Duden und Pflasterstein

Über Jürgen Theobaldys Roman „Aus nächster Nähe“

Von Heike HaufRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heike Hauf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Richard, von seinen Freunden Riko gerufen, lebt in einer WG in Berlin, ist freier Schriftsteller und hält sich mit Aushilfsarbeiten für einen Verlag über Wasser. Er trauert einer alten Liebe nach, deren Spuren sich vor einiger Zeit im Ausland verliefen. Jetzt soll sie, nach Auskunft gemeinsamer Bekannter, wieder da sein – in Berlin. Riko begibt sich auf die Suche nach Mara, überdenkt dabei sein Leben und wird vom Zufall überrascht.

Dem Plot nach könnte es sich um einen modernen Hipster-Roman handeln, der die coolsten Ecken Berlins ausspäht und den ständigen Aufbruch zelebriert. Er ist alles, nur das nicht. Denn Riko ist vierzig und sein Lebensmittelpunkt befindet sich in Charlottenburg und nicht im Prenzlauer Berg, es sind die 1990er-Jahre, lange vor der digitalen Boheme.

Jürgen Theobaldy, der in den 1970er-Jahren mit Lyrik seine Schriftstellerlaufbahn begann und in diesem Jahr selbst zu den Siebzigern zählen wird, hat einen Roman über die Midlifecrisis eines Altachtundsechzigers geschrieben. Dabei ist das zentrale Thema nicht das Verhältnis von politischen Zielen und privatem Glück, sondern von künstlerischer Freiheit und persönlichen Verbindlichkeiten.

Die Suche nach seiner alten Liebe Mara veranlasst Riko dazu, Bilanz zu ziehen. Sein bisheriger Lebensweg wird an den einstigen Proklamationen gemessen. Riko sitzt im Café Bleibtreu und überarbeitet ein Kapitel aus seinem Roman. Er stellt fest, dass „der Duden … ein anderes Gewicht als ein Pflasterstein“ hat. Politik und Poesie, das war für den Protagonisten kein Widerspruch, sondern erklärtes Ziel der „Ganzheit“. Zu jener Zeit hieß es aber nicht „poetisiert“, sondern „politisiert euch“. Riko führte sein Weg nicht zu künstlerischer Produktivität („daraus wird kein Roman“) oder einer beruflich nachhaltigen Perspektive. Diskussionen über Revolution und Gesellschaft werden auch in seiner WG nicht mehr geführt. Die Zeiten haben sich geändert, zusammenschweißende politische Aktionen stehen nicht mehr auf der Tagesordnung. Gunther, der Mitbewohner, der sich all die Jahre in einem Taxikollektiv durchgeschlagen hat, will sich mit einem „privaten Tortelloni-Club“ als Unternehmer in der Gesellschaft etablieren – „Es war Zeit“.

Der äußere Wandel ist der Auslöser für Rikos Sehnsucht nach seiner alten Liebe. Denn jetzt möchte er sich für Verlässlichkeit und währende Liebe entscheiden. In seiner verklärten Erinnerung ist die Liebe eine Insel „gegen den Rest der Welt“. Ihm erscheint die damalige Furcht vor der Bindung nun als Luxus. Der Traum von der ewigen Jugend, das Ausprobieren ist vorbei. Das Unverbindliche, das Vage und Verträumte soll von der Realität und einem Gestaltungswillen abgelöst werden.

Er durchstreift immer wieder die alten Kneipen und lässt die alten Zeiten an seinem inneren Auge vorbeiziehen. Wie es mit seiner künstlerischen und persönlichen Entwicklung weitergehen könnte, ist die alles entscheidende Frage. Er findet aber nicht eine Antwort, sondern trifft auf zwei Frauen: Eine Liebe aus der Vergangenheit, deren Idealismus er nicht hatte gerecht werden können. Eine neue Liebe, die ihm wieder alle Möglichkeiten eröffnet.

Die Selbstreflexionen mit ihren poetischen Momenten gipfeln in einer Traumsequenz, in der Riko endlich per Fallschirm seine Geliebte erobern kann, dabei aber hart landet. Das Draufgängerische, das der Autor in „Blaue Flecken“ gefährliche Spritztouren mit Goethe unternehmen ließ, blitzt hier erneut auf. Dichtung ist noch immer Abenteuer.

Dabei bleibt dies ein leichter Roman, der zurückblickt mit einem sentimentalen Auge und mit dem anderen schelmisch blinzelnd.

Titelbild

Jürgen Theobaldy: Aus nächster Nähe. Roman.
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2013.
183 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783884234419

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