Fragmentierte Identität

„Der Koloss“, Sylvia Plath‘ erster Lyrikband, liegt endlich in deutscher Übersetzung vor.

Von Regina RoßbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Regina Roßbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Christine Jeffs‘ Film „Sylvia“ von 2003 werden neben den bekannten psychischen Problemen, ihrer Eifersucht und ihrer Entscheidung für den Freitod auch ganz andere Aspekte der Identität von Sylvia Plath (gespielt von Gwyneth Paltrow) beleuchtet: ihre enorme Belesenheit, ihr schriftstellerisches Talent, ihre Selbstzweifel als Autorin und Mutter, ihr Kampf um eine Stellung als Frau in einer männlich dominierten Literaturszene. Fast verbissen könnte man ihr Bemühen nennen, sich als Schriftstellerin einen Namen zu machen. Nach vergeblichen Einsendungen an zahlreiche Verlage gelingt ihr die erste Veröffentlichung schließlich 1960 bei einem britischen Verlag; in ihrem Heimatland, den USA, erscheint „Der Koloss“ erst zwei Jahre später. Dass dieses Buch als eines von nur zwei zu Lebzeiten veröffentlichten (das andere ist „Die Glasglocke“) erst jetzt ins Deutsche übersetzt worden ist, kann nur überraschen. Der Suhrkamp Verlag bietet endlich auch deutschen Lesern – noch dazu in einer zweisprachigen Ausgabe – Zugang zu diesem weiteren Zeugnis von Plath‘ Vielseitigkeit.

Wie meist bei Plath lässt sich etwa aus dem titelgebenden Gedicht „The Colossus“ (dt. „Der Koloss“) die biographische Ebene gar nicht ignorieren. Das lyrische Ich spricht in ambivalenter Haltung von einer Vaterfigur: Bewunderung und Ablehnung, anziehende Faszination und Abscheu vor dem ewigen Überlegenheitsgestus halten sich die Waage. Als Plath‘ Vater starb, war sie acht Jahre alt, der Versuch der Verarbeitung dieses Verlusts durchzieht ihr gesamtes Werk. In „The Colossus“ scheint das lyrische Ich an jenem Prozess des Verstehens und Bearbeitens zu verzweifeln. Es vergleicht sich mit einer Ameise, spricht vom Baggern, Schuften und Krabbeln. Zugleich ist damit die Tätigkeit des dichterischen Schreibens gemeint, die Gestaltung eines vollendeten Kunstwerks, das der Lyrikerin unerreichbar erscheint: „I shall never get you put together entirely, / Pieced, glued, and properly jointed. / Mule-bray, pig-grunt and bawdy cackles / Proceed from your great lips. / It’s worse than a barnyard.” (dt. „Ich werde dich nie ganz zusammengesetzt kriegen, / Gestückelt, geklebt und exakt verbunden. / Maultier-Geschrei, Schweinegrunzen und schlüpfriges Gackern / Entspringen deinen großen Lippen. / Es ist schlimmer als ein Bauernhof.“)

Das individuell-psychologische wird dem Gedicht hier nicht mehr gerecht. Es geht um den Prozess des Schreibens, um das Wesen und die Tradition der Lyrik. Auch ins Gesellschaftskritische wird die Vaterfigur überführt. Wenn es heißt: „O father, all by yourself / You are pithy and historical as the Roman Forum.“ (dt. „O Vater, ganz aus dir selbst / Bist du markant wie das Forum Romanum.”), dann spricht daraus auch die Ehrfurcht vor der Geschichte im Allgemeinen, die das lyrische Ich als männlich strukturiert erlebt. Wie oft bei Plath (etwa auch in anderen Gedichten des Bandes, z. B. „Lorelei“) schwingt das Ringen um eine Identität als Frau und als weibliche Literatin mit.

Ein Kontrast zu dem düster-kalten Bild des Vaters bildet das zärtliche Gedicht an die Großmutter „Point Shirley“, das den Verlust der Kindheit betrauert und das Sehnen nach weiblicher Fürsorge und Heimat in unkonventionellen Bildern konkretisiert: „I would get from these dry-papped stones / The milk your love instilled in them.“ (dt.: „Ich würde aus diesen trockenen Steinzitzen / Die Milch saugen, die deine Liebe ihnen eingab.“)

