt sie nicht der besorgten Mutter Jadzia zurück nach Polen, sondern beginnt ihre Wanderung, ein Nomadentum aus freier Entscheidung. Merkwürdig entleert ist Dominika, ohne Wünsche und Ansprüche, vorgefertigte Meinungen. Die Leere macht sie offen für die Welt, offen vor allem für die Geschichten der Menschen. Dominika wird zum Sehnsuchtsort für die, denen sie zuhört – ihre Gefährten entdecken in ihr, was sie verloren, doch nie vergessen haben. Der alten jüdischen Emigrantin Eulalia Barron liest Dominika im New Yorker Exil Homers „Odyssee“ und andere Klassiker vor. Eulalia erblickt in ihrer Vorleserin das Kindermädchen Władzia aus der Krakauer Vorkriegszeit. Der Holocaust hat Eulalias Ruhe auf immer gestört, überleben will sie, doch um zu erinnern. Eulalia verharrt im Vergangenen, jede Gegenwart – Liebe, Ehe, Scheidung – war und ist ihr einerlei. Ihre Lebensgeschichte vom stillen Glück des Lesens, Flucht und Rettung vererbt sie Dominika in einem Brief, es ist ihr später „Versuch, den Weg aus dieser Vergangenheit heraus zu finden“.

Erzählen kann heilen, auch in letzter Sekunde. Falsch angewendet kann es schaden wie andere Heilmittel. Der Friseur Tadeusz Kruk gerät in eine der Razzien, mit denen die Nazis die polnische Bevölkerung demütigten, und landet im Konzentrationslager. Ein Sonderling, harmlos auf Entfernung, abstoßend in der Nähe, war Tadeusz außerhalb des Lagers. An dem Ort, wo die seelischen Gesetze außer Kraft sind, findet er seine wahre Bestimmung: Tadeusz erblüht als Mitglied der Rasierbrigade. Den weiblichen Häftlingen nimmt er mit dem Schamhaar ihren letzten Schutz. Tadeusz rasiert inbrünstiger als seine Kollegen, die Frauen fürchten ihn gar mehr als manchen deutschen Aufseher. Seine Gewissenlosigkeit rettet ihn am Ort des Grauens und auch fürs Erste im Danach. Während die anderen Überlebenden schweigen, quasselt Tadeusz über die Schere hinweg seinen Kunden von Eiter, Hunger und den eigenen vermeintlichen Lagerwohltaten ins Ohr: „Tadeusz Kruk, der Friseur von Kamieńsk, meinte, die Wahrheit sei etwas, das entstehe, wenn man eine Geschichte oft genug wiederholte.“ Die Geschwätzigkeit der Täter siegt auf den ersten Blick über das Schweigen der Opfer. Jene, die nicht selbst im Lager waren, fühlen sich in Tadeusz’ Nähe plötzlich wohler als bei denen, die verstummt sind. Doch die Lagervergangenheit holt den Friseur von Kamieńsk ein. Die Macht der Erzählung, so Bator im zitierten Interview von 2010, beruhe darauf, dass man sich so dem Bösen widersetzen und in einer verseuchten Welt eine gute Geschichte schaffen kann.

Saras, Eulalias, Tadeusz’ Leben und die Lebensläufe vieler weiterer Figuren fließen in „Wolkenfern“ zu einer abwechslungsreichen und tröstlichen Erzählung zusammen. Joanna Bator durchschreitet dabei Zeit und Raum: Der Holocaust hat Mittelosteuropa gesprengt, das Ende des Kommunismus hat Polen wieder in die Welt zurückgeführt. In „Sandberg“, dem Vorgängerroman von „Wolkenfern“, zeigte Bator die Resignationen und immerwährenden Sehnsüchte der Bewohner von Wałbrzych und machte aus der unscheinbaren polnischen Provinz einen universalen Ort. Nun geht sie den umgekehrten Weg. Staunen macht, wie Bator in einem einzigen Roman die ganze Erde fest und sicher erzählerisch umspannt. Vielfältig sind die Verbindungen der Figuren untereinander, oft ohne dass sie davon erfahren. Jener Icek Kac, der Saras kindliche Erzählung liebevoll annimmt, ist der einzige Freund der melancholischen Eulalia Barron und erzählt ihr von seiner verlorenen Liebe Grażynka. Eulalia berichtet davon Jahre später Dominika. Dank derselben Grażynka haben Dominika und Sara sich in München kennengelernt. Ein umfangreiches Beziehungsgeflecht trägt die Theorien vom Erzählen, von Heimat und Geschlechtern. Die promovierte Joanna Bator hat die Wissenschaft zwar verlassen, um zu schreiben, doch nicht vergessen, was sie bei Julia Kristeva und anderen gelesen hat. Als Schriftstellerin macht Bator die komplizierte Theorie anschaulich. Leicht erzählt sie von Schmerzvollem und Grausamem, wohl aus der Erkenntnis heraus, dass es anders gar nicht geht. Ironisch, hell, empathisch klingt „Wolkenfern“ und eben auch – der Titel deutet es an – ein wenig fern der Wirklichkeit, utopisch-unmöglich.

Mit „Wolkenfern“ stellt Joanna Bator unserem virtuellen ein erzählerisches Netz gegenüber. Verbunden sind wir nicht in erster Linie durch digitale Leitungen und Satelliten, sondern durch Dinge, die schwerer wiegen: unser Schicksal und Verhalten. Wohin es Dominika auch verschlägt, sie trifft überall mehr oder minder dasselbe an. Grażynkas Nachbarinnen Frau Korn und Frau Zorn in der oberbayerischen Provinz lästern und neiden aus denselben Gründen wie Dominikas von Herzen unglückliche New Yorker Mitbewohnerinnen Pani Hania und Pani Stenia: unerfüllter Träume wegen, Ängste, Traumata. Die Anthropologin Bator hat sich literarisch also auch auf die Suche nach dem Typischen gemacht – um den Preis des Klischees in mancher Figurenbeschreibung. Auf langer Strecke hat sie gewonnen: Sie hat einen globalen Roman geschaffen, in dem sich nationale Barrieren auflösen und Kulturen einander näherkommen. Es ist ja so und nicht anders: Wir alle leben schlicht deshalb, um davon zu erzählen. Egal wo.

Titelbild

Joanna Bator: Wolkenfern. Roman.
Übersetzt aus dem Polnischen von Esther Kinsky.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
500 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783518424056

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