Die Schatten der Vergangenheit

In ihrem neuen Roman „Das Leben, natürlich“ erzählt die Pulitzer-Preisträgerin Elizabeth Strout die Geschichte einer zerrissenen Familie vor dem Hintergrund einer verunsicherten Gesellschaft

Von Paula BöndelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Paula Böndel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Brüder Jim und Bob Burgess, Protagonisten des Romans „Das Leben, natürlich“ („The Burgess Boys“, 2013), könnten kaum unterschiedlicher sein. Dies gilt auch für die beiden Orte, an denen die Handlung des Romans spielt: New York City und Shirley Falls, eine fiktive Provinzstadt im Bundesstaat Maine.

Die Burgess-Brüder, die in Shirley Falls aufgewachsen sind, hat es nach New York verschlagen, wo sie beide als Rechtsanwälte arbeiten. Während Jim, ein Harvard-Absolvent, es als Strafverteidiger ganz nach oben geschafft hat, fristet Bob, der dem Stress des Gerichtsaals nicht gewachsen war, ein Leben als Rechtshelfer am Berufungsgericht. Auch ist Jim mit einer reichen Frau verheiratet, bewohnt ein großes Haus in Brooklyn und hat drei Vorzeigekinder, die inzwischen das Elternhaus verlassen haben und auf die Universität gehen. Bob dagegen ist kinderlos geblieben und geschieden. Er lebt ebenfalls in Brooklyn, aber in einem bescheidenen Wohnungsblock, den Jim abschätzig das „Studentenwohnheim“ nennt.

In Shirley Falls sind die Brüder hauptsächlich aus zwei Gründen in Erinnerung geblieben: Als Vierjähriger hat Bob einen Autounfall verursacht, bei dem der Vater der drei Burgess-Kinder ums Leben kam. Dieses Ereignis hat die Familie offensichtlich so erschüttert, dass niemals darüber gesprochen wurde, was einen nachhaltigen Einfluss auf die Beziehung der Kinder zueinander hat. Bobs Zwillingsschwester Susan hat ihm gegenüber eine starke Antipathie entwickelt, während Jim, arrogant und selbstbezogen, ihn ständig herablassend behandelt. Bob dagegen schaut zu Jim auf, der als einziger aus dieser Kindheit im Schatten der Tragödie heil herausgekommen zu sein scheint. Er hat es zu landesweiter Berühmtheit gebracht, als er in einem spektakulären Prozess (dem O.-J.-Simpson-Prozess vergleichbar) für den Soulsänger Wally Packer einen Freispruch erwirkte. An der Unschuld von Packer, dem zu Last gelegt wurde, den Mord an seiner weißen Freundin in Auftrag gegeben zu haben, glaubte kaum jemand. Aber „Jim machte seine Sache großartig“ und trat später in eine Großkanzlei in Manhattan ein.

Nach Shirley Falls sind Jim und Bob seit Jahren nicht mehr zurückgekehrt. Dies ändert sich schlagartig, als Susan, die in der Provinzstadt geblieben ist, die beiden Brüder um Hilfe bittet. Ihr 19-jähriger Sohn Zachary hat einen halb aufgetauten, blutigen Schweinekopf in eine Moschee rollen lassen, und dies zur Gebetszeit im heiligen Monat Ramadan. Die ungeheure Tat erschüttert nicht nur die muslimische Gemeinde, sondern sorgt für einen Skandal, der weit über Maine hinausreicht. Dem Jungen droht eine Anklage wegen Verletzung der Bürgerrechte; möglicherweise wird die Tat sogar als Hassverbrechen verhandelt, was im Falle einer Verurteilung mit einer Gefängnisstrafe geahndet wird.

Shirley Falls, wie auch der Bundesstaat Maine, „hängt am Tropf“: wirtschaftliche Rezession, hohe Arbeitslosigkeit, kaum Perspektiven für junge Menschen. In den letzten Jahren haben sich muslimische Flüchtlinge aus Somalia dort niedergelassen, die dem grauenhaften Bürgerkrieg in ihrem Land entflohen sind. Während wenige Einheimische versuchen, die traumatisierten Menschen zu unterstützen, werden sie von anderen als „etwas, das ertragen sein wollte, wie ein harter Winter, die hohen Benzinpreise oder ein missratener Sprössling“ angesehen. Die meisten allerdings betrachten diese fremd wirkenden Menschen als „reine Sozialhilfeschnorrer“, die sich nicht integrieren wollen. Susan Burgess, die verbitterte, alleinerziehende Mutter von Zachary, bildet hier keine Ausnahme. Dennoch hält die Stadt nach dem jüngsten Ereignis eine Kundgebung unter dem Motto „Für ein tolerantes Miteinander“ ab, an der Jim und Bob Burgess teilnehmen und bei der Jim eine glänzende Rede hält.

