Kurze Nacht mit magischer Wirkung

Ulrike Kolbs Roman „Die Schlaflosen“

Von Charlotte LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Charlotte Lamping

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Handlung von Ulrike Kolbs neuem kurzen Roman braucht nur eine einzige kurze Nacht, um sich zu entfalten – und was sie zutage fördert, ist gewaltig.

An einem Wochenende finden sich im Hotel Gut Sezkow, außerhalb von Berlin, Menschen zusammen, die alle unter einem Problem leiden: Sie können nicht schlafen. An einem Ort im Nirgendwo treffen sie unbekannterweise aufeinander, um in einem Schlafseminar das Schlafen (wieder) zu erlernen. Dies soll ein Professor, ein sogenannter Schlafpapst, bewerkstelligen. Das ganze Szenario entpuppt sich als eine Art „Warten auf Godot“, schwankend zwischen der Erwartung, er müsse doch nun endlich auftauchen, und dem Glauben, die Schlaflosen seien einem Betrüger aufgesessen.

Das Besondere des Romans ist, dass er im eigentlichen Sinne keinen Protagonisten hat. Dem Leser werden ungefähr ein Dutzend Figuren vorgeführt, die schlaglichtartig be- und durchleuchtet werden. Der Erzählkunst Kolbs gelingt es, durch perspektivischen Wechsel  sich sowohl im Innenleben  der Figuren bewegend als auch über allem schwebend, der nächtlichen Szenerie einen besonderen Reiz zu verleihen. Die Warterei auf den „Schlafpapst“ gerät zum Exzess: Es wird getrunken, gevöllert, die Emotionen kochen in jeder Hinsicht hoch, sexuelle Spannung macht sich breit; überhaupt geht es immer wieder um Verführung – nicht zuletzt bei dem Auftritt eines Zauberkünstlers.

Das ganze Geschehen hat etwas Magisches, denn die einander fremden Figuren lassen sich aufeinander ein, stoßen sich wieder ab, und manches Geheimnis wird gelüftet. Dabei kommt der Roman aber erzählerisch sehr leicht daher, fast schon traumwandlerisch, unaufgeregt, trotz der riesigen Probleme, die dort offenbart werden. 

Da wäre zum Beispiel Rottmann, schwankend zwischen Vitalität und Depression, ein ehemaliger Künstler und Kunstsammler. Oder auch Margot, die sich als Außenseiterin fühlt; sie ist tumorerkrankt, hat ein wechselhaftes Leben und keinen unbeachtlichen Erfolg als Schriftstellerin. Die äußerst imposante Moll verachtet das Schlafen naturgemäß und findet  es überflüssig. Es offenbaren sich die diversesten Gründe, die zur Schlaflosigkeit führen: Der Autounfall Peter Muliks oder Jeanines Schuldgefühle rauben den beiden Schlaf; die schöne Friederike macht eine Psychoanalyse, um nach dem Grund zu suchen, warum sie nicht schlafen kann, und muss feststellen, dass es ihn vielleicht gar nicht gibt.

Kolb beschreibt das Leben der verschiedenen Protagonisten, der „Schlaf-Loser“, als „etwas Unentschiedenes und Widersprüchliches“.  Die Vorgeschichten der Figuren, der Ort und die Zeit der Handlung offenbaren bei allen das, was Rottmann schon eingangs zum Ausdruck bringt: „Also, sagte er zu sich selbst“, als er im Hotel ankam, du bist „ganz da, wo du zu Hause bist: in schönster Ambivalenz“.

Kolbs Roman hat nur 200 Seiten, aber was er um- und anreißt, wie er die Lebens-, Glücks- und Krisengeschichten der Figuren beschreibt, in diese eintaucht, sich wieder von ihnen entfernt, sie nicht verurteilt, sondern sie darstellt, vermag in seiner präzisen Knappheit und großen Eindringlichkeit im Zeitrahmen nur einer grotesken Nacht  weit mehr vor Augen  zu führen als viele andere Romane mit doppeltem Umfang.

Der Roman schließt mit einem Satz, der vielleicht auch  auf den Leser zutrifft, bevor er spät nachts das Buch zuklappt: „während all das passiert, ziehen die Momente der Nacht vorüber, als hätte sich nichts ereignet, und als wäre kaum Zeit vergangen“.

Titelbild

Ulrike Kolb: Die Schlaflosen. Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2013.
200 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783835312111

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