Schlafwandelnd dem Abgrund entgegen

Zu zwei Büchern über den Thronfolger Franz Ferdinand und den Ausbruch des Ersten Weltkrieges

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

2014 trennen uns hundert Jahre von dem, was George F. Kennan die „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts genannt hat. Am 28. Juni 1914 wurde in Sarajevo der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand ermordet. Als Vergeltung für diese Bluttat erklärte Österreich-Ungarn am 28. Juli dem vermeintlichen Schurkenstaat Serbien den Krieg und löste damit das Karussell von Bündnisvereinbarungen der Großmächte aus, das zum Ersten Weltkrieg führte.

Jüngst hat der australische Historiker Christopher Clark die Schuldfrage an dieser Urkatastrophe neu gestellt und in einer umfangreichen und ausgiebig an Quellen orientierten Studie untersucht, welche Rolle eine kleine Gruppe von Entscheidungsträgern in dem unheilvollen Geschehen spielte. Dabei stieß er bei den wenigen Beteiligten nicht auf böse Absichten, sondern auf legitime Interessen und ebenso auf persönlichkeitsprägende Erfahrungen und sehr eigenwillige Charaktermale. Erkenntnisleitend war dabei die Frage, ob, wie vielfach angenommen, ein Automatismus vorlag oder wann und ob die Protagonisten auch anders hätten handeln können. Clark kommt zu einem vernichtenden Urteil über das politische Krisenmanagement der Vorkriegszeit. Er nennt die Führungspersönlichkeiten der damaligen Staaten „Schlafwandler – wachsam, aber blind, von Albträumen geplagt, aber unfähig, die Realität der Gräuel zu erkennen, die sie in die Welt setzen sollten.“

Zu den Schlafwandlern ist mit Sicherheit auch Franz Ferdinand von Habsburg-Este zu rechnen, dem der französische Historiker Jean-Paul Bled, Professor für Neuere österreichische und deutsche Geschichte an der Sorbonne, nun eine aufschlussreiche Biografie widmet. Mit dem überraschenden Selbstmord des Kaisersohnes Rudolf 1889 war die Erbfolge im Hause Habsburg auf den ältesten Sohn des Bruders von Kaiser Franz Joseph übergegangen. Dieser, 1863 in Graz zur Welt gekommen, war von seinem Vater, der vor der Wiener Politik in die Provinz geflohen war, kaum auf diese Aufgabe vorbereitet worden. Der kaiserliche Onkel selbst missgönnte dem Neffen wohl auch das Amt, das er ja für den eigenen Sohn vorgesehen hatte, weihte ihn kaum in die Staatsgeschäfte ein, sondern betraute ihn, der zeitweise an Tuberkulose litt, mit militärischen Kommandoaufgaben, denen er nicht gewachsen war. Denn er war jähzornig, dabei herrisch und menschenscheu bis zur Menschenverachtung. Alles Eigenschaften, die einem zukünftigen Herrscher über 11 Nationen kaum zugute kamen. Bigott erzogen, glaubte er fest an das Gottesgnadentum und beharrte im Zeitalter des Konstitutionalismus auf dem monarchischen Prinzip. Die moderne Kunst, wie sie sich in der Wiener Secession und im Jugendstil präsentierte, war für ihn eine einzige „Schweinerei“. Nebenbei erlegte er, ein passionierter Schütze an der Grenze zum Pathologischen, an die 300.000 Tiere. Die beleidigende Geringschätzung des Wiener Hofes und auch der eigenen näheren Familie bekam der Eigensinnige allerdings zu spüren, als er eine nicht standesgemäße Braut aus böhmischem Adel ehelichte. Diese durchaus nicht nur gefühlte Ablehnung führte dazu, dass er überall mangelnde Loyalität vermutete, was sich bis zur Paranoia steigern konnte. Bled entwirft ohne überzogene wissenschaftliche Ambitionen, das heißt, ohne jede Aussage an Quellen zu belegen und ohne seine Erzählung durch Fußnoten zu überfrachten, gleichwohl ein anschauliches Bild seines Protagonisten, den er auch als Opfer seiner selbst, seiner Herkunft und einer reformunwilligen Gesellschaftsschicht portraitiert.

Gelegentlich wird die Habsburger Monarchie als ein Vorläufer des heutigen Europa angesehen. Auch Clark sieht im multiethnischen Staat der Habsburger ein diskutables Modell. Allerdings hätte es im Zeitalter des Nationalismus eines anderen Politikers bedurft, als es Franz Ferdinand war, um die zentrifugalen Kräfte zu bändigen. Er hasste das Staatsvolk der Ungarn und sprach dies auch deutlich aus. Seine durchaus sprunghaften Staatsreformpläne, die er nicht mit dem amtierenden Kaiser abstimmte, waren durchaus widersprüchlich und stießen auch die anderen Kronländer nicht selten gewissermaßen vor den Kopf. Um die Monarchie und seinen zukünftigen Thron zu retten, wollte er auch den einzelnen Regionen mehr Autonomie zugestehen, was die Ungarn wiederum vehement ablehnten, um nicht die Herrschaft über Kroaten und Rumänen zu verlieren. Indirekt stellten diese Absichten auch eine Gefahr für Serbien dar, das seine Rolle als „Piemont des Balkans“ und damit seine Expansion auf dem Balkan mit der Unterdrückung der Slawen im Habsburger Reich begründete und somit die Beseitigung des Thronfolgers begrüßte.

