Realist, Ästhet und Provokateur

Über Alfred Andersch aus Anlass seines 100. Geburtstags am 4. Februar 2014

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

1. Ein politischer Schriftsteller

Alfred Andersch gehört zu den großen Autoren der deutschen Nachkriegsliteratur. Seine literarische Laufbahn fällt in die drei Jahrzehnte nach 1945, in denen die deutsche Literatur einen neuen Aufschwung erlebte, der mit der Verleihung des Nobelpreises 1974 an Heinrich Böll auch internationale Anerkennung gefunden hat. Wie die anderen bedeutenden Autoren der Gruppe 47, zu der er fast von Beginn an gehörte, war Andersch politisch engagiert. Er griff wiederholt in laufende Debatten ein, gleich mit seinem ersten literarischen Werk „Die Kirschen der Freiheit“ 1952 in die Auseinandersetzung um die deutsche Wiederbewaffnung, zuletzt mit seinem Gedicht „Artikel 3 (3)“ 1976 in den Streit um die Berufsverbote während der sozialliberalen Ära. Der jungen Bundesrepublik stand der Autor in mehr als einer Hinsicht skeptisch gegenüber; für ihre politische Kultur wurde er jedoch mit seinen deutlichen Einsprüchen und Warnungen, die allerdings zum Teil überzogen waren, fast so wichtig wie der mit ihm befreundete Heinrich Böll oder der ihm suspekte Günter Grass.

Politisch waren auch die Themen seiner Romane: die Flucht einer Jüdin aus dem nationalsozialistischen Deutschland in „Sansibar oder der letzte Grund“, die Rückkehr eines nach England emigrierten deutschen Juden in das Berlin der Kubakrise in „Efraim“, schließlich der gescheiterte Versuch des deutschen Majors Dincklage in „Winterspelt“, sein Bataillon im Herbst 1944 den Amerikanern kampflos zu übergeben. Politisch war noch Anderschs letztes Buch, die Novelle „Der Vater eines Mörders“. Sie erzählt, als autobiografische Fiktion, von der Unterrichtsstunde, mit der die Schullaufbahn des jungen Franz Kien vorzeitig zu Ende geht – einer Vertretungsstunde, die von dem schikanösen Schulleiter abgehalten wird: von Gebhard Himmler, dem Vater des späteren SS-Führers.

Dezidiert politische Autoren können nicht unbedingt ein gerechtes literarisches Urteil erwarten. Meist begegnen sie entweder begeisterter Zustimmung oder erbitterter Ablehnung – und fast immer aufgrund ihrer Meinungen, seltener aufgrund ihrer Kunst. Das gilt auch für Andersch, der sich selbst gern als Dissidenten sah. Nach seinem Tod war er moralischen Verurteilungen ausgesetzt, die alle um denselben Vorwurf kreisen: dass er in seinen Texten seine Biografie ‚umgeschrieben’ habe. Das könnte man vielen, beinahe allen Autoren vorwerfen – wenn es, ein angemessenes Verständnis von Fiktion vorausgesetzt, überhaupt ein Vorwurf sein kann. Gegen engagierte Schriftsteller wird er allerdings mit besonderem Nachdruck erhoben – einerlei, wie berechtigt er ist.

2. Das Werk

Literarischen Ruhm hat Andersch vor allem als Erzähler erlangt: mit der autobiographischen Prosa der „Kirschen der Freiheit“, mit den vier Romanen „Sansibar oder der letzte Grund“, „Die Rote“, „Efraim“ und „Winterspelt“ und mit Dutzenden von Erzählungen und Kurzgeschichten, die in drei Bänden gesammelt sind: „Geister und Leute“, „Ein Liebhaber des Halbschattens“ und „Mein Verschwinden in Providence“. Mit diesen Büchern ist Andersch in die Geschichte der deutschen Nachkriegsliteratur als ein ästhetisch anspruchsvoller und vielseitiger realistischer Erzähler eingegangen, der sich als Autor auf die europäische und die amerikanische Literatur nicht weniger bezog als auf die deutsche.

