Dialog mit dem Ich

In „Report from the Interior” analysiert Paul Auster die Formung des Intellekts

Von Regina RoßbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Regina Roßbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„The world is in my head. My body is in the world”, schreibt Auster. Dieses Paradox, so meditiert er, sei dem Menschen durch seine doppelte Existenz als körperliches und geistiges Wesen von Grund auf eigen: Eine unauflösbare Trennung zwischen Innen und Außen. In „Winterjournal“ hat Auster die Biographie seines Körpers verfasst, der neue, gerade auf Englisch erschienene zweite Teil „Report from the Interior“ ist nun der Versuch, die Entwicklung seiner Gedankenwelt nachzuerzählen. 

Jede gute Autobiografie reflektiert ihr eigenes Scheitern gleich mit. Auch Auster macht keinen Hehl aus seinem Unvermögen, das Vergangene konsistent zu erzählen. Am deutlichsten zeugt von diesem Problem die Gliederung des Buches in vier sehr verschiedene Teile – von ebenso unterschiedlicher Qualität.

Der erste, titelgebende Abschnitt ist ohne Frage der stärkste des Buches. Die Anrede des früheren Ich in der zweiten Person Singular, die auch in den anderen Teilen durchgehalten wird, lässt hier einen zutiefst ehrlichen und zärtlichen Dialog mit dem kindlichen Ich entstehen. Der Effekt auf den Leser ist enorm. Indem der frühe Entwicklungsstand des Kindes heraufbeschworen wird, kann eine verloren geglaubte Naivität und Fantasie lesend wiederentdeckt werden: „In the beginning, everything was alive. The smallest objects were endowed with beating hearts, and even the clouds had names. Scissors could walk, telephones and teapots were first cousins, eyes and eyeglasses were brothers.” Dass dieser Teil zum Anekdotischen neigt, ist der Struktur des Gedächtnisses geschuldet, in der einschneidende Erlebnisse das alltäglich Wiederkehrende überlagern. Was bei Auster deutlich wird, ist vor allem, welch vermeintlich banale Ereignisse das Weltbild eines Kindes völlig durcheinander wirbeln können. In tief empfundener Scham beichtet das Kind einem Betreuer, in der Nacht ins Bett gemacht zu haben. Dass dieser sich ebenfalls als früherer Bettnässer herausstellt, ist für den Jungen eine Überraschung ohnegleichen. Die Erkenntnis, dass viele andere wie er Geheimnisse haben, die sie vor anderen verbergen, erschüttert seinen Glauben an die Zuverlässigkeit der Erscheinungen und die Glaubwürdigkeit der Welt.

Auster denkt sich einfühlsam in die Perspektive des Kindes zurück, das er einmal gewesen ist. Wenn er über seine ersten Lektüreerfahrungen schreibt, berichtet er ehrlich von dem Gefühl der Überforderung: Der elfjährige Paul möchte das Buch des neuen Nobelpreisträgers lesen, doch sein Verstand ist noch nicht reif für die intellektuellen Ansprüche von Pasternaks „Doktor Schiwago“. Auch die Beschreibungen der als einsam und bedrückend empfundenen Atmosphäre im elterlichen Zuhause und seine kindlich-aggressiven Wutausbrüche gelingen aufrichtig und bescheiden. Auster ringt nicht um Bewertungen, sondern um Verstehen.

Er erkennt, dass sein ambivalentes Verhältnis zu Amerika seinen Anfang genommen hat, als der in der Schule gepredigte Patriotismus durch Bilder von Eingeborenen und Sklaven erschüttert worden ist. So geht es auch um das große Vertrauen, das Kinder ihrer Umwelt entgegenbringen und die vielen bitteren Erkenntnisse und Enttäuschungen auf dem Weg zu einem realistischen Verhältnis gegenüber der Wirklichkeit. Erfahrungen wie jene, von einem Lehrer als Lügner bezeichnet zu werden, weil dieser nicht daran glaubt, wie viele Bücher der Junge schon gelesen haben will, oder das Beschimpftwerden von den antisemitischen Eltern eines Spielkameraden führen zu der harten Einsicht in die Differenz zwischen Wahrheit und Erscheinung. Zugleich legt Auster nahe, dass eine große Bedeutung bei diesem intellektuellen Prozess der Kunst zukommt. Es scheint, als ob es – wieder ein Paradox – keinen besseren Weg zu einem reflektierten Wirklichkeitszugang gebe als die Fiktion.

