Schmollwinkel und Hort von Details und Banalitäten

Michael Maar widmet sich in „Heute bedeckt und kühl“ dem Genre des Tagebuchs

Von Patrick WichmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Wichmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist schon so ein Sache mit den Tagebüchern großer Künstler: Sind sie nun bewusst mit Blick auf die Nachwelt geschrieben? Und damit inhaltlich manipuliert? Oder sind sie ein echter, ein unverfälschter Blick in den Menschen hinter der Kunst? Wie dem auch sein mag, interessant sind die veröffentlichten Tagebücher zahlreicher großer Persönlichkeiten allemal. Dem speziellen Genre des Tagebuchs hat sich Michael Maar in seinem vergnüglichen Buch „Heute bedeckt und kühl“ gewidmet.

Skizzenhaft hat Maar, der bereits Werke zu Vladimir Nabokov und Marcel Proust vorgelegt hat, in seinem Kompendium unzählige Tagebücher zusammengestellt; eine Handvoll Seiten sind ihnen jeweils gewidmet. Die Spanne der betrachteten Werke reicht von jahrhundertealten Klassikern wie den Betrachtungen Samuel Pepys’ über Andy Warhol und John Cheever (dessen Tagebuch laut Maar zu den „großartigsten und erschütterndsten Zeugnissen des Genres“ überhaupt zählt) bis hin zu hochaktuellen Exemplaren wie den Blogs von Reinald Goetz und Wolfgang Herrndorfs „Arbeit und Struktur“.

Entsprechend knapp erhält der Leser einen Einblick in die jeweiligen Besonderheiten, denn jeder Schreiber führt sein Tagebuch anders. Mal sind es nur Einträge banalsten Inhalts wie etwa Thomas Manns Vermerk vom 21. März 1921, dort heißt es: „Kaufte danach beim Konditor Pralinees und aß eine Schaumrolle für 1 Mark 75.“ Mit viel Liebe zum Detail widmet sich Maar diesem und ähnlichen Einträgen und unternimmt erst gar nicht den (ohnehin zum Scheitern verurteilten) Versuch, den Inhalt bedeutungsschwer aufzuladen. Stattdessen nähert er sich ihnen mit den Augen eines Liebhabers und schreibt: „Der schwer oder gar nicht zu beschreibende Zauber dieser fast durchweg banalen Noten ist unwiderstehlich.“

Ein anderes Mal ziehen die tiefsinnigen Notate Peter Sloterdijks Maar in ihren Bann. Dann ist es vor allem der inhaltliche Belang, den er bewundert. „Bei Sloterdijk finden sich auf jeder Seite Stellen, die man mit dem Bleistift markiert – ob zustimmend oder mit Fragezeichen oder mit kritischem Zickzack, ist dabei gar nicht entscheidend.“

In dieser Vielfalt zeigt sich eine der Stärken des Bandes: Maar stellt kein Ranking auf, sucht nicht das (wie auch immer) am besten geartete Tagebuch, sondern schaut mit den Augen eines Liebhabers und gewinnt dadurch dem jeweiligen Werk seine ganz spezifische Qualität ab. So äußert er sich etwa über Virginia Woolf, die – nach Maar – einer „zarten, wasserdurchpulsten, ihre Tentakel treiben lassenden und durchaus giftigen Meduse“ gleicht. Oder er zitiert Herrndorfs Blog-Eintrag vom 25. März 2013: „Ein großer Spaß, dieses Sterben. Nur das Warten nervt.“ – Welch Tragik angesichts Herrndorfs zwischenzeitlicher Selbsttötung! Zugleich betrachtet Maar aber auch die dahinterliegenden Fragen: Warum schreiben Menschen überhaupt Tagebücher? Und warum üben viele von ihnen eine solche Faszination aus? Und wie verändert es ein Tagebuch, wenn der Autor bereits während der Niederschrift an eine spätere Publikation denkt?

Maar zufolge sind es die „Details, die uns die Zeit vor Augen führen“ und die ohnehin „das einzig wahre Leben zeigen“, welche die letzte der beiden Fragen beantwortet. Das zeigt er vor allem am Beispiel Samuel Pepys’: Die Vermengung von historischen Momenten wie der Großen Pest oder dem Großen Brand von London mit profanen Szenen des Alltags seien es, die den Ereignissen eine lebendige Unmittelbarkeit gäben. Oder, mit den Worten Walter Kempowskis: „Weiter in den Tagebüchern von Pepys. Der Vormarsch der Türken in Ungarn, die Pest in London. Ich las die ganze Nacht. Die Alltäglichkeiten sind es, die diese Aufzeichnungen so interessant machen. ‚Kaufte mir heute eine grüne Brille.‘ Das ist es. Das macht unser Leben aus.“

So viel also vom Lesen. Doch warum schreiben? Auch hier zieht Maar wiederum andere Tagebücher zu Rate und beruft sich auf Thomas Manns präzise Zusammenstellung: „Ich liebe es, den fliegenden Tag nach seinem sinnlichen und andeutungsweise auch nach seinem geistigen Leben und Inhalt fest zu halten, weniger zur Erinnerung und zum Wiederlesen als im Sinn der Rechenschaft, Rekapitulation, Bewußthaltung und bindenden Überwachung…“ Oder er verweist auf den Ausdruck Gottfried Kellers, der das Tagebuch als „Schmollwinkel“ bezeichnete. Also als Möglichkeit, sich ungestraft über die Welt auszulassen. Womit gleichzeitig ein weiterer Punkt zusammenhängt: Denn Tagebücher sind auch eine Möglichkeit, sich in Zeiten politischer Repression zu äußern.

Sicher, Michael Maars Tagebuch-Hommage „Heute bedeckt und kühl“ – übrigens nach einem Eintrag von Thomas Mann – ist keine große Literatur. Letztlich ist sie nur eine skizzenartige Übersicht über verschiedenste Tagebücher und auch stilistisch mag es hier und da manchmal rumpeln. Dennoch macht die Lektüre Spaß. Denn man merkt Maar das Herzblut für die Literatur und seine exorbitante Belesenheit auf jeder Seite an. Und so regt seine Tour d’Horizon schließlich dazu an, selbst einmal wieder zu einem Tagebuch als Lektüre zu greifen – nur nicht unbedingt zu Ludwig Wittgenstein, dessen Notizen Maar wie folgt kommentiert: „Uff. Trocken? Staubtrocken? Sahara.“

Titelbild

Michael Maar: Heute bedeckt und kühl. Große Tagebücher von Pepys bis Sloterdijk.
Verlag C.H.Beck, München 2013.
258 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783406653537

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