Allerdings war er nicht nur Erzähler. In den 60er-Jahren begann er, seine Essays ebenso wie seine Hörspiele in Bänden wie „Die Blindheit des Kunstwerks“, „Aus einem römischen Winter“und später „Norden Süden rechts und links“ zu sammeln, zudem Reiseberichte zu schreiben, zunächst Reportagen, aus denen dann vor allem zwei Bücher hervorgingen: „Wanderungen im Norden“ und  „Hohe Breitengrade“. In den 70er-Jahren schließlich überraschte Andersch sein Publikum mit einem Band Gedichte und Nachdichtungen unter dem Titel „empört euch der himmel ist blau“. Ihm vorausgegangen war die Veröffentlichung des Gedichts „Artikel 3 (3)“, das als zorniger Protest gegen die Praxis der Berufsverbote in den 70er-Jahren einen Skandal entfachte. Vergleichbare öffentliche Auseinandersetzungen über Gedichte hat es danach in Deutschland nicht mehr gegeben – bis Günter Grass im April 2012 sein Gedicht „Was gesagt werden muß“ veröffentlichte.

Bevor Andersch mit „Die Kirschen der Freiheit“ 1952 literarisch hervortrat, hatte er sich schon einen Namen als Publizist gemacht, vor allem mit Kritiken und literarischen Essays, außerdem mit politischen Kommentaren und Glossen. Erschienen waren sie anfangs zumeist im deutschen „Ruf“, den er zusammen mit Hans Werner Richter herausgeben hatte, dann in den „Frankfurter Heften“, deren Redakteur er zeitweilig gewesen war, später in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften. Seit 1948 hatte er für den Rundfunk gearbeitet, als Redakteur zuerst bei Radio Frankfurt und beim Hessischen Rundfunk, dann auch beim Nordwestdeutschen Rundfunk und beim Süddeutschen Rundfunk. Während dieser Zeit war er Hörspielautor geworden und hatte erfolgreiche ‚Features‘ geschrieben, eine Radio-Form, an deren Entwicklung er maßgeblich beteiligt war. Von 1955 bis 1957 hatte er außerdem „Texte und Zeichen“ herausgegeben, eine literarische Zeitschrift auf hohem Niveau, der allerdings nur drei Jahrgänge beschieden waren.

Als Redakteur und Herausgeber war Andersch ein großer Entdecker und Förderer von Talenten. Zu seinen Mitarbeitern beim Rundfunk zählten Helmut Heißenbüttel und Hans Magnus Enzensberger. Als Redakteur beim Süddeutschen Rundfunk unterstützte er nach Kräften Arno Schmidt. Paul Celan gab er in „Texte und Zeichen“ früh die Möglichkeit zu publizieren, ebenso Nelly Sachs. Autoren wie Heinrich Böll und Ingeborg Bachmann, aber auch Wolfgang Koeppen eröffnete er Veröffentlichungs- und Verdienstmöglichkeiten im Rundfunk. Dafür ist er später gelegentlich als ein ‚öffentlich-rechtlicher Mäzen‘ bezeichnet worden.

3. Der Dichter der Freiheit

Anderschs vielseitiges Œuvre ist durch ein Nebeneinander von ausgeprägt ästhetischen und dezidiert politischen Interessen gekennzeichnet, nicht nur in seinen publizistischen und essayistischen Arbeiten. Andersch war der künstlerischen Ansprüche, denen Literatur genügen muss, ebenso bewusst wie ihrer gesellschaftlichen Verantwortung. Politisches Engagement und ästhetischer Ehrgeiz sind deshalb von Anfang an in seinem Werk untrennbar miteinander verbunden.

In ihrer Anlage sind Anderschs Texte oft intermedial. Sie referieren immer wieder auf Malerei und Musik, etwa auf Monteverdi („Die Rote“) und Debussy („Cadenza Finale“), auf Miles Davis („Der Tod des James Dean“) und Bob Dylan („Tochter“). Mit der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts, sei es mit Barlach („Sansibar“) oder Klee („Winterspelt“), war Andersch nicht weniger vertraut als mit der Malerei der frühen Neuzeit, sei es Giorgione („Die Rote“) oder Hercules Seghers („Noch schöner wohnen“), deren Werke in seinen Romanen und Erzählungen eine mitunter zentrale Rolle spielen.

