Die Welt, wie sie nicht sein sollte

Navid Kermani erreicht in seinem Band „Ausnahmezustand. Reisen in eine beunruhigte Welt“ eine hohe Kunst der Reportage

Von Laslo ScholtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laslo Scholtze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Navid Kermani, vielfach ausgezeichneter Schriftsteller und Orientalist persischer Herkunft, hat seit 2005 mehrere Reportagen aus Krisenregionen des Orients geschrieben, in verschiedenen Medien publiziert, nunmehr in einem Band bei C. H. Beck versammelt.

Kermanis Reportagen zeichnen sich durch eine große Nähe zu den Menschen, denen er begegnet, sowie durch eine kluge Reflexion und Einordnung seiner Beobachtungen aus. Er ist an Orte gereist, an denen sich die Gewalt eingenistet hat, Menschen sich an unmenschliche Umstände gewöhnen mussten und gezwungen sind, inmitten von Verheerungen zu existieren: Kaschmir, Indien, Pakistan, Afghanistan, Iran, Syrien, Palästina und, als einzige europäische Station, Lampedusa. Wie er von dort berichtet, umsichtig und mit Blick fürs Detail, angesichts drastischer Zustände auf jeden schrillen Ton, auf jede Effekthascherei verzichtend, hebt seine Reportagen in den ersten Rang des Genres.

So übersättigt die meisten Leser an Berichten aus Krisen- und Kriegsregionen sein dürften, gelingt es Kermani doch, einen neuen, unverbrauchten Blick gerade dort zu eröffnen, wo zuvor Unmengen von Meldungen das Terrain medial vermeintlich abgedichtet hatten. Er wird als Demonstrant von iranischen Milizen verfolgt, erlebt die Ankunft dem Tod nur knapp entronnener Flüchtlinge auf Lampedusa und dokumentiert frische Spuren von Hinrichtungen in einem syrischen Krankenhaus. Den Situationen unmittelbar ausgesetzt und der Subjektivität des Erlebens bewusst, bleiben seine Berichte präzise und ausgewogen.

Das „Nah dran“, jenes Reporter-Prädikat schlechthin, geht bei Kermani Hand in Hand mit einer behutsamen, feinsinnigen Wahrnehmung. Dies zeigt sich besonders auch bei seinen mehr oder weniger zufälligen Begegnungen: auf dem Friedhof, beim Gebet im Sufi-Schrein, im Café oder in privaten Wohnzimmern, in die er zum Tee eingeladen wird. So erzeugt Kermani ein Verständnis dafür, wie weltpolitische Konflikte ins Leben der Einzelnen hineinwirken, sie dazu nötigen, sich Tag für Tag im Ausnahmezustand einzurichten, vor ihm zu fliehen oder auch sich gegen ihn aufzulehnen. Es ist etwas Exklusives, was Kermani mit diesen Quellen, diesen Erfahrungen, diesem Verständnis anbietet. Daher beendet der Leser die Lektüre bereichert und belehrt im besten Sinne.

In einem Radio-Interview zu seiner jüngst unternommenen Ex-Jugoslawien-Reise sagte Kermani, diese habe ihm eine „natürliche Vielfalt“ der Menschen vor Augen geführt: „Die Menschen können eigentlich, so, wie sie aufgewachsen, wie sie gelebt haben, viel eher mit Selbstverständlichkeit mit Unterschieden umgehen, als es ihnen von den Ideologien gepredigt wird. Die religiösen Menschen zum Beispiel haben selten ein Problem miteinander, die jungen Menschen auch nicht, die Schriftsteller auch nicht. Und diese Normalität der Vielfalt festzuhalten, das ist, glaube ich, die Aufgabe, die […] wir natürlich auch im eigenen Umfeld fortführen müssen.“ Auch wenn dies in Bezug auf Ex-Jugoslawien gesagt wurde (von dem im vorliegenden Band nicht die Rede ist), scheint Kermani hier einen Kern eben jener Haltung zu formulieren, die auch sein Reportagen-Buch so eindrücklich macht: Die natürliche Vielfalt festzuhalten, sie einfühlsam und genau zu beschreiben und dadurch zu schätzen.

Kermani vermag es, auf etwas Gutes, etwas Wertvolles und Bewahrenswertes hinzuweisen. Obwohl ihn seine Reisen gerade an Orte führen, an denen all dies am ärgsten bedroht, oft auch zerstört ist – und seine Klarsichtigkeit für diese Zerstörungen ungetrübt bleibt.

Titelbild

Navid Kermani: Ausnahmezustand. Reisen in eine beunruhigte Welt.
Verlag C.H.Beck, München 2013.
253 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783406646645

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