Kühn bleibt Kühn

Dieter Kühn veröffentlicht unter dem Titel „Das Magische Auge“ sein Lebensbuch

Von Erhard JöstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Erhard Jöst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wo Kühn draufsteht, ist Kühn drin. Seit bald einem halben Jahrhundert schreibt Dieter Kühn fleißig Bücher, mit denen er uns Persönlichkeiten vorstellt und Zeitumstände veranschaulicht. Jetzt hat er unter Beibehaltung seiner Schreibweise und Methode auf sein eigenes Leben zurückgeblickt. Er recherchiert akkurat Fakten und stellt Überlegungen an, wie anders sein Leben hätte verlaufen können, wenn in bestimmten Situationen andere Entscheidungen getroffen worden wären: „Meine Biographie hätte, von diesem Zeitpunkt an, nur noch Ähnlichkeiten, womöglich nur entfernte Ähnlichkeiten mit der Biographie, die in diesem Buch ihre angemessene literarische Form sucht. Eine andere Schule, andere Freunde, später eine andere Frau, noch später andere Kinder. Ich hätte wahrscheinlich auch in Heinsberg zu schreiben begonnen, aber in der Koordination, Konfiguration veränderter Faktoren hätte ich andere Texte geschrieben. Ich wäre mir vielleicht ähnlich, wäre aber nicht mit mir identisch geblieben.“ Dass er die Kunst des Fabulierens meisterhaft beherrscht, hat Kühn mit vielen Büchern unter Beweis gestellt. Und er hat bewiesen, dass es durchaus erkenntnisreich sein kann, wenn man sich einen ganz anderen Verlauf von Biografien und daraus folgend von der Geschichte ausdenkt. Aber bezogen auf sein eigenes Leben klingen diese Aussagen recht trivial, zumal anhand von ihnen keine grundsätzlichen Einwirkungen auf die historische Entwicklung aufgezeigt werden können. Die von Kühn praktizierte Methode, die bei seinen historisch-literarischen Biografien bestens funktioniert, führt bei seinem Lebensbuch zumeist auf einen Irrweg. Und sie verwirrt ihn zuweilen selbst, denn er bekennt: „Das Erfinden von Geschichten ist meine Passion, zumindest zeitweilig, aber ich konnte bisher genau auseinanderhalten, welche Geschichte erfunden, welche ‚authentisch‘ ist.“ Im autobiografischen Bereich kann er das nach eigenem Bekunden nicht immer.

Freilich kann uns ein versierter Autor wie Kühn auch Geschichte anhand von seinen eigenen Erlebnissen veranschaulichen, aber das gelingt nur dann, wenn er sich auf eigene ’Rekonstruktionsversuche‘ prototypischer Vorgänge konzentriert und sich nicht auf endlosen Seitenstraßen oder in einem genealogischen Dickicht verläuft. Es gelingt ihm manchmal durchaus, anhand von recherchierten Vorgängen die jeweiligen Zeitumstände und Strömungen transparent zu machen. Auch wenn das „Magische Auge“ des Radioapparats „für immer geschlossen“ ist: „Es leuchtet, leuchtet nach, grünintensiv, vor allem, wenn Erinnerung auf den Empfang solch eines Sendeimpulses justiert ist.“ Bereits im „Vorspiel“ macht Kühn mit der Beschreibung einer „geheimnisvollen Szene“ neugierig: „Die Lampe im Wohnzimmer ausgeschaltet, meine Mutter sitzt ganz nah am Radio, ihr markantes Profil schwach betont von grünem Licht, das von münzkleiner Fläche ausgeht, in der Schauseite des Radios – das Magische Auge, die Signalstärke, die Genauigkeit des Empfangs anzeigend mit grünem Doppelfächer.“ Und in der Tat liest man die Darstellungen mit Gewinn, mit denen der Autor seine private Geschichte mit der Mentalitätsgeschichte verbindet, denn sie erzählen die „Zeitgeschichte meines Landes“. Aber bei dem Versuch, anhand von Familiengeschichte die historischen Zeitläufe aufzuzeigen, verliert er sein Ziel öfters und über viele Seiten aus den Augen. Es wäre wirklich nicht nötig gewesen, jedem Familienmitglied nachzuspüren, zumal Kühn „großelternlos“ aufgewachsen ist. Überaus trocken lesen sich die Beschreibungen seiner genealogischen Nachforschungen. Dem Leser bringt es auch keinen Gewinn zu erfahren, welche Berufe Kühns Vorfahren ausgeübt haben und dass es zum Beispiel neben Rauchfleischhändlern „auch einen Maler unter den Vorfahren“ gab. Er fragt sich auch vergebens, weshalb ihm redundant mitgeteilt wird, in welchen Straßen und Orten die Familienangehörigen gewohnt haben. Als „Modell für die mögliche Rezeption“ seines Buches stellt sich Kühn vor, dass „durch die Lektüre ein korrespondierender Prozess der Selbstbefragung ausgelöst“ wird: „Dass sich etwas überträgt, dass etwas ausgelöst wird beim Lesen, hier und dort, dann und wann.“ Dieser Transfer gelingt aber nur dann, wenn er seine eigene Lebensgeschichte „unausweichlich mit Zeitgeschichte verbindet“, nicht aber mit der umständlichen Aufzählung der Tätigkeiten seiner Vorfahren.

