Von Barbusse bis Lemaitre

Zur öffentlichen Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in Frankreich

Von Olaf MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Olaf Müller

Auch wenn die diversen Aktivitäten zur Erinnerung an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, die sich zur Zeit in den Medien und im akademischen Betrieb beobachten lassen, etwas anderes suggerieren könnten, ist es doch relativ eindeutig, dass der Erste Weltkrieg in der deutschen Gegenwartskultur – und darunter darf man ohne weiteres die letzten 50 Jahre verstehen – praktisch keine Rolle spielt. Sicher gab es zu den runden Jahrestagen auch in Deutschland immer wieder offizielle Gedenkveranstaltungen und Ausstellungen, aber wenn man sich auf die Suche nach deutschsprachiger Literatur, nach neuerer Musik oder nach Filmen macht, die in den letzten Jahrzehnten in Deutschland entstanden sind, wird man kaum nennenswerte Titel finden, die den Ersten Weltkrieg zum Thema hätten. Ob Jüngers Stahlgewitter, Remarques Im Westen nichts Neues oder Ludwig Renns Krieg, die deutschsprachige Literatur zum Ersten Weltkrieg, an die man sich überhaupt noch erinnert, ist vor 1933 erschienen, und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die Erinnerung an den Krieg von 1914–1918 höchstens noch Gegenstand historiographischer Debatten.

In Frankreich hingegen, wo noch heute der Erste Weltkrieg als La Grande Guerre, der große Krieg, bezeichnet wird, war diese Erinnerung auch in der Alltagskultur nie ganz verschwunden, und ein Blick auf eine zufällige Auswahl an in den letzten 15 Jahren erschienenen Romanen, Comic-Bänden und Filmen kann das illustrieren: Christian Japrisots Roman Un long dimanche de fiançailles, der 1991 mit dem Prix Interallié ausgezeichnet wurde und 2004 in der Verfilmung von Jean-Pierre Jeunet mit der Amélie-Poulain-Darstellerin Audrey Tautou auch international bekannt wurde (in Deutschland unter dem Titel Mathilde – eine große Liebe), die monumentale Comic-Produktion, die Jacques Tardi als Einzelautor oder in Zusammenarbeit mit Didier Daeninckx dem Ersten Weltkrieg gewidmet hat (Jacques Tardi: C’était la guerre des tranchées, 1993; Didier Daeninckx/Jacques Tardi: Le der des ders, 1997; Didier Daeninckx/Jacques Tardi: Varlot soldat, 2001), oder Merry Christmas, Christian Carions international besetzter Film von 2005 (u. a. mit Daniel Brühl, Benno Fürmann und Diane Kruger) über die Weihnachtsfraternisierungen in den Schützengräben. Während die relativ konstruierte Handlung in Deutschland eher Heiterkeit beim nicht besonders zahlreichen Publikum hervorrief, wurde der Film in Frankreich zu einem großen Kassenerfolg.

Auch nach Japrisots Romanerfolg von 1991 ist der Erste Weltkrieg in der französischen Gegenwartsliteratur immer wieder zum Thema geworden, genannt seien nur Henri-Frédéric Blancs Le dernier survivant de quatorze (1999), Robert Deleuses Un petit regain d’enfer (1999), Xavier Hanottes Les lieux communs (2002), Alice Ferneys Dans la guerre (2005) oder Jean Echenoz’ 14 (2012). Das jüngste Beispiel, das auch in den deutschen Medien zu verfolgen war, ist die im November 2013 erfolgte Verleihung des Prix Goncourt, der wichtigsten Auszeichnung des französischen Literaturbetriebs, an Pierre Lemaitre für seinen Kriegsroman Au revoir là-haut.

Lemaitre war bis dato nur als erfolgreicher Krimiautor bekannt, doch sein Buch über die Schwierigkeiten der Frontsoldaten, sich nach dem Krieg in ein ziviles Leben zu integrieren, hatte sich vom Moment des Erscheinens Ende August bis zur Verleihung des Prix Goncourt Anfang November schon mehr als 100.000 Mal verkauft. Normalerweise ist der Goncourt allein schon eine Garantie für Verkaufszahlen oberhalb der halben Million, in diesem Fall kann man also von eher noch höheren Zahlen ausgehen.

Der 1951 geborene Lemaitre hat zu seiner Motivation für diesen Roman über den Ersten Weltkrieg eine bemerkenswerte Äußerung getan, zu der man sich eine deutsche Entsprechung ebenfalls nur schwer vorstellen kann:Jedes Mal, wenn ich unter einem anderen Gesichtspunkt an diesen Krieg dachte, diesen Krieg, der seinesgleichen nie hatte und nie haben wird, dann sagte ich mir: dieser Krieg hat uns geboren, er hat uns gemacht. Als junger Mann war ich durchdrungen von den Holzkreuzen von Roland Dorgelès [1919]. Danach habe ich dann die Erzählungen von Henri Barbusse [Das Feuer, 1916] und Maurice Genevoix [Les Éparges, 1921] gelesen. Was diese nach dem Krieg veröffentlichten, großen Romane zeigten, das war, wie jung die Soldaten waren. Ich habe mich bald mit diesen Kindern identifiziert.“

Auch wenn man nicht mit Sicherheit sagen kann, wie viel von diesem Bekenntnis sich dem Reklamebedarf für Lemaitres Kriegsbuch verdankt, zeugt doch die Tatsache, dass ein 1951 geborener französischer Autor noch 2013 allen Ernstes sagen kann, der Erste Weltkrieg habe ihn „gemacht“, und sich auch literarisch auf die Traditionen der Kriegsliteratur von 1918 bezieht, noch einmal recht deutlich von der Bedeutung, die dem Ersten Weltkrieg in der französischen Öffentlichkeit nach wie vor zukommt. Mit Barbusse bezog sich Lemaitre in diesem Interview außerdem auf einen direkten Vorgänger, da der 1916 für seinen Roman Le Feu ebenfalls den Prix Goncourt erhalten hatte.

Ein genauerer Blick auf diesen Klassiker nicht nur der französischen Kriegsliteratur, der zudem noch als außerordentlich kriegskritisch gilt, lohnt sich.

Le Feu als Klassiker der (Anti)Kriegsliteratur

Seit der Roman Le Feu von Henri Barbusse 1916, also mitten im Ersten Weltkrieg, erschienen ist, scheint weitgehend Einigkeit darüber zu herrschen, dass es sich bei diesem Journal d’une escouade, dem „Tagebuch einer Kaporalschaft“, so der Untertitel, um einen gegen den Krieg gerichteten, pazifistischen Text handelt, von dem sich eine ganze Tradition von Antikriegsliteratur zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg herleitet. Noch bis in die jüngste Zeit hat die Kritik immer wieder hervorgehoben, dass es sich bei Le Feu um einen „success in contradicting wartime propaganda“ (Leonard V. Smith), ja um eine regelrechte „contre-propagande“ handele (Micheline Kessler-Claudet). Aber ist damit die Wirkung des Romans zum Zeitpunkt seines Erscheinens wirklich zutreffend beschrieben? Immerhin wurde Le Feu unmittelbar nach Abschluss der Veröffentlichung in der Zeitung L’Œuvre mit dem Prix Goncourt für das Jahr 1916 ausgezeichnet und erzielte als Buch, das von der Zensur weitgehend verschont blieb, einen enormen Verkaufserfolg. Dabei lassen sich deutlich zwei Rezeptionsphasen unterscheiden, in denen der Roman äußerst gegensätzliche Funktionen erfüllte:

1. die Phase vom Erscheinen als Fortsetzungsroman ab August 1916 bis zum Kriegsende und

2. die Phase danach, in der Barbusse zur Symbolfigur für den Pazifismus der Anciens combattants und, im Laufe der zwanziger Jahre, international zum „Sinnbild und Vorbild des revolutionären Dichters“ (Ernst Toller) wurde.

Im Grunde ist es die Rezeptionshaltung dieser zweiten Phase, die bis in die heutige Zeit dominiert und die erste Phase in Vergessenheit geraten ließ.

Eine wichtige Frage, die die historische Forschung ab den 1990er-Jahren vermehrt gestellt hat, zielte darauf, wie der Konsens erzeugt wurde, der nötig war, um den Krieg trotz aller Belastungen für die Bevölkerung über mehr als vier Jahre fortsetzen zu können. Auch der Blick auf die Kombattantenliteratur hat sich dabei gewandelt. Lange Zeit hat man die Berichte von der Front – ob als Roman oder als autobiographisches Dokument deklariert – vor allem unter dem Aspekt der historischen Authentizität betrachtet und den Anciens Combattants, also den ehemaligen Frontsoldaten, so etwas wie einen Alleinvertretungsanspruch für die historische Wahrheit über den Krieg zugestanden. Für Le Feu gilt dies bis heute in besonderem Maße, und ironischerweise waren es nicht Literaturwissenschaftler, sondern Historiker, die zuerst auf den hohen Grad an Literarizität hingewiesen haben, der Barbusses Roman auszeichnet. Inzwischen betont die neuere Forschung stärker die blinden Flecken und die Einseitigkeiten der Kombattantenliteratur, die mit ihrem ausschließlichen Akzent auf den Leiden der Frontsoldaten den Charakter dieses ersten „totalen Krieges“ verfehle, der eben auch große Teile der Zivilbevölkerung in Frankreich betroffen hat, was in der schematischen Dichotomie von leidendem „Avant“ und kriegstreiberischem „Arrière“, wie sie die Frontliteratur inszeniert, vollkommen aus dem Blick verschwindet. Ich möchte in diesem Sinne eine Interpretation von Barbusses Text vorschlagen, die die von der Nachkriegslektüre verschütteten Rezeptionsschichten wieder freizulegen versucht und den Roman in einen diskursiven Kontext stellt, in dem selbst die internationalistischen Ideale der Vorkriegszeit noch für die moralische Mobilisierung aktiviert werden konnten und die das Resultat eines Zusammenspiels von öffentlichen Sprachregelungen und individueller Selbstmobilisierung war.

Barbusses Kriegseintritt: die Erinnerung an „1793“ und die erste Phase des offiziellen Kriegsdiskurses

Barbusse, Jahrgang 1873, hätte sich bei Kriegsausbruch aufgrund seines Alters und seiner angegriffenen Gesundheit vom Dienst an der Front fernhalten können, bestand aber darauf, in einem Infanterieregiment eingesetzt zu werden. In einem Brief an die sozialistische Tageszeitung L’Humanité begründete er, warum dieser Schritt keine Abkehr von seinen antimilitaristischen und internationalistischen Vorkriegsüberzeugungen bedeute, sondern deren zwingende Konsequenz. Hier finden sich bereits die meisten der Motive, die zwei Jahre später Le Feu durchziehen werden und die veranschaulichen, wie sehr die Union sacrée, das französische Pendant zum deutschen „Burgfrieden“, ein intellektuelles Phänomen geworden war, das bis weit in die ehemals pazifistische Linke reichte: Frankreich, so die Argumentation, führe einen Krieg für die gesamte Menschheit, nicht zuletzt für das unterdrückte deutsche Volk. Die Aussicht auf den sozialen Emanzipationsprozess, den der Krieg einleiten werde, ermögliche es selbst einem Pazifisten, freudig in den Kampf zu ziehen. Barbusse bezeichnete sich in dem am 9. August 1914 abgedruckten Schreiben als einen der „antimilitaristischen Sozialisten die sich freiwillig für den gegenwärtigen Krieg melden. […] Weit davon entfernt, die Ideen zu verleugnen, die ich mit hohem Einsatz immer verteidigt habe, glaube ich ihnen zu dienen, indem ich zur Waffe greife. Dieser Krieg ist ein sozialer Krieg, der unsere Sache einen großen Schritt – vielleicht den entscheidenden Schritt – voranbringen wird.“

Die alten Gegner des Internationalismus, der Militarismus und der Imperialismus, seien inzwischen identisch mit der herrschenden Klasse in Deutschland, die ihr eigenes Volk gefangen halte und die anderen europäischen Völker zu unterjochen drohe: „Die Welt kann sich nur gegen sie emanzipieren. Wenn ich mein Leben geopfert habe und wenn ich mit Freuden in diesen Krieg ziehe, dann nicht nur als Franzose, sondern vor allem als Mensch.“

Barbusse befand sich damit keineswegs auf einer kuriosen Außenseiterposition, sondern übernahm die Elemente des offiziellen Kriegsdiskurses, mit denen sich auch die zum Krieg bekehrten Sozialisten identifizieren konnten. Besonders die Behauptung, der Krieg setze die Revolutionskriege von 1792/93 fort, fand in beinahe allen Lagern der Union sacrée ihre Anhänger. Im Schlusskapitel von Le Feu wird diese Konstruktion, die hier eine Art französischen Welterlösungsauftrag behauptet, noch einmal explizit bemüht:

–Dieser Krieg ist wie die Französische Revolution, die weiter geht.
–Dann arbeiten wie also auch für die Preußen?
–Aber das will ich doch hoffen, sagte einer der Unglücklichen.
–Warum sind‘n immer wir die, die für die ganze Welt marschieren!
–Das ist eben so, sagte ein Mann, und er wiederholte die Worte, die er eben benutzt hatte: Um so besser, oder um so schlimmer.

So weit passt die Botschaft von Le Feu noch zu den patriotischen Ergüssen der ersten Kriegsmonate. Damit lässt sich aber nicht befriedigend erklären, wie der überragende Erfolg von Le Feu mitten im Krieg möglich war, wenn die Darstellung der Grausamkeiten an der Front tatsächlich so unerhört und gegen die vorherrschende Propaganda gerichtet gewesen wäre, wie man nach dem Krieg weithin unterstellt hat. Die Autoren, die dem Roman eine so außerordentliche aufklärerische Schockwirkung zuschreiben, setzen explizit oder implizit eine Kontinuität der Propaganda von 1914 bis 1916 voraus, also von den ersten Kriegsmonaten, als alle Seiten noch von einem schnell zum Sieg führenden Angriffskrieg ausgingen oder dies zumindest behaupteten, bis zur Erfahrung der Materialschlachten und des Stellungskriegs, für die bis heute Verdun ein Symbol ist. Schon bald nach Kriegsbeginn wurde die Propaganda, die den Krieg als heroisches Abenteuer darzustellen versuchte, daher als „bourrage de crâne“ – als Schädelstopferei bezeichnet, und auch wenn sich bis 1918 immer wieder Spuren davon finden lassen, herrschte, wie ich zeigen möchte, ab 1915/16 ein anderer Ton vor. Eine Beschreibung von Le Feu als „«débourrage» systématique de crânes“ trifft deshalb gerade nicht das für das zeitgenössische Publikum Entscheidende.

1916 und die zweite Phase des offiziellen Kriegsdiskurses

Das Erscheinen von Le Feu als Fortsetzungsroman fiel zeitlich zusammen mit den beiden verlustreichsten „Schlachten“ des Ersten Weltkriegs, der im Februar 1916 begonnenen vor Verdun, die bis in den Dezember fortdauerte, und der von Juli bis November geführten an der Somme. Worte wie „Schlacht“ und „Schlachtfeld“ in ihrer traditionellen Bedeutung verloren allein schon angesichts der Dauer des Massensterbens und der geographischen Ausdehnung des bombardierten Gebiets ihren Sinn, und auch das Klischee vom heldenhaften Offensivkrieg erwies sich spätestens hier, wo jeder Angriffsversuch in den Maschinengewehrsalven der verteidigenden Seite endete, in aller Deutlichkeit eben als Klischee, als „bourrage de crâne“. In wenigen Monaten kamen bei diesen endlosen Massakern über 1,5 Millionen Menschen ums Leben. Für die Stimmung in der französischen Bevölkerung war die Einsicht, besonders nach dem Scheitern der Somme-Offensive vom Juli 1916, dass man die deutschen Invasoren auch unter Einsatz bisher noch nie dagewesener Material- und Menschenmengen nicht in absehbarer Zeit aus dem Land würde jagen können, ein enormer Rückschlag. Es bedurfte zu diesem Zeitpunkt keiner literarisierten Schilderung des Gemetzels mehr, um die Bevölkerung über die Realität des Kriegs zu belehren.

Wie zum Beispiel die Flut von zustimmenden Briefen zeigt, die der Abgeordnete Pierre Brizon erhielt, nachdem er im Juni 1916 als einer von drei Sozialisten gegen die Kriegskredite gestimmt hatte, waren sowohl Soldaten als auch Zivilisten über die allgemeine Situation an der Front sehr genau informiert. Wenn man davon ausgeht, dass Millionen von Briefen zwischen den Soldaten und ihren Angehörigen gewechselt wurden, und wenn man vor dem Hintergrund dieser Schätzung die Informationen über die Kriegsgräuel, die sich in den schon ab 1915 mit Zustimmung der Zensur publizierten Briefsammlungen gefallener Soldaten finden, als repräsentativ für einen Großteil der Briefwechsel annimmt, dann darf man unterstellen, dass es ein relativ dichtes, frankreichweites Kommunikationsnetz gab, angesichts dessen es wohl kaum möglich gewesen wäre, die Zivilbevölkerung über die Dimensionen der Gewalt wirksam zu täuschen.

Dass die Regierungen sich das auch nicht mehr wirklich einbildeten, macht der englische Dokumentarfilm The Battle of the Somme deutlich, der sehr ausführlich die Toten und Verletzten der Angriffe vom 1. Juli zeigte und der im Herbst 1916 in Großbritannien innerhalb weniger Wochen von etwa 20 Millionen Zuschauern gesehen wurde (der Film ist in einer restaurierten Fassung aus Anlass des hundertsten Jahrestags des Kriegsbeginns zur Zeit auch in deutschen Kinos zu sehen). Allerdings mussten sich die Dokumentar- und Wochenschaufilme fast immer auf die Darstellung der Folgen der Frontkämpfe in den Lazaretten und Hospitälern beschränken, die vorderen Linien konnten sie nur im Zuge offizieller Besuche filmen, wenn dort gerade keine Kampfhandlungen stattfanden. Die Schilderung dieser Momente blieb daher dem Medium der Schrift vorbehalten.

Als Barbusses Roman erschien, war also bereits ein starkes öffentliches Interesse an realistischen, ungeschönten Bildern vom Alltag des Krieges ersichtlich, das sich ergänzte mit Veränderungen im offiziellen Kriegsdiskurs, der nun stärker an die Leidensfähigkeit der Franzosen appellierte und die Bevölkerung auf einen möglicherweise noch Jahre dauernden Krieg vorzubereiten begann. Die Erfahrung der Frontrealität auf der Seite der Soldaten und das Wissen darüber bei den Zivilisten, für letztere noch vereint mit den besonders in den besetzten Gebieten äußerst erschwerten Lebensbedingungen, führte zu ersten Anzeichen von Kriegsmüdigkeit, wie sie sich besonders deutlich in den Briefen an Pierre Brizon finden. Ein wiederkehrendes Feindbild in den meisten dieser Briefe waren die „jusqu’au boutistes“, die in patriotischen Tönen die Fortsetzung des Kriegs bis zur völligen militärischen Niederlage Deutschlands forderten und jegliche Friedensinitiative ablehnten. Als Lösung schlagen diese Briefe vor, Verhandlungen zu unternehmen, ein Arrangement zu treffen, die Diskussion zu akzeptieren, und die Agenten dieser Lösung seien der internationale Sozialismus und die Fraternität unter den Völkern. Sicher repräsentierten diese Stimmen nur eine kleine Minorität, aber sie lassen die Elemente des pazifistischen Diskurses von 1916 erkennen, wie er in elaborierterer Form von den Intellektuellen vertreten wurde, die mit Romain Rolland in der Schweiz in Kontakt standen, von den Teilnehmern an den pazifistischen Konferenzen von Zimmerwald (1915) und Kienthal (1916), oder im Umkreis des Comité pour la reprise des relations internationales.

Die besondere Leistung von Le Feu war es, an diesen pazifistischen Diskurs anzuknüpfen, ohne dessen Folgerungen, nämlich die sofortige Aufnahme von Friedensverhandlungen, zu übernehmen. Zugespitzt formuliert könnte man sogar sagen, dass der Roman den pazifistischen Diskurs mit den Positionen der „jusqu’au boutistes“ versöhnt hat. Diese Doppelgesichtigkeit des Romans möchte ich nun an einigen Textbeispielen zeigen.

Moralische Remobilisierung und Opferideologie

Le Feu ist unterteilt in vierundzwanzig Kapitel, die den Alltag der Frontsoldaten am Beispiel der titelgebenden „escouade“ um den charismatischen Caporal Bertrand in allen seinen Phasen schildern. Während das erste (Die Vision) und das letzte Kapitel (Morgendämmerung) einen weitgehend statischen, in prophetisch-deklamatorischem Ton gehaltenen Rahmen bilden, sollen die übrigen zweiundzwanzig Kapitel eine Gegenrealität zu den Schablonen der traditionellen Kriegspropaganda präsentieren. Dazu bemüht Barbusse sich vor allem, den überkommenen soldatischen Heldendiskurs zu dekonstruieren und ihm das Bild vom durch und durch humanen Frontkämpfer entgegenzustellen, der ausdrücklich kein Soldat, sondern schlicht ein Mensch sei: „Wir sind keine Soldaten, wir sind Menschen, sagt der dicke Lamuse. Die Stunde hat sich verfinstert, und doch legt dieses richtige und helle Wort einen Lichtschein über die, die hier sind, die seit heute morgen warten, die seit Monaten warten. Sie sind Menschen, beliebige Männer, die plötzlich aus ihrem Leben gerissen worden sind. Wie beliebige, aus de Menge gegriffene Menschen sind sie ungebildet, wenig begeistert, kurzsichtig, voll von grobem Menschenverstand, der manchmal entgleist. Sie sind geneigt, sich führen zu lassen und zu tun, was man ihnen zu tun aufgibt, ertragen die Mühe und können lange leiden.“

Barbusse liefert hier in nuce die Botschaft, die der Roman unablässig wiederholt und die sich in ihrer Verherrlichung des einfachen Frontsoldaten und seiner Opferbereitschaft bis zur Behauptung der Christusmäßigkeit der „bonhommes“ steigert: Die Männer seien unkultiviert und indolent, dabei aber folgsam und unendlich leidensresistent. Von solchen Soldaten sind keine Revolten, sondern nur bedingungslose Hingabe für die gute Sache zu erwarten. Die Lichtsymbolik („und doch legt dieses richtige und helle Wort einen Lichtschein über die, die hier sind“) unterstreicht hier, wie an allen zentralen Stellen des Romans, die Bedeutung dieser Passage. Den beruhigenden Kern dieser Aussage vernahm selbst der Kritiker der konservativen Tageszeitung Le Temps, Paul Souday, wie seine Rezension vom 15. Dezember 1916 zeigte: „Sie machen den Krieg mit, aber sie haben keinen militärischen Sinn, sie sind keine Soldaten, sondern Menschen; Helden, ohne sich dessen bewusst zu sein, sie wehren sich dagegen […]. Die Leute aus dem Volk, schlichten Gemüts und geraden Herzens, hassen den Krieg, aber zeigen ihre unbedingte Entschlossenheit, ihn weiter zu führen und ihn zu ertragen, so lange es nötig ist. Sie denken fast nicht mehr. Sie wissen nur, dass es sein muss, und das genügt ihnen.“

Souday hatte Barbusse damit besser verstanden als diejenigen, die ihm unterstellten, Defaitismus im deutschen Auftrag zu verbreiten. Die Feststellung, die Soldaten seien eigentlich gar keine Soldaten, sondern Menschen, ist allerdings nicht nur entweder banal oder tautologisch, sie ist außerdem im Romankontext sehr problematisch situiert. Auslöser der Betrachtungen von Lamuse ist nämlich ein Zug von „tirailleurs sénégalais“ und anderen afrikanischen Kolonialtruppen der französischen Armee. Die auf den ersten Blick freundlichen und anerkennenden Bemerkungen, die die Mitglieder der „escouade“ über die militärischen Tugenden der Afrikaner machen, beschreiben im Vergleich mit den Tugenden der französischen Soldaten die defizitäre Humanität der Kolonialtruppen. Man berichtet von Sammlungen abgeschnittener Ohren und davon, dass die afrkanischen Soldaten mit besonderer Freude das Bajonett benutzen, wenn sie in die gegnerischen Schützengräben springen. Die Schilderung von Bajonettkämpfen in einem Kriegsroman galt bald nach dem Krieg als Indiz für unwahre, kriegstreiberische Literatur und als Zugeständnis an die vermeintlich blutrünstigen Leserwartungen der Zivilisten. Barbusse gelingt mit dieser Passage der Kunstgriff, einen solchen Angriff publikumswirksam zu schildern, ihn dann aber in einer kaum verhüllt rassistischen Wendung als spezifischen Ausdruck des angeborenen Soldatentums der afrikanischen Truppen zu interpretieren, vor dem die Humanität der französischen „poilus“ um so heller erstrahle: „Die sind wirklich von einer anderen Rasse als wir, mit ihrer Haut aus Zeltplane, gibt Biquet zu, der sonst einiges gewohnt ist. Die Ruhe stört sie, weißt du; sie leben nur für den Moment, in dem der Offizier seine Uhr in die Tasche zurücksteckt und sagt: ‚Los geht‘s!‘ Im Grund sind das echte Soldaten.“

Das Kampfverhalten der Kolonialtruppen, das tatsächlich charakteristische Eigenheiten aufwies, war, wie auch Barbusse hätte wissen können, selbstverständlich nicht biologisch, sondern historisch begründet und galt für die europäischen Angehörigen dieser Truppen genau wie für die afrikanischen oder asiatischen, die fast alle – im Gegensatz zu den mobilisierten französischen Zivilisten – Berufssoldaten waren, die schon vor 1914 blutige, aber mit relativ primitiven Mitteln geführte Guerillakriege in den Kolonien mitgemacht hatten, bei denen der Gegner bis zur physischen Vernichtung verfolgt wurde. Die mit modernster Technik und um ein Vielfaches erhöhter Feuerkraft durchgeführten Massaker in Frankreich, die zu erheblichen Vorteilen für die Defensive führten, waren damit nicht zu vergleichen. Die Kolonialtruppen fielen daher zwar durch ihr ungestümes Offensivverhalten auf, nur führte dieses gerade nicht zu Nahkampfszenen, wie Barbusse sie hier ausmalt, sondern üblicherweise zum Massensterben der Angreifer im feindlichen Maschinengewehrfeuer. An diesem Punkt zeigt sich bereits, dass Barbusse vor groben Effekten und Verzeichnungen nicht zurückschreckt, um die (französischen) Soldaten zu den eigentlichen Opfern des Kriegs zu stilisieren

„Arrière“ und „avant“

Da Le Feu meist wegen seiner vermeintlich realistischen Schilderungen der Kriegsgräuel gelesen wird, hat man kaum die Darstellung der Situation hinter der Front beachtet, obwohl Barbusse dort mit ähnlichen Methoden verfährt, um das Opfer der kämpfenden Soldaten als vollkommen singulär erscheinen zu lassen. Aus dieser Perspektive erklärt sich auch seine Kritik am „bourrage de crâne“ der chauvinistischen Presse, die weniger auf die Kriegshetze zielt als darauf, dass die Verhältnisse in den Schützengräben zu freundlich und die Gegner als quasi schon besiegt geschildert werden. Die verfälschenden Zeitungsmeldungen sind im Roman jedoch nur ein kleiner, bezeichnender Ausschnitt aus der verkommenen Welt des „arrière“, einem mythischen, von Kriegsprofiteuren, Drückebergern und sexuell enthemmten Frauen bevölkerten Kosmos, von dem die leidenden Soldaten noch weiter entfernt sind als von den afrikanischen „tirailleurs“ und von ihren deutschen Gegnern, wie sie bei einem Gang durch eine Kleinstadt hinter der Front feststellen können. Allen Menschen im Hinterland, ob Soldaten oder Zivilisten, sehe man ihre „Drückeberger- und Deserteursidentität“ („identité de cachés et de déserteurs de la guerre“) an, und all diese „reichen Leute die sich bereichern“ („gens riches qui s’enrichissent“) verbinde ein „uneingestandenes Gebet“ („inavouable prière“), nämlich die stille Hoffnung, der Krieg möge noch länger dauern. Die Behauptung, die Zivilisten wollten sich am Krieg und damit am Elend der Frontsoldaten bereichern, wird dem Leser mit einer Folge geradezu karikaturaler Szenen eingebleut. Während die „escouade“ bei einem Bauern einquartiert ist, plaudert dessen kleiner Sohn auf Nachfrage naiv die skrupellose Profitsucht seines Vaters aus:

Sag mal, Kleiner, komm mal her, sagt Cocon und nimmt den Jungen zwischen seine Knie. Hör gut zu. Dein Vater, der sagt doch: „Hoffentlich geht der Krieg weiter!“, was?
– Na klar, sagt das Kind und nickt, weil wir reich werden. Er hat gesagt, dass wir bis Ende Mai 50.000 Francs verdient haben werden. Papa möchte, dass das immer so bleibt. Mama weiß manchmal nicht recht, weil mein Bruder Adolphe an der Front ist. Aber wir lassen ihn in die Heimat versetzen, dann kann der Krieg weitergehen.

Doch nicht nur von den Zeitungen und zivilen Kriegsprofiteuren werden die „poilus“ mit ihrer großen Aufgabe allein gelassen, selbst ihren eigenen Frauen können sie nicht mehr trauen. Um dies zu illustrieren, beschreibt Barbusse im zentralen Kapitel 12, Le Portique, „Das Säulentor“, eine historisch unhaltbare Episode, die dafür um so deutlicher zeigt, dass die Literarisierung des Kriegs in Le Feu vor allem auf die emotionale Mobilisierung von „arrière“ und „avant“ zielt. Die Szene spielt im von den Deutschen besetzten Lens, südwestlich von Lille. Der Soldat Poterloo berichtet dem Erzähler, dass es ihm unter abenteuerlichen Umständen und in Verkleidung gelungen sei, seine Frau und seine Tochter zu sehen, die in Lens bei seinen Eltern untergebracht seien. Doch musste er zu seinem Entsetzen von der nächtlichen Straße aus beobachten, wie im warm erleuchteten Intérieur des Elternhauses seine Frau und die Witwe eines gefallenen Freundes scherzend in Gesellschaft zweier deutscher Unteroffiziere saßen, während seine kleine Tochter mit einem weiteren Deutschen spielte. Der Kontrast von Innen und Außen, wärmendem Licht und dunkler Nacht, endlosem Leid und unbeschwertem Leichtsinn könnte eindeutiger nicht sein: der moralische Verfall des „arrière“ hat nun schon die engste Familie, Eltern, Frauen, Kinder, erfasst, und der unter Lebensgefahr (einen Soldaten, der verkleidet in der falschen Uniform gefasst wird, erschießen die einen als Spion, die anderen als Deserteur) bis zum Elternhaus vorgedrungene Ehemann, Sohn und Vater muss erkennen, dass diejenigen, die er zu verteidigen glaubt, ihn schon vergessen haben, dass Witwen noch im Trauerkleid sich gutgelaunt mit den Feinden ihrer toten Ehemänner einlassen.

Konstitutiv für die Einheit der Soldaten ist neben den primitiven äußeren Verhältnissen die gemeinsame Sprache, die der Roman deshalb nicht bloß um der Authentizität willen umfassend dokumentiert. Entscheidend ist nicht bloß die in der Soldatensprache enthaltene Realität, vielmehr geht es Barbusse ganz ausdrücklich um die soziale Amalgamfunktion dieses spezifischen Jargons: „Die gleiche Sprache, die aus einer Mischung von Handwerker- und Kasernensprachen und Dialekten besteht, gewürzt mit ein paar Neologismen, amalgamiert uns, wie eine Sauce, zu der kompakten Masse von Menschen, die seit mehreren Jahren Frankreich leert, um sich im Nordosten anzusammeln.“

Damit wird nun die Rolle des Intellektuellen als Autor wichtig, der diesen Jargon gleichsam stenographiert und seine Wirkung multipliziert. So jedenfalls lassen sich die zahlreichen Passagen erklären, deren Funktion sichtlich die sprachliche Unterweisung der Zivilisten unter den Lesern ist. Doch man kann noch eine weitere symbolische Ebene erkennen, auf der dann der intellektuelle Soldat zum Schreiber wird, der die gute Botschaft von den stoischen Frontsoldaten in die Welt trägt.

Das Evangelium der „poilus“

Ähnlich wie die Referenz „1793“ war eine mehr oder weniger säkularisierte christliche Bildsprache von Beginn des Kriegs an in allen politischen Lagern verbreitet. Als sich mit der Notwendigkeit, die Bevölkerung auf einen langen Stellungskrieg vorzubereiten, auch in offiziösen Publikationen ein Opferdiskurs etablieren konnte, lag der Bezug auf christologische und martyrologische Bilder umso näher. Dass auch in Le Feu die Soldaten mit auffällig christusmäßigen Zügen versehen sind, überrascht daher nicht und ist auch schon mehrfach festgestellt worden. Besonders deutlich ist dies beim Tod des Caporal Bertrand, der bis dahin die gütige Autorität im Roman repräsentiert, die den Soldaten die Notwendigkeit dieses Kriegs erklärt. Sein grotesk verzerrter Leichnam liegt nach einem Angriff in offensichtlicher Kruzifixusposition am Boden, „die Arme zum Kreuz ausgestreckt, die Hände geöffnet und die Finger aufgefächert“ („Les bras sont tendus en croix, les mains ouvertes, les doigts écartés.“), worauf im Soldatenjargon noch das Ecce homo folgt: „Celui-là, c’était vraiment un bonhomme, mon vieux“(„Der da, das war wirklich ein Mensch, mein Alter“). Ein anderer Soldat begibt sich auf die „letzte Station seines Leidenswegs“ , die „dernière étape de son calvaire“, und im großen Schlusskapitel L’Aube – Morgendämmerung – sieht man einen anonymen, blutenden Soldaten, dessen Weit aufgerissenes Auge das viele Blut auf dem Boden betrachtete, das er für die Heilung der Welt gegeben hatte“ („œil élargi contempla par terre tout le sang qu’il avait donné pour la guérison du monde“).

