Der Realität verpflichtet

Frédéric Valins Abbildungen der Resignation

Von Michael KurzmeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Kurzmeier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Frédéric Valins neuer Erzählband „In kleinen Städten“ erscheint zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt. Landauf und -ab verkaufen sich Bücher, die seinem Stil deutlich widersprechen. Jemand, der sich der unglamorösen Realität verpflichtet fühlt, passt nicht in eine Zeit, in der Literatur der Ablenkung von den Ursachen und der Umdeutung jener Realität dienen soll. Der langweilige und hinreichend bekannte Alltag dient im Erfolgsfall nach einigen Pflichtkapiteln als Sprungbrett zum Eintauchen in fantastische Welten. Nun ist allerdings auch Valins Band, in dem sich sechs Geschichten auf insgesamt 167 Seiten verteilen, in keiner Hinsicht ein revolutionärer Text. Er ist weder Aufruf zum Handeln noch ein exemplarischer Befreiungsakt kraft irgendeines Parteibuches. Die Qualität der Texte zeigt sich vielmehr in ihrer schnörkellosen und unprätentiösen Darstellung der Objekte.

So erzählt Valin in der ersten Geschichte von einem Krankenpfleger und Sylvia, einer Bewohnerin seiner Station. Es geschieht nichts Besonderes an diesem Tag, die Pflege ist ein Beruf für den jungen Protagonisten und damit ein Geschäft für den Betreiber der Pflegeanstalt. Die Arbeit stumpft ihn ab, er spricht in Bezug auf die Pflegebedürftigen von der „FLW-Gruppe: Füttern, lagern, windeln“. Es gibt hier keine Würdigung der Alten oder der Pfleger, der Erzähler lernt nichts von den Objekten, an denen täglich die gleichen Handgriffe durchzuführen sind. Er klagt nichts an, sondern stellt nüchtern fest, dass seine befristete Stellung bei einem durch das schwere Heben hervorgerufenen Bandscheibenvorfall wohl gekündigt werden wird. Umgekehrt findet sich hier auch keine Beziehung Sylvias zu ihrem Pfleger, der nur einen Teil des ständig wechselnden Personals darstellt. Hier gibt es keine magische Verbindung zwischen den beiden, keine in einem klaren Moment gesagten Worte der Dankbarkeit, keine geheimnisvolle Weisheit des Bettlägrigen. Sie sind sich gegenseitig gleichgültig. Es findet sich keine poetische Verklärung des Zustandes, keine höhere Motivation, die Arbeit trotz der schlechten Bedingungen weiterzuführen. Auch Sylvia scheint nicht viel an der Füttern-Lagern-Windeln-Existenz zu liegen. Dem Text ist die starke Verpflichtung zur Realität anzumerken, die Valin sich beim Schreiben auferlegt hat. In diesem ersten Stück wird beschrieben, wie Sylvia aus dem Bett geholt, auf die Toilette gebracht, gewaschen und zum Frühstückstisch geschoben wird, wo sie mit dem Kopf auf dem Erdbeermarmeladentoast einschläft. Er trägt den passenden Namen „Der Vorgang“.

Nun kann ein Protagonist auf solche Lebensumstände unterschiedlich reagieren und es ist Valin hoch anzurechnen, dass er diesen Möglichkeiten nachgeht, ohne stets das gleiche, repetitive Muster abzuarbeiten. Die programmatische Geschichte vom Trinker in Paris erklärt diese Möglichkeiten, welche die Erzählung ihren Figuren bietet: Man könne sich dem Rausch hingeben, aber das wäre doch nichts als ein aussichtsloser Fluchtversuch aus der Welt. Der erfahrene Trinker, mehr Ernest Hemingway als Charles Bukowski, verrät dem jungen Kollegen: „Sehen Sie, die meisten Menschen sehen den Rausch als animalischen Zustand. Alkohol dient für viele als Vorwand, ihre Emotionen wüten zu lassen, denn betrunken ist es ihnen gestattet. […] Diese Menschen, die sich dem Rausch hingeben wie einer Erleuchtung, trinken sich in einen Wahn. Sie machen das nicht absichtlich, sie können nicht anders, in ihnen drängen die Gefühle zur Freiheit…“. Die zur Freiheit drängenden Gefühle führen also zum Wahn, soviel antiromantisches Programm ist lobenswert, doch was bleibt denn dann noch an resignierten Welterduldungspositionen übrig? Da ist, so der Trinker, also nur noch die Sentimentalität oder der Zynismus, wobei ersteres unabhängiger sei als das Zweite, da der Zyniker auf die Welt als Bezugspunkt seiner Verachtung angewiesen ist.

