Zeitlichkeitshorizonte

Aleida Assmann kartiert die moderne Zeit

Von Michael OstheimerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Ostheimer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

William Shakespeares „Hamlet“ ist nie unzeitgemäß; Hochkonjunktur hat er jedoch in Umbruchzeiten. So erarbeitete Heiner Müller einst exakt zu dem Zeitpunkt die – späterhin legendäre – Kopplung von Shakespeares „Hamlet“ mit seinem Stück „Hamletmaschine“, als in der DDR die von ihm so genannte „erste deutsche friedliche Revolution von unten“ ausbrach. Im Spiegel der Gegenwartsereignisse avancierte Müllers Inszenierung von „Hamlet/Maschine“ zum Kommentar eines im Zeitraffer zusammenbrechenden Staates. Eines Staates, dem auch durch die Monologe eines sich selbstkritisch aufreibenden Intellektuellen nicht mehr zu helfen war. Bildmächtig wird das in Christoph Rüters Dokumentarfilm veranschaulicht, der unter dem bezeichnenden Titel „Die Zeit ist aus den Fugen“ den Einbruch der Zeit in das Spiel durch die Verschlingung von politischen Ereignissen und Proben-Ausschnitten kongenial abbildet.

Gut zwanzig Jahre später macht nun Aleida Assmann mit „Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne“ in Anlehnung an Hamlets Gesellschaftsdiagnose und in Gestalt einer Entscheidungsfrage den Vorschlag zu einer Epochenhistorisierung, genauer gesagt den Anlauf, den modernen Erfahrungs- und Empfindungswandel von Zeit, die „markante Verschiebung des Akzents von der Zukunft auf die Vergangenheit“, systematisch zu untersuchen und zu erklären. Dabei bildet für sie das Ende der vom Zusammenbruch des Kommunismus bewirkten bipolaren Weltordnung nur den Ausgangspunkt. Ihr Erkenntnisinteresse gilt nicht den 1989/1990 aus den Fugen geratenen sozialistischen Gesellschaften, sondern der dadurch hervorgerufenen Verschiebung in der kulturellen Zeitordnung. Ihre diesbezügliche These lautet: Indem die Zukunft in der modalisierten, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ausgefächerten Zeit entscheidend an Orientierungspotential einbüßt, verklingt das Modernitätsparadigma. Um ihre These zu plausibilisieren, muss Assmann erst einmal Triumph und Niedergang des modernen Zeitregimes nachzeichnen. Denn die Historisierung eines Zeitregimes macht die grundsätzliche Frage nach Strategien der Kulturalisierung von Zeitordnungen unabweisbar.

Kulturell geschaffene Zeitordnungen fungieren, wie Cornelius Castoriadis herausarbeitete, als konstitutive Institutionen gesellschaftlich-geschichtlicher Realität. Als Ausdruck der Kulturalisierung der physikalischen Zeit in der Moderne entstehen um 1770 Begriffe wie „Geschichte“ und „Zukunft“. Basierend auf der Ersetzung von transzendentem Heil durch machbaren Fortschritt in der Aufklärung und der Trennung von „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ als einer Grundregel moderner Zeitkultur (Reinhart Koselleck), formiert sich das, was Assmann im Rückgriff auf einen Begriff des Literatur- und Kulturtheoretikers Michail Bachtin den „modernen Chronotopos“ nennt. Dessen Hauptmerkmal, die emphatische Zukunftsorientierung, gerate nachfolgend zur impliziten Normativität der Modernisierungstheorie.

Mit dem Westen als georäumliche und den – grob gesagt – letzten zwei Jahrhunderten als temporale Bezugsgröße geht Assmann von der Unauflöslichkeit des Zusammenhangs von Zeit und Zeiterfahrung aus. Als Subjekt der Zeiterfahrung fungiert ein – nicht näher bestimmtes – Kollektivsubjekt, das spezifische Typen geschichtlich-gesellschaftlich dominanter Handlungszeit vollzieht. Für das moderne Zeitregime führt Assmann fünf typische Aspekte an: „das Brechen der Zeit“, „die Fiktion des Anfangs“, „kreative Zerstörung“, „Zerstören und Bewahren“ und „Beschleunigung“. Eine solche Typologie ließe sich zum Beispiel produktiv machen, um mittels unterschiedlicher Misch- und Wechselverhältnisse Binnendifferenzierungen des Temporalregimes der Moderne vorzunehmen. Auf diese Weise wären etwa die konkreten Formen der Zukunftsbegeisterung, sei es im deutschen Kaiserreich, der NS-Zeit, der BRD oder der DDR, als gesellschaftsspezifische Unterarten des modernen Chronotopos vor dem Hintergrund des jeweiligen Erkenntnisstandes in den verschiedenen Humanwissenschaften zu reflektieren.

