Wie Walter Benjamin beinahe von C. H. Beck verlegt worden wäre

Ein Fall von „Was wäre gewesen, wenn?“ – Nachtrag zur Verlagsgeschichte von Stefan Rebenich

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der jüngst erschienenen Geschichte des kulturwissenschaftlichen Zweiges von C. H. Beck (siehe „Sechs Generationen von Büchermachern, ohne das Buddenbrook-Syndrom“ von Herbert Jaumann, in: literaturkritik.de 1/2014) hat Stefan Rebenich auch die Konkurrenz mit Suhrkamp angesprochen und darauf hingewiesen, auf welch imponierende Weise der Münchener Verlag als inzwischen „heimliche Nummer eins bei den Sachbüchern“ sich in dieser Konkurrenz mit den übermächtigen Frankfurtern und der sprichwörtlichen „Suhrkamp-Kultur“ behauptet hat. Dieses geflügelte Wort stammt bekanntlich von George Steiner, einem Suhrkamp-Autor seit eben den späten 1960er-Jahren, als der Verlag auf den Zenith seines Erfolges zusteuerte. Man könnte vielleicht einwenden: Dass Beck sich gegen Suhrkamp behauptet hat, ist auch kein Wunder. Nicht nur wegen der überaus tüchtigen und in alle Richtungen weitblickenden Verlagsleute in München, sondern vor allem deshalb, weil es weder eine größere Nähe noch gar Überschneidungen zwischen den ‚Kulturen‘ gegeben hat und gibt: hier ein Programm der historisch-philologischen Handbücher und Sachbücher mit Wurzeln im frühen 19. Jahrhundert, der kulturhistorischen Biographien und der handlich aufbereiteten Informationsreihen („C. H. Beck Studium“, die „Beck’sche Reihe“, „C. H. Beck Wissen“) – dort ein sowohl theoretisch-philosophisches, sozialwissenschaftliches wie auch belletristisches Programm mit einer fast unüberschaubaren Zahl von Autoren mit Weltgeltung, wie man so sagt. Aber diese Distanz, aus der heraus man sich nicht nur behaupten, sondern auch eine unabhängige und fast ebenso starke Identität aufbauen konnte, musste erst geschaffen werden. Dass es auch ganz anders hätte kommen können, darauf könnte ein kleines Ereignis hinweisen, das auch Interessenten an der Buchkultur in den letzten Jahrzehnten kaum bekannt sein dürfte.

Es handelt sich um die frühesten Jahre des Suhrkamp-Verlages nach dessen Gründung 1950 durch Peter Suhrkamp (1891-1959), der den in Deutschland (Berlin) verbliebenen „arisierten“ Teil des ehemaligen Unternehmens von Samuel Fischer geleitet, die „Schutzhaft“ in Sachsenhausen überlebt und schließlich nach seiner Trennung von S. Fischers Erben einen eigenen Verlag in Frankfurt am Main gegründet hatte. Abgesehen von Bertolt Brecht und dem befreundeten Hermann Hesse ist in diesen frühen 50er-Jahren von den späteren ‚Suhrkamp-Autoren‘ noch wenig die Rede. Theodor W. Adorno aber scheint Suhrkamp bald nach seiner erster Rückkehr aus dem kalifornischen Exil im November 1949 begegnet zu sein, und Rolf Tiedemann erwähnt, dass Suhrkamp und Benjamin sich schon vor 1933 persönlich gekannt haben.[1] Ein Ergebnis dieser Bekanntschaften ist die von Adorno besorgte Ausgabe von Benjamins autobiographischen Miniaturen „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“ bereits im November 1950, das erste nach dem Krieg in Deutschland publizierte Buch von Walter Benjamin, der sich 1940 auf der Flucht in Portbou das Leben genommen hatte; in der kurz danach mit Hesses „Morgenlandfahrt“ als Nr. 1 eröffneten Buchreihe der Bibliothek Suhrkamp erschien der Benjamin-Titel als Nr. 2 (allerdings erst 1962 in Vertretung der ursprünglichen Nr. 2 von 1951: Editha Klipsteins „Das Hotel in Kastilien“). Noch von Benjamin selbst zum Nachlassverwalter bestimmt, plante Adorno dann während der folgenden Jahre, in denen er noch nicht dauerhaft nach Frankfurt zurückgekehrt war (das ist erst ab Herbst 1953 der Fall), zügig die Publikation der Werke Benjamins in Suhrkamps neuem Verlag. Das wichtigste Projekt war die Herausgabe der „Schriften“ in zwei Bänden, deren Zusammenstellung auf gemeinschaftliche Überlegungen nicht nur mit Suhrkamp und seinem Lektor Friedrich Podszus, sondern vor allem mit Benjamins lebenslangem Freund Gershom Scholem zurückging, mit dem Adorno seit den Exiljahren im Briefwechsel stand.[2] Von Siegfried Unseld, der seit Januar 1952 im Verlag arbeitete, ist in diesem Zusammenhang noch nicht die Rede. Seine Ära als Verlagsleiter beginnt erst nach dem Tod Suhrkamps. Man war mit den in London lebenden Angehörigen in einvernehmlichem Kontakt, mit der Witwe Dora Sophie († 1964) und dem Antiquar Stefan Benjamin († 1972), und im Times Literary Supplement wurde ein Aufruf zur Bereitstellung unbekannter Benjamin-Texte veröffentlicht.

