Moderne Cowboys

Sam Shepard entführt seine Leser in „Drehtage“ auf einen Road Trip kreuz und quer durch den Mittleren Westen

Von Martin BeckerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Becker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Day out of Days“ – so lautet der Titel im englischen Original – bezeichnet in der Filmsprache eine Übersicht über die Drehtage für den jeweiligen Schauspieler, um so die Kosten pro Tag kalkulieren zu können. Die Filmwelt kennt der Autor als Schauspieler und Drehbuchschreiber. Doch diesmal steht der Ausdruck sinnbildlich für die Teile seiner Geschichtensammlung, die sich wie ein Film aus einzelnen Bildern und Szenen zusammensetzt. In oft sehr kurzen Kapiteln beschreibt Shepard den Wilden Westen in Form von Gedichten, Dialogen, kurzer Prosa und manchmal Texten, die eher wie der Entwurf einer Erzählung anmuten. Dabei bedient er sich verschiedener Stile und Blickwinkel, die unterstreichen, dass hier mehrere Erzähler am Werk sind. Die Puzzleteile setzen sich nicht leicht zu einem Gesamtbild zusammen. So heißt es im allerersten Abschnitt „Küche“: „Wer hat dieses Wirrwarr an meine weißen Ziegelwände gepinnt, als ergäbe sich eine Geschichte, ein Sinn, eine eigene Welt aus herumfliegenden Schnipseln. Bleistiftskizze von Seattle Slew nach seiner Rennkarriere: fettgeweidet, das Auge träumerisch entrückt, als blickte er zurück auf die glorreichen Tage der Triple-Crown-Siege. Und da, zwischen Glas und schwarzen Bildrahmen geschoben, Schnappschüsse diverser Söhne in diversen Hemden bei diversen Unternehmungen: Angeln, Multitrecks, Traktorfahrten oder extrem an diverse Mütter gelehnt. Postkarten von Lakota-Kriegern aus Frontiertagen, etwa Sitting Bulls Ziehsohn Gall, Zielscheibe der Kopfgeldjäger; halbtot liegengelassen, nahm er vollendete Rache am Little Bighorn. Henry Miller mit Stock und schwarzem Beret auf einem Steinmäuerchen, Gesten für die Kamera, ein Zitat zur Moral: Wenden wir uns lieber ganz und ungeniert der Gegenwart zu, uns erwartet ja doch alle dieselbe düstere Aussicht, dasselbe sinkende Schiff.“

Diese erste Episode verrät viel über die Konstruktionsweise der Sammlung. Wie kurze Bildeindrücke aus verschiedenen Zeiten reihen sich die Geschichten über historische Ereignisse und Persönlichkeiten, angefangen bei der Eroberung des Wilden Westens durch weiße Siedler und die Vertreibung der Einheimischen bis hin zum Hurrikan Katrina, Geschichten von Alltagsmenschen und geradezu absurde Passagen aneinander. Dabei lässt Shepard beispielsweise einen abgetrennten Kopf zu Wort kommen oder erzählt von einem Auftragsmörder, der zum Beweis das Gesicht seines Opfers abziehen soll. Daneben stehen Heldengeschichten, wie die von Casey Jones. Als Lokomotivführer des Canonnball Express verhinderte er im Jahre 1900 durch schnelles Reagieren Schlimmeres, als sein Zug in einen Frachtzug raste. Casey Jones überlebte als einziger an Bord des Zuges das Unglück nicht. Sein Schicksal ist längst in die Pop-Geschichte eingegangen und wurde von Jesse James, AC/DC und Pete Seeger besungen.

Die große Stärke Shepards liegt darin, für jeden Erzähler und für jede Figur einen eigenen Stil zu finden, der sich deutlich unterscheidet. Shepard zeichnet das Bild eines trostlosen Mittleren Westens, indem die Figuren einsam sind und immer noch wie rastlose Cowboys auf der Suche das Land durchreisen. So spielen viele Szenen in Motels am Rande der Highways oder in winzigen Städten der amerikanischen Einöde, aber auch im Flugzeug. Doch wonach eigentlich gesucht wird, ist ungewiss. Durch die Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart zeigt Shepard die Wirkmacht des American Dream und der Suche nach dem großen Glück. Er zeigt aber auch, wie die Schattenseiten, nämlich Gewalt und der Trostlosigkeit, bis in die Gegenwart wirken, obwohl sie verdrängt werden.

Der Wilde Westen spielt eine wichtige Rolle in Sam Shepards Gesamtwerk. Mehrere seiner Theaterstücke wie „Cowboys“ oder „True West“ verknüpfen den Mythos des Wilden Westens mit dem American Dream und dessen Scheitern. Richtig anknüpfen kann Shepard aber nicht an die Größe seiner Theaterstücke, für die er unter anderem einen Pulitzerpreis erhielt (1979 für „Buried Child“). Das Puzzlebild der Sammlung erschließt sich zu langsam und schwerfällig. Das mag daran liegen, dass man aufgrund der Kürze der Texte nicht immer sagen kann, ob hier ein Mythos reproduziert oder widerlegt werden soll. Auch der abwechslungsreiche Stil trägt den Leser nicht durch die gesamte Länge des doch immerhin 300 Seiten dicken Buches. Es sei dennoch jedem empfohlen, der sich für die literarische Verarbeitung des Wilden Westens interessiert. Shepards Geschichtensammlung zeigt nämlich deutlich Faszination und Kritikwürdigkeit des Mythos Wilder Westen.

Titelbild

Sam Shepard: Drehtage. Stories.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Uda Strätling.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2013.
317 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783100744395

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