Hier wird eine zweite, entscheidende Motivation dafür sichtbar, dass Barbusse die Soldaten an der Front zu den alleinigen Opfern des Kriegs stilisiert. Sie werden nämlich zu einem kollektiven Christus, der klaglos die Sünden der Welt auf sich nimmt, um sie mit seinem Blut zu sühnen und eine bessere Zukunft vorzubereiten. Derart forciert wie in Le Feu findet sich diese Konstruktion zwar selten, aber bis hier entspricht sie noch einer weit verbreiteten Bildsprache. Barbusse geht aber darüber noch hinaus und legt nahe, dass der gesamte Roman als eine Art Evangelium der „poilus“ zu lesen ist, das ihre Passion notiert und denjenigen, die nicht dabei waren, die Lehre aus ihrem Leid weitergibt. Die Parallele wird bis hin zur dreimaligen Verleugnung des kollektiven Christus ausgeführt. Beim Gang durch eine Stadt sieht eine Gruppe von Frontsoldaten in einem Schaufenster eine mit fabrikneu eingekleideten Puppen nachgestellte Szene, in der ein deutscher Soldat kniend vor einem französischen Offizier um Gnade fleht. Als sie von einer mit dämonischen Attributen versehenen Frau mit schmeichelnder Stimme gefragt werden: „Sagen Sie mir, meine Herren, die Sie echte Frontsoldaten sind, Sie haben so etwas in den Schützengräben gesehen, nicht wahr?“ („Dites-moi, vous, messieurs, qui êtes de vrais soldats du front, vous avez vu cela dans les tranchées, n’est-ce pas?“), bejahen sie geschmeichelt die Frage („flattés jusqu’au cœur“), anstatt gegen den verharmlosenden Unsinn zu protestieren. Sogar sich selbst wollen sie wider besseres Wissen belügen: „Na ja, sagt Volpatte, so ungefähr ist es doch, oder?“ („Après tout, dit Volpatte, c’est à peu près ça, quoi.“) Doch der Erzähler macht deutlich, dass ihr Verhalten im Evangelium der „poilus“ die Entsprechung zur Verleugnung des Petrus im Neuen Testament darstellt: „Et ce fut ce jour-là, leur première parole de reniement.“ – „Das war an diesem Tag ihr erstes Wort der Verleugnung“. Und wie zu erwarten, verleugnen die Soldaten in den folgenden Szenen vor den Zivilisten, die sich keine Vorstellung vom Ausmaß des Elends an der Front machen wollen, noch zweimal den kollektiven Christus und sein Leid.

Unter den Soldaten, von denen jeder einzelne die Passion Christi wiederholt, hebt sich Bertrand noch einmal besonders ab. Kurz vor seinem Tod hält er einen großen Monolog, in dem er vor dem Erzähler die Greuel der Gegenwart für notwendig erklärt, um eine bessere Zukunft vorzubereiten. Während er spricht, gehen zwei Soldaten vorbei, die sich gegenseitig ihre Bluttaten während eines Angriffs berichten:

Was denkst du, mein Lieber, statt zuzuhören, habe ich ihnen das Bajonett in den Wanst gestoßen, dass ich es nicht mehr rausziehen konnte.
– Ich hatte vier in einem Unterstand vor mir. Ich habe sie aufgefordert herauszukommen, und jedem, der kam, habe ich das Fell aufgeschlitzt. Das Blut stand mir bis zu den Ellenbogen. Die Ärmel kleben noch davon.

Mit prophetischem Gestus kommentiert Bertrand diese ekelhaften Schilderungen, wobei es ihm gelingt, gleichzeitig seine Verachtung für das „Soldatenhandwerk, das die Männer entweder zu willenlosen Opfern oder zu gemeinen Henkern macht“ („métier de soldat, qui change les hommes tour à tour en stupides victimes et en ignobles bourreaux“) zu formulieren und trotzdem an der Notwendigkeit des Gemetzels festzuhalten. Er selber habe drei deutsche Soldaten ermordet, aber dennoch:

Es musste sein, sagte er. Es musste sein – der Zukunft wegen. Er verschränkte die Arme und schüttelte den Kopf. „Die Zukunft“ schrie er plötzlich wie ein Prophet. […] „Die Zukunft! Die Zukunft! Das Werk der Zukunft muss es sein, unsre Gegenwart auszulöschen und noch mehr auszulöschen, als man denkt, sie als etwas Niederträchtiges und Schändliches auszulöschen. Und doch, diese Gegenwart, sie war notwendig!“

Schon in seinen vorbereitenden Carnets de guerre hatte Barbusse für diese Passage den Bibelton vorgesehen, das Gespräch solle an dieser Stelle „biblisch einfach und essentiell“ sein.

Man kann sich aber nun leicht vorstellen, dass die Botschaft, die der Kaporal Bertrand als Soldaten-Christus bringt, nicht das christliche Liebesgebot ist, sondern die Aufforderung, den Krieg fortzusetzen. Und so wendet er sich am Ende seines Monologs an den Erzähler: „Prends ton fusil et viens“ – „Nimm dein Gewehr und komm“. Der Anklang an Jesu Worte bei der Heilung des Gelähmten (Joh. 5,8) ist überdeutlich. Auch Bertrand macht die Lahmen und Kampfmüden wieder gehen, indem er ihnen den Sinn ihres augenblicklichen Leidens erklärt und ihnen den Ausblick auf eine Gesellschaft eröffnet, in der Frieden nicht nur die Abwesenheit von Krieg, sondern auch von sozialer Ungleichheit bedeuten könnte. Doch der anzustrebende Friede dürfe auf keinen Fall die Kriegsanstrengungen der Gegenwart schwächen, ja es sei nicht einmal zulässig, die „vérité“ beim Namen zu nennen: „Heute, jetzt im Augenblick, scheint diese Wahrheit kaum mehr als ein Irrtum, ihr heiliges Wort nur eine Lästerung („blasphème“).“ Der sakrale Beiklang von „blasphème“ unterstreicht, dass für Bertrand der Kriegseinsatz, bei allem mörderischen Wahnsinn, den es auszuhalten gelte, eine heilige Sache, „guerre sainte“ ist.