Entscheidend für das Thema unseres Nachtrags ist nun, dass die Vorbereitung dieser ersten Werkausgabe kurz vor dem Abschluss der redaktionellen Arbeiten plötzlich in eine Krise gerät. In einem Brief vom 25. Juni 1953 an Adorno verkündet Suhrkamp, dass er von dem Plan zurückgetreten sei. Gründe sind wahrscheinlich das plötzlich erkennbare ökonomische Risiko, schließlich war auch der erste Benjamin-Titel von 1950 trotz mehrerer positiver Rezensionen (von Max Rychner, Dolf Sternberger, Max Bense) kein Erfolg, Suhrkamp habe es gar „das am schlechtesten zu verkaufende Buch seines Verlags“ genannt (nach Tiedemann 1989, S. 10). Adorno schlägt vor, es ohne Wissen Suhrkamps gleich bei Salman Schocken zu versuchen, dem Verleger Kafkas wie auch Scholems selbst (mit Verlagen in Jerusalem und dann New York): „da wir in dieser Sache nicht so leicht nachgeben sollten und mit äußerster Diplomatie verfahren müssen, um trotz allem die Ausgabe zu realisieren“, schreibt er am 1. Juli 1953 an Scholem. Das entscheidende Motiv für den Rückzug Suhrkamps scheint aber eine Meinungsverschiedenheit mit seinem Lektor Friedrich Podszus gewesen zu sein, der Benjamin bereits 1921 in Heidelberg kennengelernt hatte. Podszus verlangte, man müsse die Dissertation über den „Begriff der Kunstkritik“, die Abhandlung über das „Trauerspiel“ und die Baudelaire-Arbeit unbedingt mit dem ganzen gelehrten Apparat drucken und außerdem Zitate aus Dramen und Gedichten so wiedergeben, wie sie Benjamin zu zitieren gewohnt war, also nicht, wie üblich, deutlich als solche gekennzeichnet. Als der Lektor nach einer kurzen Bedenkzeit bei seinen Forderungen blieb, wurden die Arbeiten an der Ausgabe eingestellt. Suhrkamp schreibt dazu im Brief vom 25. Juni an Adorno: „Wollte ich den Forderungen von Herrn Podszus folgen, hieß das für mich, die Ausgabe von vornherein tot zu verlegen. Das ist mir aber einmal ein zu kostspieliges Unternehmen, so daß ich es mir gar nicht leisten kann; es erscheint mir aber auch unsinnig“ (Tiedemann 1989, S. 11).

