Demokratie als Lebensform und Demokratie als „Entkrampfung“

Theodor Heuss zum 50. Todestag: Der liberale Gründervater der Bundesrepublik in einer neuen Biografie von Joachim Radkau

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Angesichts des in den letzten Jahren verstärkten Interesses für die alte Bonner Republik kann es nicht verwundern, wenn mit Theodor Heuss ihr erster Bundespräsident in den Blick der Historiker gerät. In kurzer Zeit widmeten sich ihm nun gleich mehrere Biografien (zuletzt etwa Peter Merseburger), und dies gewiss nicht ganz frei von nostalgischen Gefühlen. Ungeachtet aller Distanz sind die Bilder von Heuss als dem gutmütig-bildungsbürgerlichen Landesvater, des von ihm selbst verabscheuten „Papa Heuss“, noch heute leidlich präsent. Kult und Kritik um und an ihm sind mindestens so alt wie die Bundesrepublik selbst. Und dennoch vermögen sie unsere Gemüter längst nicht mehr in dem Maße zu erregen, wie es vielleicht noch vor ein oder zwei Generationen möglich gewesen wäre. Es lohnt sich daher, wo die Distanz gewachsen ist, einen neuen Blick zurück zu riskieren. Joachim Radkaus ebenso umfassende wie informative Biografie des ersten Bundespräsidenten bietet einen guten Anlass dazu.

Mit dem Wissen um die späte Karriere von Heuss könnte man versucht sein, aus seiner Biografie einen allenfalls durch den Nationalsozialismus unterbrochenen roten Faden herauszulesen: von seinen politischen und publizistischen Anfängen im Kaiserreich über sein Reichstagsmandat in den Weimarer Jahren bis ins höchste (west-)deutsche Staatsamt. Radkau macht jedoch rasch deutlich, dass eine solche Perspektive in die Irre führen muss. Etwa die erste Hälfte seines Buches widmet sich der Zeit bis 1945 und Heuss’ Biografie ergibt für diese mehr als 60 Lebensjahre ein schwer zu konturierendes, eigenartig ziel- und ergebnislos schweifendes Bild, und zwar nicht allein durch den Bruch, den das Jahr 1933 auch für ihn markiert. Unter dem Eindruck Friedrich Naumanns – neben Lujo Brentano der prägende Pol in seiner frühen geistigen Biografie – kam der 1884 geborene Heuss mit 18 Jahren zur Freisinnigen Vereinigung, 1910 zur Fortschrittlichen Volkspartei und 1918 ist er Gründungsmitglied der Deutschen Demokratischen Partei. Bereits früh ist er als Journalist erfolgreich (mit 28 Jahren wird er Chefredakteur der Heilbronner „Neckar-Zeitung“), und er spinnt um sich ein weit gespanntes Netz an Kontakten zu politischen, publizistischen und kulturellen Größen seiner Zeit. Im Umfeld von Naumann beteiligt er sich auch an der Gründung des „Deutschen Werkbundes“, für den er 1918 – mitten im Krieg, da Heuss als untauglich vom Kriegsdienst verschont bleibt – mit seiner Familie von Heilbronn nach Berlin umzieht. Er arbeitet als Journalist für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften sowie als Dozent an der von Naumann mitbegründeten Deutschen Hochschule für Politik, hinzu kommen Vorstandsmitgliedschaften im Schutzverband deutscher Schriftsteller und beim Bund des Auslandsdeutschen. Zwischen 1924 und 1928 sowie erneut ab 1930 vertritt er die Deutsche Demokratische Partei, die später als Deutsche Staatspartei firmiert, im Reichstag. Doch sein Aufstieg in der Partei korrespondiert mit deren Niedergang. Ein letztes Mal wird Heuss noch bei den Märzwahlen 1933 wiedergewählt, ehe sein Mandat im Juli 1933 annulliert wird. Seine bei aller Betriebsamkeit bis dahin umwegige Laufbahn gerät so endgültig in eine Sackgasse.

Heuss gehörte zu denjenigen, die bereits vor 1933 Adolf Hitlers „Mein Kampf“ gelesen hatten. Mit seinem Buch „Hitlers Weg“ publizierte er 1931 eine kritische Auseinandersetzung mit den Nationalsozialisten, deren Schlussfolgerungen jedoch mit dem Wissen des heutigen Lesers nicht immer leicht nachzuvollziehen scheinen. Klar ist er in seiner Ablehnung des Antisemitismus und brutalen politischen Aktivismus der Nazis und doch im ablehnenden Urteil über Hitler und dessen Partei keineswegs sicher und eindeutig. Einerseits – und darin wurde wohl ein Naumann’sches Erbe sichtbar – wollte er das Feld nationalbewusster Politik nicht der Rechten überlassen. Und in seiner Wertschätzung für ein demokratisches Führertum – dies wiederum eine Max Weber’sche Erbschaft – vermag Heuss gar Verständnis für die Anliegen der Hitler-Bewegung aufzubringen. Andererseits ist er aus seinem historischen politischen Bewusstsein heraus nicht imstande, Hitlers Bewegung als eine politische Kraft sui generis zu begreifen: „Die Ausstattung des Dritten Reichs“ werde, spottete Heuss bei einer Rede im Reichstag 1932, „aus einem Großausverkauf von neulackierten und aufgeputzten Ladenhütern der wilhelminischen Epoche bezogen sein“. Mit diesem „Hang zur Suche nach historischen Präzedenzfällen“, wie Radkau schreibt, lief er in die Irre. Dass Heuss dann dem Ermächtigungsgesetz im Reichstag zustimmte, hing ihm für den Rest seines Lebens an – und im Grunde bis heute. Sachlich blieb seine Zustimmung und die der vier anderen Abgeordneten der Staatspartei zwar ohne Bedeutung, und Heuss plädierte zunächst auch für eine Enthaltung, ehe er sich der Mehrheit seiner Parteifreunde fügte. Der von Heuss formulierte und von Reinhold Maier im Reichstag vorgetragene Vorbehalt blieb jedenfalls folgenlos: „Wir vermissen in dem vorliegenden Gesetzentwurf, dass den verfassungsmäßigen Grundrechten des Volkes und den Grundlagen der bürgerlichen Rechtsordnung keine ausdrückliche Sicherung vor Eingriffen gegeben wurde.“

Binnen weniger Monate bringt die Machtübernahme Hitlers eine drastische Veränderung im Leben der Familie Heuss mit sich, die auch Heuss’ dichte Kontaktnetzwerke betrifft: „Das Leben ist ziemlich eingeschrumpft“, kommentiert er in einem Brief die Situation – zahlreiche seiner Freunde haben Deutschland verlassen. Zugleich verliert Heuss selbst der Reihe nach seine Dozentur bei der Deutschen Hochschule für Politik, sein Reichstagsmandat, seinen Vorstandsposten beim Deutschen Werkbund und schließlich 1936 auch seine Herausgeberschaft der einst von Naumann begründeten Zeitschrift „Die Hilfe“, die er erst Anfang 1933 angetreten hatte. Für den Lebensunterhalt der Familie sorgt in dieser Zeit mehr und mehr seine Frau, die erfolgreich Rundfunkreklame macht. Heuss selbst dagegen zieht sich publizistisch ins historisch-biografische Genre zurück. Er verfasst seine biografischen Arbeiten etwa über Friedrich Naumann (1937) und den Architekten Hans Poelzig (1939), ferner arbeitet er ab 1941 – bis zu ihrem Verbot 1943 – für die „Frankfurter Zeitung“, in der er ab 1942 jedoch nur mehr pseudonym veröffentlichen darf. Das biografisch-historische Arbeiten ermöglichte ihm zweifellos ein Ausweichen vor der Tagespolitik. Dabei muss man es, wie Radkau mit Recht feststellt, jedoch keineswegs als „innere Emigration“ auslegen, wenn er etwa in seiner Naumann-Biografie darauf verzichtet, dessen Anliegen einer Verbindung von nationalem und sozialem Denken in einen Ahnenreine mit dem Nationalsozialismus zu stellen. Niemand konnte an einer solchen nationalliberalen Filiation weniger Interesse haben als die Nazis. Bemerkenswert bleibt allerdings, wie leicht Heuss Grenzen eines traditionellen bildungsbürgerlichen Horizonts zu überschreiten vermochte, wenn er sich etwa mit einem Unternehmer wie Robert Bosch (ab 1941) oder Naturwissenschaftlern wie Anton Dohrn (1940) oder Justus von Liebig (1942) befasste. Es sind diese Themen, die Heuss’ geistige Lebendigkeit und seinen Horizont auch unter den Bedingungen der NS-Zeit erhalten und dazu beigetragen haben, dass, wie Radkau urteilt, es nicht „sehr viele Deutsche gegeben haben [dürfte], die die letzten Kriegsjahre mit derartiger Gelassenheit und ungebrochener geistiger Vitalität überstanden [haben].“

So rasch Heuss’ Leben 1933 „einschrumpfte“, so schnell dehnte es sich ab 1945 wieder aus. Bereits im April, noch vor Kriegsende, trat die amerikanische Besatzungsmacht mit ihm in Kontakt. Wie nur wenige andere – Adenauer etwa –, die in Deutschland verblieben waren, vom Nationalsozialismus unbelastet und andererseits weder von den Nazis verfolgt noch durch den Krieg physisch und psychisch zermürbt, stand Heuss im Alter von 61 Jahren nun für eine zweite Karriere im Zeichen der Demokratie zur Verfügung. Freilich ist diese auch nach 1945 zunächst wieder mehrgleisig: im Journalismus und in der Parteipolitik, auf Landesebene und überregional. Die Amerikaner machen ihn zum Mitherausgeber der „Rhein-Neckar-Zeitung“ und zum Kultusminister im neuen Land Württemberg-Baden, in dessen Verfassunggebende Landesversammlung sowie in dessen Landtag Heuss im Jahr 1946 gewählt wird. Im Dezember 1948 wird er zum ersten Vorsitzenden der dann als FDP firmierenden westdeutschen liberalen Partei gewählt. Als Abgeordneter im Parlamentarischen Rat ist er an der Ausarbeitung des späteren Grundgesetzes beteiligt und damit auch an der Kompetenzzumessung des Amtes des Bundespräsidenten, in das er am 12. September 1949 gewählt wird.

An dieser Position nun endlich konnte Heuss’ ganzes Talent zu einem ressentimentfreien, dialogisch angelegten Politisieren zum Tragen kommen, gewissermaßen im Duett mit dem stärker polarisierenden Adenauer. Heuss, der die alten und neuen Fronten zwischen seinen Landsleuten nicht gar so wichtig nahm, konnte so das Amt des Bundespräsidenten stärker prägen als jeder seiner Nachfolger. Und das betrifft nicht zuletzt auch den Umgang mit der deutschen Vergangenheit, die er schon im November 1945 in einer Stuttgarter Rede anlässlich des Totensonntags thematisiert hatte. Heuss’ Votum für den Begriff der deutschen „Kollektivscham“ angesichts der Vernichtung und Ermordung der Juden ist bis heute geläufig.

Kennzeichnend für Heuss nach 1945, nicht anders als vor 1933, war ein gewisser Eigensinn, der etwa in idiosynkratischen Urteilen zum Ausdruck kam, die schon seine Zeitgenossen, selbst in der eigenen Partei, befremdeten. In der Weimarer Republik setzt er sich – zugleich Vorsitzender des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller – ausgerechnet für das Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften ein, womit er zahlreiche Schriftsteller gegen sich aufbringt. Später lehnt er es – als denkbar unmilitärischer Mensch – ab, ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung ins Grundgesetz aufzunehmen. Und noch als Präsident setzt er sich dafür ein, Rudolf Alexander Schröders „Hymne an Deutschland“ zur Nationalhymne zu erklären, wo andere sie als „Theos Nachtmusik“ verspotten. Andererseits fehlen ihm wiederum Ressentiments, die für Liberale seiner Generation nicht selten waren, insbesondere ein antikatholischer und antiklerikaler Affekt. In dieser Ambivalenz seiner Person spiegelt sich für Radkau so zugleich eine „Mehrdeutigkeit und Undeutlichkeit des politischen Liberalismus“. Sie dokumentiert Heuss in seinem Individualismus – und was anderes sollte man von einem Liberalen erwarten?

Bedenkt man Heuss’ Verhältnis zum Liberalismus, so wird heute sicherlich seine ausgesprochene Hochschätzung des Staates irritieren. Von Freiheitsromantik und Staatsfeindlichkeit ist bei ihm spätestens seit der Novemberrevolution nichts mehr zu spüren. Radkau stellt dazu fest: „Im Horror vor dem vermeintlich drohenden Chaos lernte Heuss den starken Staat und die kompetente Beamtenschaft schätzen“. Und noch im Parlamentarischen Rat – ganz unter dem Eindruck des nationalsozialistischen Staates – tritt er gegen die von Sozial- und Christdemokraten favorisierte naturrechtliche Konzeption der Grundrechte als Schutzrechte gegen den Staat ein.

Die Versuchung ist nicht gering, von Heuss aus Schlüsse hin zum Liberalismus unserer Gegenwart zu ziehen. Allerdings scheint es durchaus fraglich, ob solche Analogien weit zu tragen vermögen. Heuss bedeutete für die FDP in ihren Gründungsjahren eine Kontinuität und Integrationskraft verbürgende Persönlichkeit, die die traditionellen Spannungen des deutschen Liberalismus – zwischen regionalistischen und zentralistischen, zwischen links- und nationalliberalen, zwischen sozial- und wirtschaftliberalen Tendenzen – zu überbrücken half. Dies bedeutete freilich kein Fehlen innerparteilicher Spannungsverhältnisse, wie sie sich etwa gegenüber Thomas Dehler, aber auch in seiner Abgrenzung gegenüber den rechtsläufigen Neigungen einiger FDP-Landesverbände niederschlugen. Sollte der Blick auf Theodor Heuss für den parteipolitischen Liberalismus in einer Zeit seiner erneuten parlamentarischen Austreibung Bedeutung gewinnen können, dann vermutlich nicht sehr viel anders, als man es für die Bundesrepublik als Ganze feststellen könnte, nämlich etwa im Sinne einer notorischen Aktualität des Heuss’schen „Entkrampfung-der-Deutschen“-Programms.

Abschließend sei darauf hingewiesen, dass Radkau auch den privaten Heuss ausführlich würdigt. Seine familiäre Herkunft kommt zur Sprache und seine Beziehung zu Elly Knapp, seiner um drei Jahre älteren Ehefrau, die er 1905 im Umkreis von Friedrich Naumann kennengelernt hatte. Bemerkenswert scheint, nach Ellys Tod 1952, seine späte Liebe zu Toni Stolper, die mit Heuss seit 1918 befreundet und die, jüdischer Herkunft, 1933 mit ihrem Mann in die Vereinigten Staaten ausgewandert war. In den Nachkriegsjahren wurde sie zu einer zunehmend wichtigen Vertrauten und Briefpartnerin des Bundespräsidenten. Eine Auswahl ihres umfangreichen Briefwechsels erschien bereits 1970 unter dem Titel „Tagebuchbriefe 1955-1963“; Radkau konnte für das Abschlusskapitel seines Buches allerdings die weit umfangreicheren Originale berücksichtigen. Die Korrespondenz reflektiert Heuss’ zweite Amtszeit als Bundespräsident und seine letzten Lebensjahr intellektuell und politisch, aber der Briefwechsel zeugt auch von der Intimität dieser Liebesbeziehung auf die Ferne.

Radkau sympathisiert mit Heuss, aber er verherrlicht ihn nicht. Umso mehr vermag er es, Heuss jene „Denkanstöße“ abzugewinnen, für die man ihn, wie Radkau schreibt, erst „stoßen“ müsse. Radkau ermöglicht seinen Lesern eine unbefangene Perspektive auf Heuss’ Leben und politisches Wirken mit einem umfassenden biografischen Querschnitt und er führt uns, was als Unsicherheit, Unentschiedenheit oder unklares Entweder-oder bei Heuss erscheinen mag, als charakteristische Modernität dieses Mannes vor Augen: die Schwierigkeit der Selbstabgrenzung angesichts einer Überfülle von Optionen, der man nicht durch umstandslose Entscheidungen Herr zu werden vermag.

Titelbild

Joachim Radkau: Theodor Heuss.
Carl Hanser Verlag, München 2013.
640 Seiten, 27,90 EUR.
ISBN-13: 9783446243552

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