Sicher veranschaulichen solche Verse auch Plath‘ eigene Beschäftigung mit dem Thema Mutterschaft: Bei Erscheinen des Bandes steht die Geburt ihrer ersten Tochter Frieda unmittelbar bevor. Eine deutliche Sprache von der großen Bedeutung des zu erwartenden Babys sowie der Angst der werdenden Mutter spricht zum Beispiel „I want, I want“ (dt.: „Ich will, ich will“): „Open-mouthed, the baby god / Immense, bald though baby-headed, / Cried out for the mother’s dug.“ (dt. „Offenen Mundes schrie der Baby-Gott, / Gewaltig, kahl, obschon babyköpfig, / Nach der Mutter Zitze.“)

Aus ganz anderen Bildbereichen schöpfen die Naturgedichte des Bandes, wie „Hardcastle Crags“, in dem durch die Beschreibung der in West Yorkshire gelegenen, waldigen Hügellandschaft Ehrfurcht vor Natur und Tod Ausdruck findet. Immer wieder greift Plath auch auf das Bedeutungspotential mythologischer Figuren zurück, beispielsweise in „Medea in Aftermath“ (dt. „Nachspiel“) oder „Two Sisters of Persephone“ (dt. „Zwei Schwestern der Persephone“). Häufig wird zudem die bildende Kunst als Inspirationsquelle und zur Bedeutungserweiterung genutzt. Davon zeugen neben direkten Bezügen – „The Disquieting Muses“ (dt.: „Die beunruhigenden Musen“) etwa geht auf ein Gemälde von Giorgio de Chirico zurück – auch der leitmotivische Einsatz von Farben und Vergleiche mit Techniken der Handwerkskunst. 

Die Funktion früher Gedichte als Experimentierfeld des lyrischen Ausdrucks wird in diesem Band durch die verschiedenen Stimmungen und Rhythmen der Gedichte deutlich. Wie kleine Soldaten werden etwa die „Mushrooms“ (dt. „Pilze“) in kurzen, stakkatohaften Versen umschrieben: Vergleiche mit kleinen Hämmern oder weichen Fäusten erzeugen einen seltsamen Effekt zwischen Schauer und Entzücken. In „The Thin People“ (dt. „Die dünnen Leute“) hinterlassen dagegen lange Verse und zahlreiche Enjambements den Eindruck von leiernder Hektik. Es geht um die Notwendigkeit, das Grauen der Geschichte zu verdrängen, um leben zu können.

Auch eine so fähige Übersetzerin wie Judith Zander kann bei stilistischen Raffinessen wie diesen die Verschiedenheit der Sprachen nicht immer vergessen machen. Gerade die Übertragung von Plath‘ sehr kreativ und unterschiedlich eingesetzten Enjambements gelingt nur mit Verlusten. Mal wird der Effekt verstärkt, mal geschwächt. So heißt es im Englischen etwa „saw sprout / Goat horns“; im Deutschen „sah Ziegen- / Hörner sprießen“. Die Variation der Versenden hat verschiedene Leseeindrücke zur Folge. Manchmal hat Zander Zäsuren auch hinzugefügt; vielleicht um ihre Wegnahme an anderer Stelle wieder auszugleichen. So ergänzt sie bei der Übersetzung des Verses „An Arena of yellow eyes“ ein Komma: „Eine Arena von Augen, gelb“. Die Gegenüberstellung beider Versionen ermöglicht dem Leser das ständige Vergleichen, was nicht nur das Verstehen erleichtert, sondern auch Interpretationsanregungen liefert.

Am Ende steht ein Meisterwerk: der aus sieben Gedichten bestehende Zyklus „Poem for a Birthday“ (dt. „Gedicht für einen Geburtstag“). Nicht nur, dass viele Bruchstücke des Bandes hier noch einmal in ein rundes Ganzes gegossen sind; der Schlussteil ist auch in beinahe euphorischer Weise ein Zeugnis von Produktivität, Genesung, Wiedergeburt und Aufbruch. Das letzte Gedicht „The Stones“ (dt. „Die Steine“) beginnt mit der Zeile „This is the city where men are mended.“ (dt. „Dies ist die Stadt, in der Menschen geflickt werden.“) Wenn es zuvor um die Identität in Stücken gegangen war, so setzt sich das fragmentierte Ich jetzt zusammen. Auch diese Facette darf nicht vergessen werden: Manchmal muss Sylvia Plath auch eine optimistische, lebensbejahende und funkelnd selbstbewusste Frau gewesen sein.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Sylvia Plath: Der Koloss. Gedichte.
Übersetzt von Judith Zander.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
200 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783518423806

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