Parallel zum Persönlichkeitsbild des Thronfolgers skizziert Bled die politische Entwicklung Europas. Tatsächlich hatte sich die Welt im ersten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts entscheidend verändert. Die Koalitionen, die Bismarck zur Sicherung seines Reiches geschlossen hatte, gerieten ins Wanken. Die Auflösung des osmanischen Imperiums verursachte erhebliche Interessenkonflikte unter den imperialistischen Mächten. Um heikle Bündnisse nicht zu gefährden, schloss man Militärabkommen, deren Tragweite kaum abzusehen war. So konnte es kommen, dass ein Mord im fernen Bosnien Völker und Monarchien in einen Krieg stürzte, die gegeneinander keine Feindschaft hegten. Am Ende verloren alle, aber vor allem jene Monarchen, die sich gegen demokratische Ideen gesperrt hatten.

Österreichs Rolle in dem Weltenringen untersucht der Wiener Publizist Hans Magenschab in einer Kombination aus Text und Bild, wobei er der Bildinterpretation eine besondere Rolle zukommen lässt. Denn nie zuvor, so seine These, „war die Wahrheit über den Krieg so exakt dokumentiert worden wie zwischen 1914 und 1918 und nirgendwo so gründlich wie in Österreich.“ Dieser Wahrheit versucht er nun in reportagenhaften Sequenzen und durchaus urteilsfreudig nahe zu kommen. Dabei folgt er nicht so sehr einer Chronik der Ereignisse, sondern wichtigen Themen, wie etwa Ernährungslage, Militärmedizin, Waffentechnik und Propaganda. Letztere illustriert er durch zeitgenössische Plakate und Postkarten. Die innere Zerrissenheit des Vielvölkerstaates zeigte sich unter anderem auch darin, dass er 1908 zu den Olympischen Spielen in London mit jeweils unterschiedlichen Mannschaften aus Österreich, Böhmen und Ungarn antrat. Die Uniformen der k.u.k. Armee waren so zahlreich und verschieden wie die Völker, die in diesem großen Heer dienten. Auf den Fotos sind muslimische Soldaten eines bosnisch-herzegowinischen Regiments mit Fez beim Beten zu sehen oder auch Sigmund Freud mit seinen zwei uniformierten Söhnen. Der Generalstabschef Conrad von Hötzendorf, den noch Franz Ferdinand gegen erhebliche Widerstände in das Amt berufen hatte, opferte indes seine Truppen bedenkenlos in Unternehmungen, die allein seinem Prestige dienten. Wer dieses Vorgehen kritisierte, wurde von einer gnadenlosen Militärgerichtsbarkeit verfolgt, deren mörderische Tätigkeit die Fotos eindrucksvoll belegen. Dass die österreichische Armee überhaupt Erfolge aufweisen konnte, verdankte sie ihrem Bündnispartner Deutschland und der Unfähigkeit ihrer Gegner. Die elf Isonzo-Schlachten überstand Österreich vor allem und ausgerechnet durch den Einsatz des kroatischen Feldmarschalls Svetozar Boroevic. Hatten Österreich und wohl auch die deutsche Führung noch gehofft, die Krise mit einer Bestrafung Serbiens hinter sich bringen zu können, sahen sie sich nun mit einem Krieg an drei, später vier und mit dem Eintritt Rumäniens an fünf Fronten konfrontiert, der sie spätestens mit dem Kriegseintritt der USA hoffnungslos überforderte. Kaum einer wusste mehr, wofür er eigentlich kämpfte und starb.

Beide Bücher stützen sich auf die aktuelle Forschungsliteratur, Magenschab auch auf Clark. In vieler Hinsicht illustriert Magenschabs Buch die Biografie des Erzherzogs. Vor allem aber kann es als Fortsetzung gelesen werden, indem es zeigt, welche Folgen es hat, wenn man Personen mit Führungsaufgaben betraut, die als Voraussetzung nur die hochadlige Abstammung vorweisen können.

Titelbild

Hans Magenschab: Der Große Krieg. Österreich im Ersten Weltkrieg 1914-1918. Der Weg in den Untergang - Die Katastrophe im Osten - Der Krieg im Gebirge - Das Ende der Monarchie.
Tyrolia Buchverlag, Innsbruck 2013.
288 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783702232993

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Jean- Paul Bled: Franz Ferdinand. Der eigensinnige Thronfolger.
Übersetzt aus dem Französischen von Marie- Therese Pitner.
Böhlau Verlag, Wien 2013.
322 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-13: 9783205788508

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