Wurm im Herzen

Die Winterreise

Von Luise F. PuschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Luise F. Pusch

Die Ostküste der USA bis hinunter nach Georgia und der Mittlere Westen sind in Schnee und Eis erstarrt. Passend dazu gab man im Goethe-Institut Boston Schuberts „Winterreise“; obwohl „überzeitlich“, macht sie sich doch im tiefen Winter besser als im Sommer.

Dem Bariton Georg Lehner und Victor Rosenbaum am Klavier gelang eine wunderbare, ergreifende Darbietung; das trotz der klirrenden Kälte zahlreich erschienene Publikum war erschüttert, und begeistert.

Schubert ist mein Lieblingskomponist; die „Winterreise“ habe ich schon so oft gehört, dass ich sie fast auswendig kann. Trotzdem las ich im Halbdunkel den an der Kasse ausgehändigten Text mit. Und machte mir so meine feministischen Gedanken.

Die Musik ist über jede Kritik erhaben – „one of the greatest song cycles of all time“, hieß es auf dem Programmzettel, und das ist noch stark untertrieben. Die „Winterreise“ ist ein einsamer Gipfel der Musikgeschichte, Punkt. Sogar dem selbstkritischen Komponisten gefielen „diese Lieder mehr als alle und sie werden euch auch noch gefallen“ (Schubert nach der gemischten Reaktion der Freunde bei der Erstaufführung).

Die Musik machte auch den Dichter Wilhelm Müller (1794-1827) unsterblich – ob er allerdings von Schuberts Vertonungen je erfuhr, ist nicht bekannt. Urbild der „schönen Müllerin“, jenes Gedichtzyklus über den liebeskranken Müllerburschen, der der „Winterreise“ voranging, war die Dichterin Luise Hensel (Schwägerin von Fanny Mendelssohn-Hensel). Luise lehnte die Werbung des Dichters ab, weil der junge Mann ihr nicht ernst genug schien. Ähnlich wie Goethe mit seinem Werther und der Marienbader Elegie verarbeitete Müller seinen Liebeskummer in todtraurigen Texten – und tröstete sich schließlich mit einer anderen. Das Paar bekam zwei Kinder. Eine biedermeierliche Idylle, nichts blieb übrig vom todessüchtigen Liebesschmerz der „schönen Müllerin“ und der „Winterreise“. Allerdings starb der Dichter früh, mit 32 Jahren, an einem Herzinfarkt. In der „Winterreise“ ist das pochende Herz, dessen „Wurm mit heißem Stich sich regt“ ein zentrales Motiv.

Was dem feministisch geschulten Blick an der „Winterreise“ vor allem auffällt, ist das Missverhältnis zwischen dem Raum, den der Dichter seinem Leid widmet und dem, den er der verlorenen Geliebten gönnt. Das „Liebchen“ war anscheinend treulos und zog einen reicheren Bewerber vor. Dabei wissen wir doch, dass es in der frauenfeindlichen Wirklichkeit jener Tage meistens genau umgekehrt ablief: Sie wurde sitzengelassen (meist mit einem Kind) und ging ins Wasser, er ging auf Wanderschaft. Eine Option, die die Frau nie hatte.

Hier aber erfahren wir überaus genau, bis in die verborgensten Verästelungen der Seele, wie „tödlich schwer verletzt“ er ist, aber fast nichts über sein „fein Liebchen“. Das erweckt den Eindruck, als sei sie ihm im Grunde egal. Grob gesprochen: Er suhlt sich in seinem Elend und trieft vor Selbstmitleid.

Wirklich „schwer verletzt“, nämlich zu Tode erkrankt an der Syphilis und tatsächlich zeit seines Lebens ohne „ein treues Frauenbild“ war der Komponist der Winterreise. Goethen, Müller, Heine etc. gab ein Gott zu sagen, was sie litten, und so konnten sie sich des Liebeskummers mannhaft entledigen. Müllers Wanderbursche tut uns leid, aber er übertreibt ein bisschen. Immerhin aber gab der Dichter dem „tödlich schwer verletzten“ Komponisten eine Textvorlage, die ihn zu einem Liederzyklus anregte, der als Ausdruck der tödlichen Verlassenheit, des Schmerzes und der Verzweiflung in der Musik einzigartig ist und uns zutiefst erschüttert. 


2011 erschien Elfriede Jelineks „Winterreise. Ein Theaterstück“. Bei Wikipedia heiß es dazu: „Auf Anregung der Münchner Kammerspiele entstanden, nimmt das Stück schon im Titel Bezug auf den gleichnamigen Liederzyklus von Franz Schubert, Jelineks erklärtem Lieblingskomponisten, den die Autorin als den ‘Künstler, den ich am meisten bewundere, das größte Genie, das je gelebt hat’ bezeichnet. […] Schuberts Liederzyklus wie die diesem zugrunde liegenden Gedichte Müllers nennt Jelinek ‘eine lebenslange Inspirationsquelle’“. (Quelle: hier)

Was Schubert betrifft, stimme ich Jelineks starken Worten sofort zu. Wilhelm Müllers Gedichte allerdings kämen mir als „lebenslange Inspirationsquelle“ nicht in den Sinn. Wie kommt es, dass Jelinek, eine erklärte Feministin, sich nicht an der lieblosen Gestaltung und machohaften Konzeption des „treulosen Liebchens“ stört?

Ich glaube, da ist die Pianistin, Musikexpertin und -liebhaberin mit ihr durchgegangen. Die Musik ist so überwältigend, schmerzhaft und dabei so schön, dass wir darüber die Schwächen des Textes vergessen. Und es gibt ja auch viele großartige Gedichte in dem Zyklus, zum Beispiel „Die Krähe“, „Der Wegweiser“, „Der Leiermann“. Durch Schuberts Vertonung wird die bisweilen ärgerliche Wehleidigkeit der Vorlage erhoben nicht nur zu einer „überzeitlichen“, sondern auch „überpersönlichen“ Aussage, die somit auch den Geschlechterkonflikt transzendiert. Mit der Musik kann sich jeder und jede identifizieren, die am Abgrund steht oder schon mal gestanden hat, sei es wegen Liebes- oder Todeskrankheit.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag gehört zu Luise F. Puschs Glossen „Laut & Luise“, die seit Februar 2012 in unregelmäßigen Abständen bei literaturkritik.de erscheinen.