Moorlandschaft ohne Pocahontas

Arno Schmidts Bargfelder Jahre werden hörbar

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als sich der Prosa-Avantgardist Arno Schmidt mit Mitte 40 in der Lüneburger Heide niederließ, hatte er schon ein Wanderleben mit etlichen Stationen hinter sich. 1914 in Hamburg geboren, war er in der Pubertät mit der Mutter nach Schlesien gezogen, war im Zweiten Weltkrieg Soldat in Norwegen und an der Westfront, dann Kriegsgefangener in einem Lager bei Brüssel. Seine Frau Alice und er trafen sich im Dorf Cordingen bei Walsrode wieder, wo sie als Flüchtlinge lebten, bis sie in die Gegend von Mainz umgesiedelt wurden. Von dort ging es in einen anderen Teil von Rheinland-Pfalz, ins Dorf Kastel an der Saar. Angeklagt wegen angeblicher Pornografie und Gotteslästerung in seiner Erzählung „Seelandschaft mit Pocahontas“, floh Schmidt 1955 aus dem Gerichtsbezirk Trier in das vermeintlich liberalere Darmstadt. Aber auch dort kam er nicht zur Ruhe, obwohl er sich nach einer ruhigeren, materiell halbwegs gesicherten Existenz sehnte. Schmidts erwogen eine Übersiedlung zur Verwandtschaft in die DDR. Eine Auswanderung nach Irland – Heinrich Böll vermittelte – zerschlug sich wegen mangelnder Finanzen. Sogar eine Tätigkeit als Küster zog der erklärte Atheist Schmidt in Betracht, weil die Stelle in der Nähe des astronomischen Observatoriums Lilienthal lag, über das er einen Roman schreiben wollte. Aber das war nur ein Grund: seit Cordingen, das fast genau in der Mitte des Dreiecks zwischen Hannover, Bremen und Hamburg liegt, war Schmidt von der Landschaft angetan und wollte nun am liebsten wieder ins norddeutsche Flachland ziehen. 1958 bot sich schließlich die Gelegenheit: Die Eltern des befreundeten Bildhauers Eberhard Schlotter, die in einem Dorf bei Celle lebten, berichteten von einem kleinen Holzhaus am Rand ihres Dorfes, das zum Verkauf stand. Ende des Jahres 1958 zogen Arno und Alice Schmidt mit ihrer Katze ein. Der schon vorher nicht gerade kontaktfreudige Schmidt schottete sich im Laufe der Jahre immer stärker ab. Aus der einst engen Arbeitsgemeinschaft der Schmidts (sie „durfte“ ihm assistieren und war darauf durchaus stolz) wurde zunehmend ein Einmannbetrieb: der Autor im einsamen Kampf mit seiner Schreibmaschine. Nicht umsonst genoß Schmidt einen Ruf als „Solipsist in der Heide“, wie ihn der Titel eines frühen Bandes mit Forschungsaufsätzen nannte. Zwar blieb er auf Einkünfte aus Übersetzungen angewiesen, aber seit den 1960er-Jahren konnte er sich zumindest aussuchen, wen er ins Deutsche übertrug – hauptsächlich waren es nun Edgar Allan Poe und James Fenimore Cooper, die er seit Schulzeiten bewundert hatte, und der viktorianische Autor Edward Bulwer-Lytton. Vor allem aber schrieb er Seite um Seite eigenwilliger, faszinierender Prosa, die unter dem Einfluss von Joyce, Freud und Lewis Carroll wild mit der Sprache spielt. Fast jeder dieser Texte ist zugleich eine Hommage an die liebgewordene Heidelandschaft, die der Autor spielerisch und bis ins letzte Detail beschreibt. Aufs äußerste gedehnt ist das im 1970 erschienenen „Zettel’s Traum“, in dem Schmidt 24 Stunden in einem halb-fiktiven Heidedorf namens Ödingen lebendig werden lässt. Damit will er nicht nur offensichtlich mit Joyce und seinem „Ulysses“ gleichziehen, sondern ihn noch übertreffen – die 1.334 DIN A 3-Seiten des Buches entsprechen etwa 5.000 gewöhnlichen Buchseiten. Klappendorf, Giffendorf, Schadewalde – immer wieder taucht ein verfremdetes Bargfeld in seinen Texten auf. Schmidt verließ das Dorf kaum noch, erst recht nicht mehr nach einem Herzinfarkt, den er 1972 erlitt. Sieben Jahre später starb er in einem Krankenhaus in Celle an den Folgen eines Gehirnschlags; der letzte Roman „Julia, oder die Gemälde“ blieb Fragment.