Assmann selbst verbleibt allerdings – neben gelegentlichen, der Illustration ihrer Thesen dienenden Ausflügen in die Literatur – vornehmlich auf dem Terrain der zeittheoretisch interessierten Geschichtswissenschaft beziehungsweise Philosophie. Ihr Analyseinstrumentarium erläutert sie an den Zeitkonzepten der Spätmoderne, namentlich an den Aporien des modernen Zeitregimes, an seinen etwaigen Kompensationen oder Alternativen. Während der Leitgedanke der Kompensationstheorie (Hermann Lübbe, Odo Marquard) darin besteht, Verlangsamung zu betreiben beziehungsweise Nischen des Stillstands zu etablieren, gewinnt mit der Gedächtnistheorie zu dem Zeitpunkt, als die temporale Ontologie nach dem Epochenumbruch 1989/1990 als kulturelle Konstruktion sicht- und historisierbar wird, eine Alternative an Kontur. Entweder Konzeptualisierung der Vergangenheit als ‚Reliktmenge‘ und ‚Herkunft‘ (Kompensationstheorie) oder Entsubstantialisierung von Vergangenheit und die Auseinandersetzung mit den dunklen Kapiteln der eigenen Geschichte (Gedächtnistheorie). Assmanns geschichtspolitisches Votum ist eindeutig: Der Zerfall des modernen Zeitregimes müsse als Chance genützt werden, um die Theorie des kulturellen Gedächtnisses (auf der Grundlage der drei Schlüsselbegriffe „Kultur“, „kollektive Identität“ und „Gedächtnis“) der naturwissenschaftlichen Linearzeit entgegenzusetzen. Die „wichtigste Herausforderung, die mit dem Abschied vom Zeitregime der Moderne verbunden ist“, bestehe darin, aufgrund des Bedeutungsverlusts der Zukünftigkeit die „drei Zeitstufen neu zu ordnen und in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen“.

Assmanns Plädoyer für die Neuformierung einer kulturellen Zeit auf der Basis der Gedächtnistheorie koinzidiert – das macht die persönliche Note aus – mit einer generationellen Emanzipation. Denn das Buch ist nicht zuletzt das Ergebnis einer langjährigen Reflexion der modernen Zeitordnung, das sich als Absetzbewegung von den akademischen Ziehvätern realisiert. Während die Generation von Reinhart Koselleck, Jürgen Kocka und Hans-Ulrich Wehler aus der Vergangenheit vorwiegend durch Konversion gelernt habe, solle nunmehr die Aneignung der Vergangenheit (durch Symbolisierung und Kommemoration) im Mittelpunkt stehen.

Mit ihrem furiosen Parforceritt über den zukunftsfixierten Höhenkamm der Moderne hat Assmann einen ebenso thesenfreudigen wie inspirierenden Beitrag zur Zeittheorie vorgelegt. Geschichts- und kulturwissenschaftliche Grundlagenreflexion auf das Thema „Zeit“ miteinander verbindend, leistet das Buch – neben der Setzung eines geschichtspolitischen Gegenwartsakzentes – mindestens dreierlei: Erstens entwirft es für die Moderne die These eines von einem emphatischen Zukunftsbegriff dominierten Zeitregimes und unternimmt damit einen – nach: „Zeit und Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer“ (1999) – abermaligen Schritt zu einer Historisierung kultureller Zeittypen. Es bietet zweitens grundsätzliche Überlegungen sowie Anregungen für zeittheoretische Spezialstudien aus der Perspektive der verschiedenen Humanwissenschaften. Beispielsweise stellen die Künste als Experimentier- und Reflexionsraum des temporalen Imaginären ein noch längst nicht ausgereiztes Forschungsfeld dar (eine maßgebliche Triebfeder für das unlängst gestartete DFG-Schwerpunktprogramm „Ästhetische Eigenzeiten. Zeit und Darstellung in der polychronen Moderne“). Drittens gibt das Buch, zu einem Zeitpunkt, da die Rolle des Westens als Taktgeber und zentrale Steuerungsinstanz des Fortschritts obsolet erscheint, einen Impuls für die kulturkomparatistische Zeitforschung: für ein vielversprechendes, wenngleich voraussetzungsreiches Terrain, auf dem zum Beispiel der Philosoph und Sinologe François Jullien im Vergleich von China und dem Westen (Über die ‚Zeit‘. Elemente einer Philosophie des Leben, Berlin 2004) bereits erste Wegmarken setzte.

Titelbild

Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne.
Carl Hanser Verlag, München 2013.
334 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783446243422

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch