Psychogramm einer Generation

Über Philippe Djians „Wie die wilden Tiere“

Von Roman HalfmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Roman Halfmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um was es geht: Der Sohn schießt sich während einer Party eine Kugel in den Kopf, womit das Leben von Marc zum Stillstand kommt. Seine zweite Frau verlässt den in hilfloser Trauer erstarrten Künstler zögerlich und die wenigen verbliebenen Freunde denken ohnehin, irgendwann müsse es mit der Trauerarbeit auch mal erledigt sein. Als Marc dann eines Tages die hübsche Gloria aus einer Lache aus Erbrochenem rettet und sie bald schon bei ihm einzieht, scheint es am Ende des Tunnels immerhin Licht zu geben, obgleich er keine Ahnung hat, was er mit dem Mädchen nun anfangen soll und warum er sich überhaupt für sie interessiert. Dafür scheint sein bester Freund sehr wohl eine Absicht zu hegen – oder wer stalkt hier wen?

Der Franzose Philippe Djian ist einer dieser Autoren, der mit seinem Frühwerk viele junge Menschen lebensphilosophisch beraten oder gar erweckt hat, um nun den Zorn eben dieser Erweckten massiv auf sich zu ziehen: Zorc, sein Held der Trilogie „Erogene Zone“, „Betty Blue“ und „Rückgrat“, erlitt in den 1980er Jahren die Affären, Besäufnisse, Schreibblockaden und magischen Zen-Momente, die der durchschnittliche Europäer so gerne gehabt hätte, aber niemals hatte: Wenn Zorc angesichts eines Baums in mystische Verzückung gerät, dann liest sich das wie bei Kerouac oder Henry Miller ungeheuer anregend, doch kann der eigene mitteleuropäische Laubbaum da irgendwie nicht mithalten. Auch das Bier schmeckt bei Weitem nicht so erregend, der ureigene Rausch ist weit weniger berauschend, von den eigenen Schreibversuchen ganz zu schweigen, die in Djian Romanen stets etwas Verheißungsvolles bedeuteten: Tja, man schwitzt vor dem leeren Blatt wie Zorc, doch dies nicht vor Erregung, sondern vor Scham, weil nur unsinniges Zeug herauskommt.

Kurz: Djian hatte das Talent, den Alltag auf geheimnisvolle Weise mit Bedeutung aufzuladen. Und natürlich, das haben auch Bukowski und die genannten Kerouac und Miller getan, doch indes diese in historisch gewordenen Aktionen auf Züge sprangen, sich auf unerhörte Weise asozial verhielten oder einen unrealistischen Sexismus predigten, blieb der Franzose stets auf dem Teppich – und erschien damit greifbar, wiederholbar. In diesem Sinn hat Djian sicherlich eine Menge Menschen vor allem literarisch beeinflusst.

Umso heftiger dann der Fall. Mitte der 1990er-Jahre war das, die Trilogie um Saint-Bob läutete es ein, denn nun verweigerte sich Djian urplötzlich konsequent den Erwartungen, was ja an sich schon mutig genug ist. Anstatt zum hundertsten Male Zorc von der Leine zu lassen, änderten sich die Inhalte und vor allem der Stil. Die Protagonisten wurden älter, wurden vor allem lächerlicher, angreifbarer: Das Leben bestand zunehmend nicht mehr aus Sauereien und ekstatischen Einsichten, es wurde trivialer, berechnender, desillusionierend. Die Helden scheiterten, ihre Ehen gingen in die Brüche, die Affären gestalteten sich schal und klischeehaft.

Fassungslos und enttäuscht reagierte die Fangemeinde, mit Verschwörungstheorien schnell bei der Hand: Der Übersetzerwechsel habe den Zauber zerstört, hieß es. Dabei schließt Djian sehr wohl und immer wieder an sein Frühwerk an. Aus den sympathischen Lebenskünstlern der Frühzeit, die Bier trinkend Romane schrieben und nebenbei die Liebe zum Leben in all ihren Facetten und Unglaublichkeiten entdeckten, sind vierzig-, fünfzigjährige, allein um sich kreisende Männer und Frauen geworden, an denen die Zeit vorübergegangen ist. Vielleicht erklärt dies die Wut der ehemaligen Anhänger, die sich in den Romanen klammheimlich beim eigenen Verfall zusehen müssen: Das Leben, es bietet nichts mehr oder nur noch sehr wenig, und die ehemals antreibende Lebenslust ist längst dem Zynismus gewichen. So herrscht in jeder Dialogzeile Unglaube und Panik sowie die latente Erkenntnis, dass es dies alles eigentlich schon gewesen sein könnte: Die Verheißungen der sorgenfreien 1980er-Jahren des letzten Jahrhunderts sind ermattet, doch die Hedonisten denken gar nicht daran, sich zur Ruhe zu setzen und alt zu werden – wie auch? Sie sind ja niemals richtig erwachsen geworden.

Es ist das Psychogramm der in der Mitte des letzten Jahrhunderts Geborenen, das Djian mit jedem Roman weiter aufzeichnet und in ihrem demütigenden Verfall begleitet. Da winden sie sich dann diese Altgewordenen, die sich doch noch jung geben, aber nebenbei ihre eigenen Kinder zur Strecke bringen – und allein der Stil der Prosa lässt noch den Gedanken an Würde zu.

Ja, der Stil. Während es inhaltlich um eine unerbittliche Abrechnung mit der Generation Zorc geht, hat der Franzose es geschafft, über unzählige Romane hinweg eine stilistische Brillanz zu etablieren, die tatsächlich einem Gesamtkunstwerk gleichkommt: Experimentell, niemals auf der Stelle tretend oder gar berechenbar, so lotet Djian die Möglichkeiten seines literarischen Könnens stets neu aus. Selbstverständlich gehören hierzu auch Querschläger, Versager: „Doggy Bag“, der sechsteilige Versuch einer literarischen TV-Adaption, der Porno-Roman „Schwarze Tage, weiße Nächte“ – geschenkt. Aber eben dennoch Versuche, die eigenen Grenzen immer wieder aufzusprengen, um am Ende so einen Roman wie den hier besprochenen zuwege zu bringen, als weiteren Baustein des angestrebten perfekten Erzählens.

Titelbild

Philippe Djian: Wie die wilden Tiere. Roman.
Übersetzt aus dem Französischem von Oliver Ilan Schulz.
Diogenes Verlag, Zürich 2013.
227 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783257068696

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