Beide Positionen ergeben jeweils eine eigene Geschichte, die des Sentimentalen übernimmt der junge, arbeitslose Grafiker, der mit seiner wohlhabenden Freundin in ein von ihr finanziertes Haus am Rande Berlins ziehen soll. Örtlich durch lange Bahnfahrten und geistig durch kontinuierliches Trinken versucht er hilflos, den Anschluss an die längst vergangene Studentenzeit wiederzufinden. Man ahnt es schon: Nach dem beruflichen Scheitern an der Realität muss in diesem Text auch noch das private Scheitern in der alten Stammkneipe folgen.

Für die Geschichte des Zynikers muss ein in der Literatur sehr oft benutztes Thema herhalten, Valin schickt einen desillusionierten Intellektuellen in den Sommerurlaub ans Meer. Dass es hier die westliche Algarve und nicht Venedig geworden ist, ändert da wenig, auch vom westlichsten Punkt Europas aus, an dem sich der Erzähler zwischen das Mittelalter nachahmender, faschistischer Architektur gefangen sieht, dachten sich schon vermeintlich große Köpfe „über den ganzen Kontinent“. Der Zyniker ist in doppelter Hinsicht gefangen, einmal erlebt er die gescheiterte Beziehung mit seiner ehemaligen Freundin, die er in diesem Urlaub begleitet, dazu hat er auch noch seine berufliche Zukunft verspielt: Der Träger eines Begabtenstipendiums in den USA wurde nämlich dort wegen einer Beziehung zu einer Fünfzehnjährigen verurteilt und muss nun zu Gnaden des alten Europa seine Sommerfrische zwischen den Bauten der Salazar-Zeit verbringen. Noch nicht einmal der Sex am nächtlichen Strand mag ihm glücken. Nun hält sich das Mitgefühl für solche Protagonisten in sehr engen Grenzen, doch es ist sicher nicht die Intention des Autors, dem Leser das schreckliche Leid von Verurteilten nahezubringen, die ihr Bier in Portugal und nicht in New York oder sonst wo trinken müssen.

Dieser Text ist wie die anderen ohne spannungserzeugende Momente, er ist nicht mehr und nicht weniger als die vorgeblich nüchterne Beschreibung eines Lebens, das in Gleichgültigkeit und Resignation einen stabilen Ruhepunkt gefunden hat. Die Konstruktion der Hauptfigur verdeutlicht die Abstumpfung der Personen. Weder Genuss noch Verachtung ist ihnen möglich, jedes beliebige Ereignis ist gleichsam unbedeutend.

Valin erzählt seine Geschichten lakonisch und direkt, poetische Höhenflüge liegen ihm ebenso fern wie ein konstruierter Spannungsbogen. Bisweilen findet sich eine feine und gut platzierte Ironie in seinen Texten, wie etwa plötzlich in der Erzählung „Mutter“, in der der Protagonist durch seine heruntergekommene Heimatstadt läuft und sich plötzlich in unpassendster romantischer Manier zwischen verdreckten Fassaden und dem Selbstmord einer Freundin an ein Mädchen erinnern muss: „Weil er sechzehn Jahre alt war und gelangweilt wie an einem Krankheitstag im Bett, ging er, kaum dass sie nach Hause aufbrach, zitternden Herzens hinterher und träumte wohl drei Nächte von ihr, ehe er sie wieder vergaß.“ Solche Stellen, ebenso wie das Unterlassen einer selbstbemitleidenden Nabelschau, machen die Texte interessant und geben ihnen einen allgemeinen Anspruch. Das Buch ist also lesenswert, und zwar nicht trotz, sondern wegen des unpassenden Timings.

Titelbild

Frédéric Valin: In kleinen Städten. Erzählungen.
Verbrecher Verlag, Berlin 2013.
167 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783943167429

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