Zwei gravierende Begegnungen mit der Fiktion sind das Thema des zweiten Teils: „Two Blows to the Head“, wie er sie nennt. Auster, der selbst einmal gesagt hat, der Film sei ihm genauso wichtig wie die Literatur, erzählt detailliert zwei Filme nach, die er als Jugendlicher gesehen hat: „The Incredible Shrinking Man“ (1957) und „I Am a Fugitive from a Chain Gang“ (1932). Es ist der Versuch, den Moment des ersten Sehens noch einmal zu durchleben und literarisch zu vermitteln, mit welcher Wucht künstlerische Erzeugnisse den Verstand anregen können. Wie Epiphanien muss Auster die Filme in seinen Jugendjahren erlebt haben: „It came into your life at the precise moment you needed to see it”. Leider wirken die langatmigen Szenenbeschreibungen eher wie Mischungen aus Filmlexikon-Einträgen und Schulaufsätzen.

Die Briefe, die der jugendliche Auster seiner damaligen Freundin und späteren, ersten Ehefrau Lydia Davis geschrieben hat, bilden den dritten Teil der autobiographischen Essays. Als Davis, selbst Autorin und Übersetzerin, ihm die Briefe mit der Bitte zugeschickt habe, sich eine Meinung über ihre Übergabe an ein Bibliotheksarchiv zu bilden, sei es ihm vorgekommen, als habe man ihm überraschend eine „Time Capsule“ zukommen lassen. Plötzlich hat er Zugang zur zwanzigjährigen Version seiner selbst. Es wäre vielleicht nicht nötig gewesen, die Ergüsse des Studenten – seine Geldprobleme, seine Unsicherheiten über die Berufswahl, seine Lektüren – in solcher Umfänglichkeit abzudrucken. Sie sind ohnehin nicht sehr schmeichelhaft. Nüchtern unpoetisch und selbstbezogen berichtet er von Stimmungsschwankungen und hochtrabenden Plänen. Kaum einmal geht er auf seine Briefpartnerin ein. Das Interessanteste ist die Erkenntnis des Erwachsenen, der sich von dieser Krisenzeit seiner Jugendjahre nicht nur entfernt hat, sondern dessen Erinnerungen mit den Schilderungen auch nicht mehr in Einklang zu bringen sind: Wie ein Fremder blickt der junge Mann dem heute 67-Jährigen entgegen.

Auch das „Album“ im letzten Teil erprobt die Gattungsgrenzen der Autobiographie. Die Bilder sind auf die ersten drei Teile abgestimmt: Zeichentrickfiguren, Autorenbilder, Film Stills und Stadtansichten illustrieren und verknüpfen den Gesamttext. Kein Bild von Auster, seiner Familie oder seinen persönlichen Gegenständen ist darunter. Auch am Ende steht deshalb wieder ein Paradox: Was von Außen einwirkt, bestimmt das Innere, so könnte man die Botschaft des Fotoalbums verstehen. Auster hat das Unmögliche versucht: Innen und Außen zu trennen. Das Schönste daran ist, dass er dazu anregt, die Verbindung von beidem zu überdenken. Sein Buch könnte somit das leisten, was ihm selbst an guter Literatur so wichtig geworden ist.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Paul Auster: Report from the Interior.
Macmillan Publishers Ltd, New York 2013.
341 Seiten, 13,95 EUR.
ISBN-13: 9780805098570

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