Aber dann geschieht, wohl im Laufe des Jahres 1954, etwas (von heute aus gesehen) Erstaunliches: Adorno wendet sich, vermittelt durch den an Benjamin interessierten Lektor Friedhelm Kemp (nicht den Verlagsleiter Heinrich Wild, wie Adorno im Brief vom 5. April 1955 rückblickend schreibt und Tiedemann richtiggestellt hat), zunächst an den katholischen Kösel-Verlag, und als dieser wegen seines offensichtlich inkompatiblen Leserkreises doch ablehnt, an den Münchener Verlag von C. H. Beck, mit dem es zu einer raschen Einigung kommt, bis hin zu einem unterschriftsreifen Vertrag. Adorno darüber in demselben Brief vom 5. April an Scholem: Kösels Lektor „gab dann das Material an den Verlag Beck weiter und intervenierte dort sehr energisch. Das tat auch mein Freund Arnold Hauser (der Verfasser der „Sozialgeschichte der Literatur und Kunst“), und es ereignete sich das Wunder, dass Beck, an sich ein konservativer Verlag, tatsächlich es übernahm, die Benjamin-Ausgabe herauszubringen, allerdings in einer gegenüber dem großen Plan, den Suhrkamp und Podszus mit mir aufgestellt hatten, etwas eingeschränkten Form.“[3] Suhrkamp, der „niemals definitiv abgelehnt“ und, wie Adorno schreibt, ihn gebeten hatte, „ehe ich einen anderen Vertrag unterschriebe, ihm noch einmal eine Option zu geben“, entschließt sich dann doch – „innerhalb von zwei Tagen“ –, die Ausgabe selbst herauszubringen. Sie erschien schließlich Mitte Oktober 1955 in zwei Bänden unter dem Titel „Schriften. Herausgegeben von Th. W. Adorno und Gretel Adorno unter Mitwirkung von Friedrich Podszus“. Im Jahre 1966 folgten zwei Bände „Briefe“, herausgegeben von Adorno und Scholem, nachdem zuvor unter den Titeln „Angelus Novus“ (1961) und „Illuminationen“ (1966) zwei Einzelbände mit „Ausgewählten Schriften“ erschienen waren, die auf der Ausgabe von 1955 fußten und diese ersetzen sollten; sie verzichten jedoch auf die Dissertation „Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik“ (Bern: Francke 1920), die Abhandlung „Ursprung des deutschen Trauerspiels“ (Berlin: Rowohlt 1928) und die „Einbahnstraße“ (Berlin: Rowohlt 1928), drucken dafür aber einige kürzere, in die „Schriften“ nicht aufgenommene Arbeiten Benjamins. Zusammen mit mehreren Einzelausgaben in der Bibliothek Suhrkamp und den Taschenbuchreihen des Verlags war damit in diesen Jahren die Schwelle zu jener ungeheueren Erfolgsgeschichte erreicht, die um 1955 gewiss noch nicht absehbar gewesen ist. Sie ereignete sich freilich in einem spezifischen theoretisch-philosophischen und politischen Bezugsrahmen, der, wie man heute (hoffentlich) etwas klarer zu sehen anfängt, dem angemessenen Verständnis von Benjamins Texten nicht in jeder Hinsicht günstig gewesen ist.

Mit der Rückkehr zu Suhrkamp war diese wie auch die weitere Verbindung zu Beck gestorben, dem  Adorno in diesen Jahren ja keineswegs so fremd gegenüber gestanden hatte, wie das vom heutigen Standpunkt aus, jenseits der folgenden Jahrzehnte, scheinen mag. Schon früh hat Adorno etwa Oswald Spengler, dem wohl wichtigsten Beck-Autor der Zwischenkriegszeit und auch noch später, einen besonders hellsichtigen Essay gewidmet.[4] Andererseits wurde Beck dann nicht zufällig der Verlag eines der kulturkritischen Antipoden der Frankfurter und Adornos im Besonderen, nämlich von Günter Anders.[5] Aber der besondere Reiz dieser vergessenen Geschichte liegt doch darin, dass man um 1954/55 bei Beck (wie auch bei Suhrkamp) haarscharf an einer Weichenstellung vorübergegangen ist, die den Kurs beider Verlage in eine ganz andere Richtung hätte lenken können, als wir sie kennen, mit vielleicht unabsehbaren Folgen für die intellektuelle Kultur in diesem Land! Denn in den Jahren vor 1955, also auch lange vor Herbert Marcuse, Jürgen Habermas und Alexander Mitscherlich, Jacob Taubes und Peter Szondi, war es noch keineswegs so, dass alle Kenner und Unterstützer der Traditionen der Frankfurter Schule, der kulturkritischen Psychonanalyse sowie eines entschieden ‚westlichen‘ Neomarxismus überhaupt daran gedacht hätten, wieder in Deutschland zu publizieren, geschweige denn sich bei einem bestimmten Verlag wie Suhrkamp in Frankfurt zu versammeln. Man hätte sich in der Folgezeit vielleicht sehr schnell auch bei Beck versammeln können, im Prinzip wenigstens. Gewiss, unwahrscheinlich ist es trotzdem: ausgerechnet in München, das wie sonst nur Nürnberg eine der Hauptstädte der braunen Vergangenheit gewesen ist. Andererseits ist München, lange vor dem Aufstieg Berlins in der Zwischenkriegszeit, das deutsche Zentrum der klassischen Moderne um 1900 gewesen und immerhin der Schauplatz eines linkspolitischen Experiments wie des „Freien Volksstaats Bayern“ unter Kurt Eisner und nach dessen Ermordung bis Mai 1919 der „Münchner Räterepublik“.

Auch der „Neuen Frankfurter Schule“, die schneller vergessen wurde, als es der „Alten“ jemals gelingen wird, ist der Fall entgangen. Einer der Spaßvögel aus der Gruppe um Henscheid, Gernhardt und Konsorten soll aber nachträglich einen kleinen Text verfasst haben, der wie folgt geht:

Wie Adorno einmal der Kragen platzte und er dem alten Suhrkamp die Meinung sagte

„Wenn du den Benjamin nicht verlegst, dann geh ich zu Beck, und Max und ich machen mit unserer Frankfurter Schule eben in München weiter. Der Spengler hat den Untergang wenigstens schon hinter sich, während er dem Brecht und deinem ewigen Hesse immer noch bevorsteht!“ Ihr hättet sehen sollen, was da im Verlag los war! Der Suhrkamp lief blaß durch die Gänge und konnte ganze Nächte nicht mehr schlafen. Er hatte echt Angst, die ganze Suhrkamp-Kultur zu vergeigen, lange bevor sie überhaupt in Kraft getreten war. „Dann druck halt in Gottes Namen deinen Benjamin, lieber Teddy“, brachte er schließlich eines Morgens mit letzter Kraft heraus und gab grünes Licht für eine glänzende Zukunft. Nur den Barlach und die Berkéwicz, die sich die größte Mühe geben, das Licht wieder auszumachen, kannte er natürlich noch nicht.

Anmerkungen:

[1] Vgl. Rolf Tiedemann: Die Abrechnung. Walter Benjamin und seine Verleger. (Hamburg): Kellner Verlag (1989), S. 9.

[2] Nach Bemerkungen von Rolf Tiedemann in: Theodor W. Adorno. Um Benjamins Werk. Briefe an Gershom Scholem 1939-1955. In: Frankfurter Adorno Blätter V (1998), S. 143-195, hier 143. Der Abdruck dieser Briefe und vor allem die Kommentare des Herausgebers sind die wichtigste Quellen für das Folgende („Tiedemann 1998“). Es handelt sich dabei um die auf Benjamin bezogenen Gegenbriefe Adornos zu den Briefen Scholems, die zuvor in Bd. II der Ausgabe der Briefe Scholems im Beck-Verlag erschienen sind: Gershom Scholem: Briefe II, 1948-1970. Herausgegeben von Thomas Sparr. München 1995 (darin an Adorno die Briefe Nr. 13, 14, 17, 22); leider wurde die ausgezeichnete Schriftenreihe der Frankfurter Adorno Blätter (München: edition text+kritik, 1992-2003) nach 8 Bänden eingestellt. Verglichen wurde auch Tiedemann: Die Abrechnung (1989), wie Fn 1 („Tiedemann 1989“), darin vor allem lesenswert der Abschnitt „Wie Benjamin zu Suhrkamp kam“ (S. 8-13), in dem etwas mehr mitgeteilt wird als in den Kommentaren zu oben genannten Briefen Adornos. Der Rest des schmalen Bandes und der Anhang beziehen sich auf die von Tiedemann seit 1972 herausgegebenen Gesammelten Schriften Benjamins und dokumentieren dessen Zerwürfnis mit dem Verleger Unseld wegen Honorarfragen.

[3] Über die damalige freundschaftliche Beziehung Adornos zu Arnold Hauser († 1978 in Budapest), der als Emigrant noch in England lebte und Autor des Beck-Verlags geworden war, unterrichtet der von Günther Schiwy besorgte und eingeleitete Briefwechsel: Arnold Hauser und Theodor W. Adorno. Zeugnisse einer Freundschaft. In: Der Aquädukt 1763-1988. Ein Almanach aus dem Verlag C. H. Beck im 225. Jahr seines Bestehens. München: C. H. Beck 1988, S. 507-514. Zu Hausers Vermittlungsaktion ist diesen Briefen nichts zu entnehmen. Wie Tiedemann (1998) vermutet, dürfte sie mündlich erfolgt sein (vgl. oben Fn 2, S. 181).

[4] Vgl. Theodor W. Adorno: Spengler nach dem Untergang. Als Vortrag engl. 1938, Druck engl. 1941; deutsch zuerst in Der Monat (1950) und schließlich in Th. W. A.: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1955. Zur Rezeption Spenglers auch Herbert Jaumann: Oswald Spengler, „Der Untergang des Abendlandes“ (1918/1922). In: Jahrhundertbücher. Große Theorien von Freud bis Luhmann. Herausgegeben von W. Erhart und H. Jaumann. München: Beck 2000, S. 52-72.

[5] Vgl. den hochinteressanten brieflichen Dialog Adornos mit Anders aus dem Jahr 1963 in: Adorno. Eine Bildmonographie. Herausgegeben vom Theodor W. Adorno Archiv. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 276-284.

Titelbild

Stefan Rebenich: C.H. Beck 1763-2013. Der kulturwissenschaftliche Verlag und seine Geschichte.
Verlag C.H.Beck, München 2013.
861 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783406654008

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