Für die Leser, die Schmidts Arbeiten seit Jahrzehnten verfolgt haben, sind der Autor und sein Wohnort praktisch synonym geworden. Michael Ruetz hat Haus und Landschaft schon Anfang der 1990er Jahre einen – längst vergriffenen – Bildband gewidmet, Schmidts eigene Landschaftsfotos kursieren in von Janos Frecot herausgegebenen Alben, und zum 100. Geburtstag des Autors in wenigen Wochen soll ein weiterer Band namens „Bargfeld Nr. 37“ erscheinen, der Schmidts Zeit in diesem Landstrich ausführlich würdigen soll. Aber alle diese Bücher arbeiten „nur“ mit Text und Bild. Mit dem vorliegenden Hörbuch, zusammengestellt von Susanne Fischer und Bernd Rauschenbach, Geschäftsführerin und geschäftsführendem Vorstand der Arno Schmidt Stiftung, wird Bargfeld nun auch ein akustisches Denkmal gesetzt. Die Aufnahmen sind nicht neu, es handelt sich um den Mitschnitt einer Lesung, die bereits 2010 in Bargfeld stattfand.

Was man in gut 100 Minuten zu hören bekommt, ist eine ausgewogene Mischung aus literarischen Texten, Dokumenten und Zeitzeugenberichten, die sowohl alten und alt gewordenen Schmidt-Afficionados als auch Neueinsteigern etwas bietet. Neben Auszügen aus „Kaff auch Mare Crisium“ und „Kühe in Halbtrauer“, die beide in einem fiktionialisierten Bargfeld spielen, liest Matthias Neukirch das Herzstück des Doppelalbums – die bitterböse Erzählung „Piporakemes!“, in der ein englischer Philologe einen griesgrämigen Faulkner-Übersetzer besucht, der zurückgezogen in der Heide lebt; das vielleicht komischste, in jedem Fall aber das grimmigste Selbstporträt des Autors. Für den eingefleischten Schmidt-Leser ist das nichts Neues, aber man hört seine Prosa immer wieder gern. Die meisten Texte werden von einem Trio eingelesen, das neben Rauschenbach aus Stiftungsvorstand Jan Philipp Reemtsma und dem Anwalt Joachim Kersten besteht. Alle drei haben bereits viele Hörbücher mit Schmidts Texten eingelesen – auch für den Hoffmann und Campe Verlag, der sich in den letzten Jahren zur Anlaufstelle für Arno-Schmidt-CDs entwickelt hat. Die Altgedienten – zu ihnen gehört auch Fischer als Moderatorin – machen es gut. Doch Neukirch, sonst Ensemblemitglied am Deutschen Theater in Berlin, ist die eigentliche Entdeckung auf dem Album. Er ist ein echter Farbtupfer, der ungewohnte Seiten aus der Erzählung hervorkitzelt, gerade weil er anders klingt als der sonore, kanonisierte Stil, mit dem Reemtsma und seine Mitstreiter zu Werke gehen.

Aber während die erste CD vor allem bisherige Nicht-Schmidt-Leser ansprechen mag, finden sich die hörenswerten Stellen für die eigentlichen Fans auf dem zweiten Album, auf dem Schmidts Besucher zu Wort kommen, Fans und Kollegen, die es trotz Schmidts ablehnender Haltung fertigbrachten, von ihm vorgelassen zu werden. Bereits verstorbene Verehrer wie Hans Wollschläger und der Bielefelder Germanist Jörg Drews sind nur noch in Textform präsent. Dafür berichten Rauschenbach und Reemtsma, der Gründer und Geldgeber der Stiftung, ausführlich von den Nachmittagen im kleinen Holzhäuschen, in dem sie zu Gast waren – der Millionenerbe Reemtsma sogar als Mäzen, der in den letzten Lebensjahren Schmidts Lebensunterhalt bezahlte. So konnte der sich ganz auf seine eigentliche Arbeit konzentrieren und war nicht mehr auf den Zusatzverdienst als Übersetzer angewiesen. Der Lilienthal-Roman, den er als Erstes schreiben wollte, kam aber nicht mehr zustande.

Wenn man Schmidt nie gelesen hat oder von seinen Texten abgestoßen ist (das kommt vor), mag man das alles für ein wenig hagiografisch halten. Das wäre aber schade, denn „Mond, Nebel & Regen erste Qualität ist ein liebevoll zusammengestelltes Porträt, das neugierig machen soll. Der Schmidt, den die Besucher hier beschreiben, ist wenigstens teilweise neugieriger und weltoffener, als es die vom Autor rigoros betriebene Selbstinszenierung vermuten lässt. Zudem handelt es sich eben nicht um ein kritisches Porträt, sondern um eine Hommage. Mag sein, dass auch zu diesem Ausnahmeautor Kritisches zu sagen wäre, aber das ist hier nicht zu hören. Dieses Hörbuch feiert Schmidt, und mehr soll es auch nicht.

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Arno Schmidt: Mond, Nebel & Regen erste Qualität [Tonträger]. Arno Schmidt in Bargfeld.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2013.
108 min, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783455307023

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