Anderschs literarischer Horizont scheint noch weiter: Allein in „Die Kirschen der Freiheit“ hat er sich zum Beispiel auf André Gide und Erich Kästner, auf Jean-Paul Sartre und Ernest Hemingway, auf Rainer Maria Rilke und Upton Sinclair bezogen. Zahlreichen Autoren vor allem der deutschen, der italienischen und der amerikanischen Literatur hat er Essays gewidmet – von Ernst Jünger bis Giorgio Bassani.

Andersch umkreist in seinem Werk weniger ein Thema als einen Themenkomplex. Die fast geläufige Charakterisierung als ‚Dichter der Flucht‘ suggeriert eine thematische Beschränkung, die ihm fern lag. Sie gründet sich vor allem auf „Die Kirschen der Freiheit“ und „Sansibar“. Doch schon auf die anderen Romane lässt sie sich kaum auszudehnen. Nicht nur Flucht, auch Ausstieg, Desertion und Kapitulation sind Themen allein schon der Romane. Das Problem, um das es Andersch in ihnen immer wieder ging, ist die Freiheit: die Freiheit des Individuums, vor allem als Selbstbestimmung des Einzelnen inmitten politischer und gesellschaftlicher Zwänge. Die Flucht des von der Verfolgung bedrohten Kommunisten und der verfolgten Jüdin in „Sansibar“ sind nur die spektakulärsten Konkretisationen dieser Thematik unter den Bedingungen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Indem Andersch auf der Entscheidungsfreiheit des Einzelnen bestand, der die Möglichkeit hat, sich selbst neu zu entwerfen, blieb er im Übrigen dem Sartreschen Existentialismus verpflichtet, wie er ihn nach dem Krieg kennengelernt und vor seinem Erfahrungshintergrund umgedeutet hatte.

4. Ein internationaler Autor

Zweifellos war Andersch, nicht nur im sprachlichen Sinn, ein deutscher Schriftsteller – auch nach seinem Umzug in die Schweiz, der oft als ein Akt der Abkehr von Deutschland gedeutet wurde und schließlich zu einem Wechsel der Staatsbürgerschaft führte. Tatsächlich hat sich Andersch auch als Schweizer Staatsbürger weiter an dem beteiligt, was damals ‚Vergangenheitsbewältigung‘ hieß: Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, vor allem mit dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen. Und doch lässt sich sein Werk nicht auf die deutschen Themen festlegen – oder nur um den Preis der Missachtung großer Teile.

Nicht weniger bezeichnend für Andersch ist ein durchgängiges, nicht nachlassendes Interesse an anderen Ländern und Kulturen. Im Unterschied zu den meisten Schriftstellern der deutschen Nachkriegsliteratur war er weder auf Deutschland noch auf eine deutsche Region fixiert, so wie etwa sein Freund Heinrich Böll auf das Rheinland oder Günter Grass auf Danzig. Er war ein internationaler Autor, der viel reiste und Kontakte zu anderen europäischen Schriftstellern pflegte, der schon früh in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde, auch selbst übersetzte, zudem seine Romane von „Sansibar“ bis „Winterspelt“ entweder an den Grenzen oder gleich im Ausland spielen ließ, in Italien („Die Rote“), England („Efraim“) oder den USA („Winterspelt“).

Andersch war von Anfang an auch ein interkultureller Autor, der eine stattliche Zahl von Berichten und Reportagen über Reisen vor allem in den Norden und den Süden Europas geschrieben hat. Wie einige seiner Zeitgenossen in den späten 60er- und den 70er-Jahren hat auch er Reisen in revolutionäre Staaten wie damals Portugal unternommen, auf der Suche nach gerechteren sozialen Ordnungen. Er hat aber auch immer wieder Gegenden etwa im Norden Europas aufgesucht, die er, in Anlehnung an Ernst Jünger, als ‚Wildnisse‘ begriff: als gesellschaftsferne, von Menschen nicht beherrschte, ja nicht beherrschbare Naturlandschaften fern der Metropolen, die Wege in die Freiheit eröffnen.

Manche Länder haben Andersch besonders angezogen. Wie ein Leitmotiv zieht sich durch sein Werk eine deutliche Anglophilie. Zwei andere Länder haben für sein Denken jedoch noch größere Bedeutung erlangt als England: Italien und die USA. Italien hat er zuerst in den 30er-Jahren bereist, dort war er Jahre später als Soldat, und dort ist er 1944 aus der deutschen Wehrmacht desertiert. Italien blieb für ihn ein Raum der Freiheit, und so ließ er es unter anderen auch Franziska, die Hauptfigur seines zweiten Romans „Die Rote“, erleben. Andersch entdeckte früh den italienischen Neorealismus, in der Literatur wie im Film. Vittorio de Sica, Michelangelo Antonioni, Elio Vittorini, Pier Paolo Pasolini und Giorgio Bassani, auch Federico Fellini sind fixe Punkte seines ästhetischen Universums geworden.

Die USA hat Andersch zuerst als „prisoner of war“ 1944/45 kennengelernt. Die Kriegsgefangenenlager, denen er mit seiner Kurzgeschichte „Festschrift für Captain Fleischer“ ein literarisches Denkmal gesetzt hat, wurden für ihn zu einem Ort der Begegnung mit amerikanischer Kultur und Literatur. Die literarische Ausbeute dieser Zeit, die Andersch als Reisegepäck mit nach Deutschland brachte, hat er zu Beginn von „Der Seesack“ aufgelistet: Werke etwa von Thomas Jefferson, Henry David Thoreau, Sherwood Anderson, F. Scott Fitzgerald, Thornton Wilder und John Steinbeck. Später sind weitere literarische Entdeckungen hinzugekommen. In seinem Hörspiel „Der Tod des James Dean“ hat Andersch Texte etwa von John Dos Passos, E.E. Cummings und Allen Ginsburg zu Musik von Miles Davis montiert, und in seinen Gedichtband „empört euch der himmel ist blau“ hat er Nachdichtungen moderner und post-moderner amerikanischer Lyrik von William Carlos Williams bis zu Richard Brautigan aufgenommen.

Seine internationale Orientierung ist Andersch oft als eine Art intellektuellen Snobismus ausgelegt worden, als ein Kokettieren mit Weltläufigkeit. Sein Interesse an Italien und den USA hatte jedoch ganz andere Gründe. Schon früh war er auf der Suche nach Alternativen zur literarischen und politischen Kultur Deutschlands, und er fand sie vor allem in der italienischen und der amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Dabei mag ihn Italien besonders interessiert haben, wegen der historischen Parallelen zu Deutschland als zuvor gleichfalls faschistischem Land einerseits – und der deutlichen Differenzen in der Entwicklung ihrer Literaturen andererseits. Elio Vittorini, Giorgio Bassani, auch Eugenio Montale, die früh Anderschs Interesse als moderne, politisch oppositionelle Autoren unter dem Faschismus gefunden haben, wiesen ihm Möglichkeiten einer nicht-faschistischen Ästhetik in der Tradition der Moderne, die er in seinen eigenen Werken zu verwirklichen suchte.

5. Realist und Avantgardist

Anderschs Interesse an dezidiert moderner, ja avantgardistischer Literatur, von dem viel in seine freundschaftliche Bewunderung für Arno Schmidt eingegangen ist, lässt sich aber nur schlecht in einen Gegensatz zu seinem angeblich eher traditionell realistischen Erzählen bringen. Realistische Verfahren dominieren sein Erzähl- und Romanwerk. Seine programmatische Hinwendung zum Realismus, etwa seit „Ein Liebhaber des Halbschattens“, knüpft an die Literatur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts an, zum Beispiel an Theodor Fontane, auch an Henry James und Virginia Woolf, auf die er sich programmatisch in „Efraim“ bezieht. Sie steht in einem ausdrücklichen Widerspruch zu den Bestrebungen des Nouveau roman, den Andersch in seiner Besprechung von Alain Robbe-Grillets „Die blaue Villa von Hongkong“ entschieden kritisierte. Er selbst zog einen psychologischen Realismus mit sozialkritischen Tendenzen vor, den er dann am Ende besonders deutlich in den autobiographischen Franz-Kien-Geschichten ausgebildet hat.

Die Entscheidung für realistisches Erzählen hinderte Andersch nicht daran, ästhetisch zu experimentieren. Seine Texte sind bis ins Kleinste durchorganisierte Gebilde, und die Romane ebenso wie die Erzählungen verraten eine unablässige Suche nach neuen Formen und Verfahren. In seinem letzten großen Erzählungsband zum Beispiel finden sich Texte wie „Noch schöner wohnen“ und „Mein Verschwinden in Providence“, die durch die Zerlegung in kleinste Einheiten das konventionelle chronologische Erzählen fragmentarisieren. In ihnen erprobte Andersch das von ihm selber ‚pointillistisch‘ genannte Verfahren, das dann konstitutiv für „Winterspelt“ wurde.

6. Verdienste und Verdächtigungen

Am sichtbarsten mögen, eine Zeitlang, die Spuren gewesen sein, die der politische Schriftsteller Andersch hinterlassen hat: seine skandalträchtigen Proteste gegen die deutsche Wiederbewaffnung in den 50er- und das Berufsverbot in den 70er-Jahren. Manche anderen Verdienste sind erst spät gewürdigt worden, manche sind bis heute kaum erkannt. Andersch war ein Pionier des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nach 1945, und als Publizist und Rundfunkredakteur hat er daran mitgewirkt, die deutsche Nachkriegsliteratur durchzusetzen, die für ihn aber nicht mit der Gruppe 47 identisch war. Insbesondere hat er als Essayist und Zeitschriftenherausgeber geholfen, nach dem Dritten Reich den Provinzialismus und den Nationalismus der deutschen Literatur zu überwinden und wieder Anschluss an die internationale Moderne zu finden.

Schon früh hat Andersch das deutsch-jüdische Verhältnis zur Sprache gebracht. Er hat dies intensiver getan als andere Autoren seiner Generation, und er hat dabei nicht sein Leben ‚umgeschrieben‘, sondern Alternativen durchgespielt: ‚Möglichkeiten’ anderen als auch seines tatsächlichen Verhaltens während der nationalsozialistischen Herrschaft. In der Repräsentation jüdischer Figuren und Biografien ist er bereits in „Sansibar“, erst recht in „Efraim“ weit über das hinausgegangen, was in der deutschen Literatur der Zeit üblich war. So ist „Efraim“ der erste Roman eines deutschen Autors nach 1945 mit einem exilierten jüdischen Intellektuellen als Protagonisten. Nicht zufällig ist der Roman seinerzeit gerade von Emigranten wie Jean Améry, Robert Neumann und Ludwig Marcuse gegen Kritik verteidigt worden.

Anderschs Beschäftigung mit der Verfolgung und Vernichtung der deutschen Juden ist Teil seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, die bis hin zu „Der Vater eines Mörders“ reicht. Zum Denken des politischen Schriftstellers und früheren Kommunisten Andersch gehört im Übrigen sowohl eine Kritik des Marxismus als auch das Plädoyer für westliche Demokratie, wie er sie in der Kriegsgefangenschaft selbst erfahren hat.

Mit dem politischen Engagement ist Anderschs Faszination für die unberührte Natur eng verbunden: durch denselben Sinn für Freiheit und Freiräume. Lange bevor es eine ökologische Bewegung gab, hat Andersch in seinen großen Reiseberichten manche ihrer Ideen vorweggenommen, zumal in seiner Suche nach den Grenzen menschlicher Herrschaft über die Natur. Die Natur war für ihn das Andere der Ideologie: der Ort zweckfreier Schönheit. Sie so zu beschreiben, war für ihn ein zugleich ästhetischer und politischer Akt.

Das Werk Anderschs weist allerdings auch Schwächen unterschiedlicher Art auf, nicht nur in den Anfängen. Seine fantastischen Geschichten wirken längst anachronistisch, manches wie vor allem sein dritter Roman „Efraim“, der die meisten Leser und Kritiker überforderte, ist am Ende zu ehrgeizig und letztlich überfrachtet. Der Ästhet Andersch war zudem ein Stilist, der mitunter zum Manierismus neigte, für manche auch zum Kitsch. Man kann ihm, vor allem wenn er von sich oder ihm ähnlichen Figuren spricht, außerdem eine gewisse Eitelkeit nicht absprechen. Selbststilisierungen gehören, schon seit „Die Kirschen der Freiheit“, gleichfalls zu seinen Schwächen – nicht eben ungewöhnlich für Autobiografen.

Solche Selbststilisierungen werden Andersch inzwischen von jüngeren, biografisch interessierten Literaturwissenschaftlern obstinat zum Vorwurf gemacht. Diese sich selbst etwas unklar als ‚werkbiografisch’ verstehende Forschung, die vor allem Verfehlungen Anderschs während der nationalsozialistischen Herrschaft aufzuspüren versucht, hat allerdings nicht zu einer grundlegenden Neueinschätzung seiner literarischen Arbeiten geführt. Das mag nicht nur daran liegen, dass ihr bislang noch keine gewichtigen und belastbaren Funde gelungen sind, die den Schriftsteller Andersch nachhaltig diskreditieren würden. Die biografische Kritik an ihm geht nicht selten auch von zu einfachen literaturtheoretischen Voraussetzungen aus: Sie liest das Werk des Autors, nicht zuletzt seine Fiktionen, als Stilisierung seines Lebens, als Kompensation von Versagen und Versagungen, und deshalb sucht sie, in einer mitunter etwas schlichten Enthüllungspsychologie, vor allem nach biografischem Belastungsmaterial. Letztlich geht es ihr weniger darum, ein Werk – und sei es auch kritisch – zu verstehen, als es moralisch in Frage zu stellen. Dabei ist sie methodisch nicht immer wählerisch und identifiziert etwa den Autor kurzerhand mit einigen seiner Roman-Figuren.

Dass Andersch solcher ‚biografischer Kritik’ ausgesetzt ist, dürfte nicht allein in Fehlern und Zweideutigkeiten seines Verhaltens während des Nationalsozialismus begründet sein, über deren angebliche Schwere mit Recht kontrovers diskutiert worden ist. Schon als W.G. Sebald seine moralisch ebenso rigorosen wie schlecht recherchierten Vorwürfe gegen Andersch erhob, war nicht zu übersehen, dass es dieser Kritik auch um eine Diskurshoheit geht: um die Hoheit im deutschen – literarischen – Diskurs über Juden und nicht zuletzt um die Frage, wer wie über sie schreiben dürfe. Dabei wird eine selbstdefinierte politische und moralische Korrektheit eingefordert, an der die Person und das Werk gemessen werden. Die literarhistorischen Verdienste des Autors, der jüdisches Schicksal zum Thema gemacht hat, lange bevor seine nachgeborenen Kritiker das Feld betraten, bleiben jedoch ungewürdigt. Ganz übersehen wird dabei auch, dass dessen Werk keineswegs auf das eine Thema zu reduzieren ist. Doch gehört es zum Kennzeichen dieser Kritik, dass sie den ästhetischen und intellektuellen Horizont des kritisierten Autors offensichtlich kaum überblickt.

Auch fast ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod ist im Werk Anderschs noch immer viel zu entdecken. Als ein interkultureller Autor ist er bislang nur in Ansätzen gewürdigt worden; auch seine Rolle bei der Internationalisierung und Modernisierung der deutschen Literatur nach 1945 harrt noch einer umfassenden Darstellung. Seine komplexe, nicht selten raffinierte intertextuelle Strategie ist lediglich fallweise analysiert worden. Seine Essayistik und besonders seine Naturessays sind in der Forschung weitgehend unberücksichtigt geblieben.

Die politischen Verdienste Anderschs mögen an bestimmte geschichtliche Umstände gebunden sind. Manches davon scheint zwar auch unter veränderten Bedingungen aktualisierbar – nicht zuletzt sein Vertrauen in den Einzelnen und sein Misstrauen gegen den Staat, gerade in Fragen von Krieg und Frieden, und schließlich auch sein Verhältnis zur Natur. Doch das literarische Werk Anderschs ist auf vordergründige Aktualität nicht angewiesen. Seine ästhetischen Qualitäten, die im Übrigen durchaus auch ihre politischen und moralischen Aspekte haben, sind unübersehbar.

Dieser Artikel greift, mit freundlicher Genehmigung des Diogenes Verlags, auf meine Einleitung zur Werkausgabe zurück. Vgl. Alfred Andersch: Gesammelte Werke. Kommentierte Ausgabe. 10 Bände. Zürich: Diogenes Verlag 2004, Band 1, S. 441-461.