Bertrand prophezeit weiter, dass es eine „wahre Heilige Schrift“ geben werde, „une vraie bible“, die die Wahrheit über den Krieg enthalten würde. Könnte die Erinnerung daran nämlich gerettet werden, ließe sich dem Krieg sogar eine Spur von Nützlichkeit abgewinnen, wie einer der Sterbenden im Schlusskapitel ausruft:

Weder die anderen noch wir werden es im Gedächtnis behalten! All das Unheil ist umsonst gewesen! Diese Aussicht ließ das Elend dieser Geschöpfe noch anwachsen, als hätten sie von einem noch größeren Unglück erfahren […]. Ach, wenn man sich doch erinnern könnte, entfuhr es einem. Wenn man sich erinnern könnte, sagte der andere, gäb‘s keinen Krieg mehr. Und ein dritter fügte feierlich hinzu: Ja, wenn man sich erinnern würde, dann wäre dieser Krieg weniger nutzlos, als er es ist.

Der Roman definiert sich somit implizit als die von den Soldaten selbst herbeigesehnte, überindividuelle Erinnerungsinstanz, die der Sinnlosigkeit des Kriegs ein kleines Refugium der Sinnhaftigkeit abtrotzt. Denkt man nun an die breit ausgemalte Inszenierung der „poilus“ als christusmäßige Opfer in einer Passionsgeschichte und des Romans als deren Bibel oder Evangelium, dann wird der Intellektuelle, der ihre Leiden notiert, zum Evangelisten. Die krude Sprache der Soldaten wird so zum „sermo humilis“, den der Erzähler in Verbalinspiration empfängt und wortgetreu wiedergeben muss, um die Wirkung der Botschaft, der „vérité“ nicht zu verfälschen.

Im letzten Kapitel des Romans, der bereits erwähnten „Morgendämmerung“, das eine Landschaft nach der Sintflut zeichnet, in der die einheitlich von grauem Schlamm überzogenen Uniformen die Unterschiede zwischen Deutschen und Franzosen zu verwischen beginnen, dürfen die französischen Soldaten zeigen, dass sie die Lehre Bertrands verinnerlicht haben. Der Schimmer der Erkenntnis, der dabei auf sie fällt, ist in der Lichtmetaphorik des Titels bereits angelegt. Zum ersten Mal geben sie sich selbst die Antwort auf die Frage nach dem Sinn und dem Ziel des Kriegs. Der simplizistischen Lösung „Es wird keinen Krieg mehr geben, wenn es kein Deutschland mehr gibt“ („Il n’y aura plus de guerre quand il n’y aura plus d’Allemagne“), hält ein anderer Soldat entgegen: „Das ist nicht das, was man sagen muss. […] Das reicht nicht! Es wird keinen Krieg mehr geben, wenn der Kriegsgeist besiegt sein wird“. Doch der Weg zu diesem Ziel führt zunächst über immer weitere Opfer, die man klaglos zu ertragen habe, besonders jetzt, wo ein Erkenntnisanfang gemacht sei („[…] wir beginnen zu verstehen, warum wir marschieren mussten“):

Wir müssen kämpfen! […] Wir müssen! […] Wir müssen alles geben, was wir haben, unsere Kraft, unsere Haut, unsere Herzen, unser ganzes Leben und die Freuden, die uns noch blieben. Das Gefangenendasein, das wir führen, müssen wir mit beiden Händen annehmen. Wir müssen alles ertragen, selbst die Ungerechtigkeit, die jetzt herrscht, und den Skandal und die Schweinereien, die wir sehen – um ganz für den Krieg da zu sein, um zu siegen. Aber wenn wir ein solches Opfer bringen […], dann weil wir uns für den für den Fortschritt schlagen, nicht für ein Land; gegen einen Irrtum, nicht gegen ein Land.

Dies ist die vielfach variierte Botschaft des Evangeliums, die in dieser Zuspitzung begreiflich macht, warum Le Feu 1916 die Zensur fast ungeschoren passieren und den Prix Goncourt gewinnen konnte, trotzdem aber nach dem Krieg, als man nicht mehr gerne an die vierjährige allgemeine Selbstmobilisierung denken oder erinnert werden wollte, vor allem als Anklage gegen den Krieg gelesen wurde. Dass der Roman aber aus der Perspektive von 1916 primär als besonders raffinierte Durchhalteliteratur funktionierte, hat man unterschlagen oder vergessen. Wenn hier auch ganz entschieden nicht mehr fröhlich für das Vaterland gestorben wird, so lässt sich doch nicht übersehen, dass die Stelle des Vaterlands nun andere Abstrakta wie „progrès“ und „avenir“ oder eben „paix“ einnehmen, dass das Resultat aber unmittelbar identisch ist: „Wenn der gegenwärtige Krieg den Fortschritt auch nur einen Schritt vorangebracht hat, werden seine Gräuel und seine Gemetzel nur wenig gezählt haben.“

Um noch einmal zum Anfang und zum Prix Goncourt von Ende 2013 zurückzukommen: Es ist, wie gesagt, in Deutschland kaum vorstellbar, dass sich eine aktuelle Büchnerpreisträgerin oder ein Gewinner des Deutschen Buchpreises auf deutsche Kriegsliteratur des Ersten Weltkriegs so positiv bezieht, wie Pierre Lemaitre das mit Barbusse getan hat, aber das muss in dem Fall nicht unbedingt gegen die deutsche Gegenwartsliteratur sprechen.

Anlass zu diesem Beitrag war im November 2013 die Verleihung des Prix Goncourt an Pierre Lemaitre für seinen Kriegsroman „Au revoir là-haut“, der sich auf den 1916 erschienenen Kriegsroman „Le Feu“ von Henri Barbusse bezog. Der Beitrag greift zurück auf Olaf Müller: Der unmögliche Roman. Antikriegs-Literatur in Frankreich zwischen den Weltkriegen. Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2006.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz