Erinnerungen einer Mutter

Zu Erich Hackls „Dieses Buch gehört meiner Mutter“

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 „Dieses Buch gehört meiner Mutter“ lautet der Titel des jüngsten Werkes von Erich Hackl. Bereits der Titel lässt erahnen, dass es sich um ein ungewöhnliches Buch handelt: Es ist eine biografische Nacherzählung, erzählt aus der Sicht der Mutter des Autors. Hackl ist, so schreibt er in den Nachbemerkungen, nach dem Tod seiner Mutter darangegangen, sich „der früheren Welt zu versichern, sie mit ihrem Blick und in ihren Worten wahrzunehmen“. Er schreibt in ihrer Sprache, er lässt sie erzählen, als spräche sie selbst zum Leser. Deshalb gehört das Buch seiner Mutter.

Sie, Maria Mayrhofer, die 1920 als Bauerntochter nahe der österreichisch-tschechischen Grenze geboren wurde, erzählt von ihrer Kindheit und Jugend. Anekdoten und Erinnerungssplitter reihen sich aneinander. Maria Mayrhofer, genannt Mitzi, beobachtete beispielsweise, dass ein Kirschbaum durch den Winter gebracht wird, indem unter ihm ein Feuer entzündet wird. Der Leser erfährt, zu welchen Heiligen üblicherweise Stoßgebete geschickt wurden und was die Zahl drei für das Heimatdorf von Mitzi bedeutete. Er lernt ihre Tante Anna und ihren Hund Lord kennen. Mayrhofer berichtet, dass die Inhalte der sonntäglichen Predigt anschließend in der Schule abgefragt wurden. In der Schule wurde außerdem an den Haaren gerissen, an den Ohren gezogen und neben dem Lehrerpult gekniet. Dafür bedachten die Schüler ihre Lehrer mit Streichen. So entsteht eine Kollage aus blühenden Kastanienbäumen, Bällen und Dorffesten, frisch gebackenen Krapfen und Milchkaffee.

Aber das Buch ist keine romantische Verklärung des Landlebens. In farbigen Bildern und Geschichten erfährt der Leser, welche harte Arbeit Mayrhofer verrichten musste und dass ihr vom Vater immer die schwerste Arbeit zugewiesen wurde. Kriegsgefangene halfen der Familie im Zweiten Weltkrieg als Zwangsarbeiter – „als Ersatz für die Söhne an der Front“. Sie schliefen unter Bewachung. „Weil wir sie nicht schlecht behandelten, glaubten wir, sie wären freiwillig da“. Geistige und materielle Missstände werden thematisiert. Frauen kommen „nicht fort“, nur zum Einheiraten oder als Dienstmagd oder Stubenmädchen. Stets war die Familie „schwer verschuldet“. Wenn Bauern ihr Hab und Gut verlieren, nannten sie es „abhausen“. Abgehauste Bauern verfielen dem Alkohol, zogen mit einem Karren durch das Land und starben früh.

Die Sterbenden und die Toten waren für Hackls Mutter wichtige Erinnerungen. Besonders trostlos sei es gewesen, wenn ein ungetauftes Kind starb. Und die ältere Schwester des Vaters wurde ledig schwanger und starb, als der Arzt „ihr beim Abtreiben die Blase zerrissen“ hatte („Schreie, Schreie, Schreie.“). Mayrhofers Vater wurde „einer Verwandten geschenkt“, weil „deren Hof einen Erben suchte“. Als er am Sterbebett seiner Tante wachen musste und die Totenkerze anzünden sollte, wenn „sie kalt“ würde, floh er und rannte zurück zu seinen Eltern.

Die Erzählungen sind intensiv und intim, aber die Wirkung des Buches beruht auch auf seiner Form. Hackl erhält den Dialekt der österreichischen Bauern („[…] gehst aussi und fangst herunten beim Biersteig an z’ heindln.“). Er erhält die einfachen Redewendungen der Mutter, die von „der Rehberger ihrer Schwester“ und von „der Höller Miazzl“ sprach. Diese einfache Sprache wird in Poesie gegossen; die Erinnerungen sind in Versen geschrieben. So beispielsweise auch die Erinnerung an die Kriegsgefangenen: Jedem Zwangsarbeiter widmete Hackl eine eigene Strophe. Die rhythmischen Erzählungen sind kunstvolle Balladen.

Die Hackl’sche Montage fordert zum Vergleichen heraus. Sachverhalte, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, als den gleichen Zeitbezug, erscheinen hernach als verschiedene Facetten dergleichen Sache: die finanziellen Möglichkeiten, die Abgeschiedenheit. Querverbindungen werden gezogen. Ein Leben wird in Versen bilanziert. Und der Leser begreift das Dasein der Mutter als einmalig und unwiederholbar, obwohl die Existenzängste und das vertraute Miteinander in der dörflichen Gemeinschaft auch als allgemeinverbindlich für so viele andere Orte in Deutschland gesehen werden können. Der Gefahr, eine Rückschau mit dem verstaubten Charme eines kleinstädtischen Heimatmuseums niederzuschreiben, ist Hackl entgangen. Mit wenigen Worten, aber präzise, virtuos und vor allem ohne erhobenen Zeigefinger lässt er eine vergangene Welt lebendig werden. Erich Hackl schuf mit seiner poetischen Erinnerungskollage „Dieses Buch gehört meiner Mutter“ ein wahrhaft lesenswertes Kleinod.

Titelbild

Erich Hackl: Dieses Buch gehört meiner Mutter.
Diogenes Verlag, Zürich 2013.
116 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783257068665

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