Landliebe mit Schuss

In „Zwischen Nera und Karasch“ erzählt Dragan Aleksic ein stereotypes Schicksal

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 1958 in Bela Crkva (Weißkirchen) in Jugoslawien (heute Serbien) geborene Dragan Aleksić studierte in Belgrad Kunstgeschichte und debütierte 1992 mit dem Roman „Kjaroskuro“ („Helldunkel“). Weitere Romane und Geschichten folgten, bis es nach seiner Auswanderung in die USA 2006 still um den Autor wurde. Zur Leipziger Buchmesse 2011, auf der Serbien Gastland war, erschien „Vorvorgestern. Geschichten die vom Glück handeln“, als erstes seiner Werke auf Deutsch. Den Prosaminiaturen über den Alltag in Aleksićs Geburtsort und das Landleben in der Vojvodina, genauer dem südlichen Banat, direkt an der Grenze zu Rumänien, folgt nun sein bisher letzter, im Original 2007 erschienener Roman: „Zwischen Nera und Karasch“.

Schauplatz ist wieder das kleine Heimatstädtchen des Autors im jugoslawischen Banat, das nach dem zweiten Weltkrieg serbischer wird. Der Ortsname wird zwar nicht genannt, ist aber leicht zu erschließen.

Im ersten Kapitel steht das Heranwachsen des namelosen Ich-Erzählers im Vordergrund. Es geht um die erste unglückliche Liebe, die Einschulung, die Erkundung der Umgebung und das Beobachten der Erwachsenen. Die Neugier der pubertierenden Dorfjungen findet ihren Höhepunkt beim abendlichen Observieren der Ambulanz, wo sich weibliche Angestellte regelmäßig heimlich mit den Männern der Kleinstadt vergnügen. Dieses „private Erotikkino“ war über Jahre der Mittelpunkt feuchter Träume und erster Einblicke in die Welt der Erwachsenen. Der Rest des Landlebens war von Alkoholismus, häuslicher Gewalt und der Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges geprägt. Der Erzähler erlebt ein erbärmliches erstes Mal und heiratet, wird glücklicher Vater einer Tochter, bis Ljubica, seine Frau, eine Stelle in eben jener Antitrachom Ambulanz annimmt.

Das 20 Seiten kurze zweite Kapitel beschreibt die Geschichte der kleinen Grenzstadt von ihrer Gründung durch deutsche Siedler, bis zum Zerfall der k. und k. Monarchie und dem Zuschlag zum Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen nach Ende des Ersten Weltkrieges. Akribisch und nüchtern chronologisch wird die enorme administrative, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung geschildert. Das friedliche Zusammenspiel der verschiedenen Kulturen, Religionen und Nationen prägt das Städtchen und seine Bewohner. Eingeschlossen von zwei Grenzen, die nur zwei und sechs Kilometer entfernt liegen und unter serbischer Verwaltung, verlassen Deutsche und Ungarn ihren Heimatort, der langsam bedeutungslos wird.

Im abschließenden dritten Kapitel eskaliert das Familienleben des Protagonisten. Er unterstellt seiner Frau, nun auch eine der „Huren der Ambulanz“ zu sein, beginnt maßlos zu trinken, kämpft darum, seine Tochter nach dem Auszug der Frau, die seiner übertriebenen, unbegründeten Eifersucht überdrüssig ist, bei sich behalten zu können und treibt sich mit Rachegelüsten um. Sturzbetrunken und bewaffnet sucht der eifersüchtige, mutmaßlich gehörnte Ehemann die Familie eines vermeintlichen Freiers seiner Ljubica und anschließend ihr Elternhaus auf.

Die Sprache des Autors ist schonungslos direkt, bisweilen können allerdings die Zeitblenden etwas verwirren. Wunderbare Naturbeschreibungen wechseln sich mit unverblümt wiedergegebenen Sexualakten und mörderischen Begebenheiten aus der Nachbarschaft ab. Schnaps und Revolver sind immer griffbereit, Trauer und Jähzorn nah beieinander. Der sehr klischeehaften Darstellung des balkanischen Landlebens, wo Ehemänner fremdgehen, ihre Frauen verprügeln und in Schlangenlinien stets zur oder aus der nächsten Kneipe kommen, möchte man als kritischer Leser ebenso wenig Glauben schenken, wie den ständig fallenden Schüssen, Kindsmord, Vergewaltigung, Totschlag oder dem Vater, der im Irrenhaus landet, weil er im Suff seiner dreimonatigen, geliebten Tochter aus Versehen das Leben nimmt. Lässt einem der Teufel wirklich keine Ruhe? Muss man sich, wie der Protagonist es formuliert, seine „Portion Schmerz und Scheiße abholen“?

Die Selbstverständlichkeit der multikulturellen Dorfgesellschaft und ihre Sprachenvielfalt bringt Aleksić hingegen zwischen den Zeilen faszinierend zum Ausdruck. Das zweite Kapitel ist eine Hommage an das von Toleranz geprägte, funktionierende Zusammenleben und den damit verbundenen Aufstieg einer Region, wie es ihn in Mittel- und Südosteuropa vielerorts gab. Damit kritisiert der Autor unterschwellig auch den Zerfall Jugoslawiens, was er mit Zitaten von großen jugoslawischen Musikern wie Darko Rundek und Goran Bregović unterstreicht. Seine für die Region bis heute typische Emigrationsgeschichte leben Tibor und Rašajaski, zwei Jugendfreunde, dem Protagonisten vor: „Beide sind weggegangen, um anderswo zu leben, Kinder in die Welt zu setzen, alt zu werden, zu trinken“.

Wenn ein Autor mit dem Beginn des Zerfalls Jugoslawiens zu schreiben beginnt, 15 Jahre später seine Heimat verlässt und seither literarisch schweigt, wenn er in seinem Werk Vergangenem huldigt und die aktuelle Entwicklung damit an den Pranger stellt, dann nutzt er sein Schaffen, um zu informieren, zu erklären und zu kritisieren. Alesić tut dies ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Und doch muss man genau hinschauen, um zu entdecken, was früher einmal und warum besser war.

Titelbild

Dragan Aleksic: Zwischen Nera und Karasch.
Übersetzt aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2013.
219 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783882210705

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