Langatmig und langweilig sind Kühns Berichte über seine Tätigkeiten als Pfarrgemeinderat und als Kommunalpolitiker und Mitglied der Dürener Stadtverordnetenversammlung. Was soll es bringen, wenn die Tagesordnungspunkte und kleinkarierten Streitigkeiten im Stadtrat aufgezählt werden? Wenn der Leser erfährt, in welchem Raum der Bauausschuss tagte und wie lange die Sitzung dauerte? Wenn man liest:

„Tagesordnung: Protokollgenehmigung…Mitteilungen…Bauvoranfrage…Bauantrag…Bauvoranfrage…Bebauungsplan-Entwurf…Bauvoranfrage…Baulasten…Bauvoranfrage…Beschlussentwurf….“ Dass Gemeinderats-Sitzungen und ihre Bürokratie eine „spröde Materie“ bearbeiten und sehr öde sein können, weiß schließlich jeder und möchte es nicht auch noch in einem Buch auf diese Weise vorgeführt bekommen. Auch die Erfahrungen, die Kühn als Schöffe des Jugendgerichts gemacht hat und über viele Seiten ausbreitet, bringen kaum Gewinn. Der Leser nickt höchstens zustimmend, wenn er seinen Satz liest: „Was mich im Verlauf der Schöffenzeit zermürbte, waren die Wiederholungen.“

Überhaupt nichts anfangen kann man mit Kapiteln wie „Charles de Gaulle und ich“, wenn Kühn sich „die ‚eventualhistorische‘, alternative, virtuelle Entwicklung“ der Geschichte ausdenkt und fabuliert, wie seine Biografie verlaufen wäre, wenn die französische Armee mit einem Einmarsch den Nazi-Terror verhindert hätte: Er wäre wohl Lehrer für Deutsch und Französisch geworden, seine Frau Gisela würde Gisèle, sein Sohn Christophe würde Christóphe gerufen und bei seinem Sohn Thomas der Name „vorzugsweise auf der zweiten Silbe“ betont. Ja und? Welche Erkenntnisse soll der Leser daraus gewinnen?

Immerhin bietet Kühn recht amüsante Einsichten in den Universitätsbetrieb, wenn er schildert, wie er als Doktorand bei Benno von Wiese zuweilen an dessen Tafelrunden teilnehmen durfte.

Auch die Einblicke in einen erlebten Prozess sind gut nachvollziehbar. Als ein Autofahrer seinem Sohn Thomas als Radfahrer die Vorfahrt nimmt und ein Unfall passiert, kommt es zu einer Gerichtsverhandlung, deren Verlauf er sowohl belustigt als auch konsterniert verfolgt. Phasenweise gelingt es Kühn, „Zeitgeschichte zu rekapitulieren“, zum Beispiel durch die Darstellung des „lauernden, dauernden Grundgefühls der Bedrohtheit“ zur Zeit der Kubakrise, als die Menschheit an einem „Abgrund entlangbalancierte“.

Natürlich dürfen auch die Rückblicke und Hinweise auf seine Bücher nicht fehlen. Eingehend beschreibt Kühn, welche Widerstände er überwinden musste, um sein bekanntestes Buch bei seinem Verlag unterzubringen. Im Jahr 1977 erschien seine Biografie über Oswald von Wolkenstein, die ein „Longseller“ wurde. Es ist allerdings nicht allein sein Verdienst, dass der bis dahin – zumindest außerhalb der Germanistik – kaum beachtete Oswald zu einem der bedeutendsten Lyriker des späten Mittelalters avancierte. Und es ist ein bedauerliches Versäumnis, dass er in diesem Zusammenhang nicht wenigstens den 2012 verstorbenen Salzburger Mediävistik-Professor Ulrich Müller erwähnt, den Gründer der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft, dem es in erster Linie zu verdanken ist, dass Oswald heute einen herausragenden Platz in der Literaturgeschichte einnimmt.

Erkenntnisse vermitteln vor allem die Passagen, in denen Kühn das „unterkühlte Binnenklima der (jahrelang vaterlosen) Familie“ schildert, in der er aufgewachsen ist. Es wird deutlich, wie sehr er darunter gelitten hat, dass ihn seine Mutter nie in den Arm genommen und ihm keine Liebe gezeigt hat: „Da war Zuteilung (von Nahrung, von Kleidung), aber kaum Zuwendung.“ Wenn er die Beziehung zu seiner (in den Kriegsjahren alleinerziehende Mutter) schildert, kann er die Mentalitätsgeschichte seiner Jugendjahre aufzeigen. Sie deckt sich mit den Erfahrungen von Peter Weiss in dessen grandioser Erzählung „Abschied von den Eltern“. Denn die strenge, mit Schlägen verbundene Erziehung war prägend für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Kühn bilanziert nüchtern: „Ich habe meine Kindheit nicht als glückliche Kindheit erlebt. Aber auch nicht als exemplarisch unglückliche Kindheit.“ Freilich hat diese Erziehung ihre Spuren hinterlassen: „Ich war als Kind der NS-Ära darauf konditioniert worden, keine Gefühle zu zeigen, weder im Schmerz noch im Glück.“

Kühns „Lebensbuch“ bietet ein ungeordnetes Sammelsurium an Erlebnissen, Erinnerungen, Aufzeichnungen, Erfahrungen, Fakten, Berichten, Grundsatzfragen, Studien, Lesereisen, Assoziationen. Man hat den Eindruck, dass nichts ausgelassen wird: Von genealogischen Nachforschungen und Schreibprozessen über Borrelien-Attacken auf das Immunsystem bis zu archäologischen Funden bei Ausgrabungen ist jedes Thema vertreten, und manches Kapitel wird mit allzu trockener Gelehrsamkeit vorgetragen. Wenn Kühn der Frage „Wie funktioniert eigentlich mein Gedächtnis?“ nachgeht zitiert er Passagen aus wissenschaftlichen Zeitschriften, versucht die Funktion der „Messenger-RNA (mRNA)“ zu ergründen und hebt hervor, dass ihn „bei diesen Prozessen (chemischen Kaskaden)“ besonders der CREB2 interessiert, denn „dieser Stoff versucht nämlich, die Kopierverfahren zu unterdrücken.“ Leider denkt Kühn nie darüber nach, ob der Leser diese Fragen ebenfalls spannend findet. Sollte sich jemand tatsächlich brennend für diese Fragen interessieren, dann würde diese Person doch sicherlich eher wissenschaftliche Aufsätze lesen als die Antworten bei einem Schriftsteller suchen, der sie über die Erinnerung an die „chemo-elektrischen Vorgänge“ finden möchte, die man ihm in seiner „Schulzeit“ beigebracht hat.

In „Momentaufnahmen“ stellt Kühn seine Söhne und Enkel vor und was mit ihren Namen zwingend verbunden ist. Das gibt ihm die Gelegenheit, wahllos Stichworte und Begriffe aufzugreifen, von der Globalisierung bis zu der Frage, wie komplette Bücher „auf winzige Chips in kleinen USB-Sticks passen und wieso man derartige Datenmengen schlagartig abrufen kann.“ Eine kleine Auswahl an Themen und Schreibformen, die man in dem „Lebensbuch“ vorfindet: Reiseberichte (USA, Polen, Japan, China), Beschreibungen von Landschaften und Städten, Erlebnisse bei DDR-Besuchen, abgelehnte berufliche Angebote, therapeutische Gruppenspiele, Seminare, Rekonstruktionsversuche, Kombinationen von Erinnerungen, Briefe des Vaters entziffern, Hearings im Europaparlament in Brüssel, Reflexionen über „das Buch als so etwas wie eine Expedition von mir zu mir selber“, wobei „ein Wechsel in der Bewegungsrichtung jäh zu erneuter Selbstbegegnung führen kann“, „Selbsterfahrung, Stichwort Bamberg“, Einblicke in eine Dissertation über „die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland 1941 bis 1944“, Suche nach Zugängen zur Molekularbiologie“, denn „die Erkundung jener Sonderwelt wird auch zur spannenden Erkundung einiger Voraussetzungen meiner Existenz“, Stichworte zur „RNA-Polymerase“ und zur „Biosynthese: überaus komplexer, exakt durchorganisierter Vorgang in hervorragender Logistik, elaborierter Netzplantechnik, in perfektem Timing“, „Stichwort ‚Grützbeutel‘: kurzer Bericht über eine symptomatische, eine anekdotenreife Erfahrung: Wie ein Chirurg seinen Schnitt machte“, Funde in des Autors „Dokumentations-Endmoräne“ zum Thema „Image“, ein Bericht darüber, wie der Autor seine „zweite Schmetterlingsweihe erhielt auf der Anhöhe eines Castello, an der Grenze zwischen Umbrien und Toskana“, Hinweise darauf, wie die Stadtschreiber in Mainz ein „Elektronisches Tagebuch“ führen, ein Protokoll über die Arbeit am Set bei der Entstehung eines Films über Maria Sibylla Merian für das ZDF, eine Dokumentation der Auseinandersetzung mit dem Suhrkamp-Verlag, der sämtliche Bücher von Kühn sperrte, weil dieser nicht bereit war, seine „komplexe Schreibweise“ zu ändern, Besuche bei dem Vater in Düren mit „Seniorenfahrten“, die dazu führen, dass sich der Autor am Ende „Intensität statt Redundanz und Reduktion“ zuruft, aber diesen Ratschlag offensichtlich nicht realisiert. Die „IMPRESSIONEN, ASSOZIATIONEN“ finden erst nach 1274 Seiten ein Ende und hinterlassen einen erschöpften Leser, dem der Kopf brummt.

Immer wieder wirft Kühn die Frage auf: „Wie weit kannst du dich auf deine Erinnerungen verlassen?“ Aber ganz gleich, ob sie „unvermischt, unverfälscht“ sind oder möglicherweise eine „Erinnerungslegierung“, sie werden ausführlich berichtet – soll sich doch der Leser durch diesen Wust durchbeißen. Der Autor lässt sich nicht von seinem Weg abbringen: „Und wieder und weiterhin: Ich konzipiere…ich konzipierte…ich habe konzipiert…ich hatte konzipiert…ich werde konzipieren…ich werde konzipiert haben…(…) Ich führe ein Buchkonzept aus…ich führte ein Buchkonzept aus…ich habe ein Buchkonzept ausgeführt…ich hatte ein Buchkonzept ausgeführt…ich werde ein Buchkonzept ausführen…ich werde ein Buchkonzept ausgeführt haben…(…) Ich schließe einen Text ab…ich schloss einen Text ab…ich habe einen Text abgeschlossen…ich hatte einen Text abgeschlossen…ich werde einen Text abschließen…ich werde einen Text abgeschlossen haben…“.

Dieter Kühn bietet überaus reichlich eine ganz unterschiedliche Kost an, die schwer verdaulich ist. Die Rezipienten sollten Kostproben nehmen und sich lediglich die Leckerbissen einverleiben, die ihnen munden. Da der Tisch zur Genüge gedeckt ist, können sie sich satt essen – ob ihnen das Mahl schmeckt, das ist eine andere Frage.

Titelbild

Dieter Kühn (Hg.): Das Magische Auge. Mein Lebensbuch.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2013.
1270 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783100415134

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