Dass die Schatten der Vergangenheit unverändert auf die Burgess-Geschwister fortwirken, wird mit der Rückkehr von Jim und Bob nach Shirley Falls offenkundig. Susan – ungeliebt von der Mutter, vom Ehemann verlassen – führt mit ihrem Sohn ein karges Dasein in einem kleinen, ungemütlichen Haus, das sie kaum heizt. Dort treffen sich mehrmals die Geschwister, und die alten Spannungen werden wieder an die Oberfläche gespült. Die Versuche der Brüder, gerade die des sich selbst überschätzenden Jim, ihrem Neffen zu helfen, verkehren sich eher in das Gegenteil. Während die Geschichte für Zachary immer dramatischer wird, werden die Burgess-Brüder mehr und mehr mit ihrer Kindheit konfrontiert. Als das Leben von Jim aus dem Ruder zu laufen beginnt, vertraut er in einem Moment der Verzweiflung Bob seine Version des Unfalls an. Dies bietet nicht nur eine überraschende Wendung in der Romanhandlung, sondern stellt die Vergangenheit aller in Frage und zeigt gleichzeitig, wie wenig der Mensch in der Lage ist, einem verdrängten Trauma zu entkommen.

Elizabeth Strout ist im Bundesstaat Maine aufgewachsen und lebt heute in New York. Wie viele Szenen in diesem Roman spielen Strouts frühere Romane, darunter auch der 2009 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete „Olive Kitteridge“, 2007 („Mit Blick aufs Meer“, 2010), im kleinstädtischen Milieu Neuenglands. Was das Prägende dieses Milieus anbelangt – die verschlossenen Menschen mit ihren Ängsten und Frustrationen, das Unausgesprochene in ihren Beziehungen, das Gefühl der Scham, wenn Ehen scheitern oder Kinder auf Abwege geraten – darin ist Strout eine literarische Meisterin. Auch als intensive Beobachterin menschlicher Handlungen und seelischer Prozesse schafft die Autorin vielschichtige Figuren. So ist Zachary, ungeachtet der Verwerflichkeit seiner Tat, nicht wirklich ein Rassist, sondern ein unreflektierter, orientierungsloser Junge, der schwer am Verlust seines Vaters durch die Trennung seiner Eltern zu tragen hat. Und dem gutmütigen, liberalen Bob, „der an die Unantastbarkeit der Verfassung und das Recht der Menschen, aller Menschen, auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“ glaubt, schießt beim Anblick eines Somalis in Shirley Falls der Gedanke durch den Kopf: „Solange es nicht zu viele werden“. Sogar Jim und Susan Burgess fordern dem Leser am Ende des Romans, wenn nicht gerade Sympathie, so doch ein gewisses Maß an Verständnis ab.

Mit Empathie verleiht Strout den somalischen Flüchtlingen, die eine Schattenexistenz in Shirley Falls führen, eine Stimme, indem Teile des Romans aus der Perspektive des Cafébesitzers Abdikarim Ahmed erzählt werden. So wird in der Annäherung an eine fremde Kultur dem Leiden der Menschen an der neuen Kultur, aber zugleich ihrer Skepsis dieser gegenüber und ihrer Befürchtung, ihre Kinder könnten zu Somali-Amerikanern, „Bindestrich-Menschen“, werden, Ausdruck verliehen. Auch die Perspektiven von Figuren, die eher an der Peripherie stehen, wie Helen, die Ehefrau von Jim, und Pam, die Exfrau von Bob, werden einbezogen. Aus verschieden Blickwinkeln erzählt, werden die Burgess-Brüder näher beleuchtet und das New Yorker Leben mit dem in der Provinzstadt kontrastiert. Doch weicht das Mäandern zu den Nebenschauplätzen die Geschlossenheit des Erzählten auf, und am Ende lässt die Erzählerin die Handlung in der Schwebe. Die Protagonisten scheinen bereit, einen neuen Anfang zu wagen, aber ob die Dinge tatsächlich eine neue Wendung nehmen, wird dem Urteil des Lesers überlassen. Auch die Frage nach dem Hergang des Unfalls wird nicht eindeutig geklärt, so dass der Leser aufgerufen ist, sich sein eigenes Urteil zu bilden.

Elizabeth Strout hat stets für ihre Romane – wie auch Alice Munro, die zu ihren großen Vorbildern gehört, für ihre Erzählsammlungen – zurückhaltende Titel gewählt: „Amy and Isabelle“, 1998, „Abide with me. A Novel“, 2006, „Olive Kitteridge“, 2007 und „The Burgess Boys“, 2013. Umso unverständlicher ist die Wahl des Titels „Das Leben, natürlich“ für die deutsche Übersetzung: Er ist nicht nur unpassend, sondern sogar irreführend. Schade um diesen sehr lesenswerten Roman mit kleinen Schwächen.

Titelbild

Elizabeth Strout: Das Leben, natürlich. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Sabine Roth und Walter Ahlers.
Luchterhand Literaturverlag, München 2013.
400 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783630873442

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