Die Stille im Auge des Orkans

Matthias Politycki reist mit seinem Helden Alexander Kaufner ins zentralasiatische Turkestangebirge, um die westliche Zivilisation zu retten

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Europa versinkt im Chaos. Von Frankreich her schwappen die Heere des Kalifen über den Rhein, im Osten droht das Panslawische Heer. Einzig die Türkei hält noch zu Deutschland und seinem Kanzler Mehmet Yalçin. Zudem versuchen ein paar „Freie Feste“ über das Land verstreut ihre Unabhängigkeit zu behaupten. Aus einer von ihnen, der Freien Feste Wandsbek, kommt Alexander Kaufner, ein ehemaliger DDR-Grenzschützer, der Ende der 1980er-Jahre vor dem finalen Schuss an der Zonengrenze auskniff. Jetzt, 40 Jahre später, soll er die Welt retten.

Der in Hamburg lebende Münchner Matthias Politycki mag Ausflüge in fremde Regionen – reisend ebenso wie literarisch. In den letzten Jahren ist er mit seiner Faustparabel „Herr der Hörner“ (2005) ins schwarze Innere Kubas vorgedrungen, auf der MS Europa hat er in 180 Tagen die Welt umschifft (2009) oder die Londoner Pubs poetisch auf ihre Biere hin überprüft („London für Helden“, 2011). Dabei liebt er es, Ernst und Ironie, erzählerisches Spiel und literarische Technik immer wieder neu zu einer für die Lektüre verführerischen Einheit zu formen.

Der neue Roman macht da keine Ausnahme. Die frühesten Notizen dazu, so Politycki, gehen auf seine literarischen Anfänge zurück. Fasziniert von einem Besuch in Samarkand wollte er schon 1987, noch vor Erscheinen seines experimentellen Erstlings „Aus Fälle / Zerlegung des Regenbogens“, einen Samarkand-Roman schreiben. Es hat dann länger gedauert, ohne dass die Faszination für jene Welt hinter den bekannten Horizonten, im Grenzfünfeck von Kasachstan, Usbekistan, Kirgistan, Turkmenistan und Tadschikistan, verblasst wäre. In „Samarkand Samarkand“ entfaltet sie nun eine exotische Spannung, deren Knistern bis in die Sprache hinein zu spüren ist.

Alexander Kaufner macht sich auf, in dem verwunschenen kahlen Turkestangebirge die westliche Welt zu retten. Sein Ziel ist das Grab des legendären Mongolenherrschers Timur. Wenn er es zerstören würde, glaubt er, wenn er die mythische Kraft seiner Gebeine bannen könnte, dann käme der Vormarsch der islamischen Horden zum Erliegen und Deutschland wäre gerettet. Zauber und Gegenzauber, Mythos gegen Mythos. Allerdings gibt es Tausende von Gräbern in dem weitläufigen Gebirge, deren Geheimnisse zuallerletzt einem Fremden ausgeplaudert werden. Und darum herum herrschen wilde, islamische Krieger, vor denen sich Kaufner in Acht nehmen muss.

Seine Wanderung über die Berge gerät zu einer rite de passage in einen andern Bewusstseinszustand. Die Zeit bleibt stehen, und Deutschland rückt immer weiter in die Ferne. Kaufner erhält keine Nachricht mehr von drüben. Er ergibt sich der eigenen Logik seiner Suche. Seinem ersten Führer, dem treuen Odina, hat er ohne Grund misstraut, deshalb macht er sich ein zweites Mal allein in die Unwirtlichkeit auf. Einzig aus Samarkand erhält er spiritistische Unterstützung. Shochi, ein wunderliches Mädchen, ist ihm zutiefst zugetan, es ist ein Schutzgeist, soweit es seine unheimlichen Visionen vermögen. So stapft der ehemalige Scharfschütze Kaufner übers wüste Geröll, das Gewehr umgehängt. Mal kauft er sich von Bauern eine Speise ab, mal erhält er Unterschlupf bei Outcasts in einer abenteuerlichen Containersiedlung inmitten aufragender Felsen.

Matthias Politycki begleitet ihn mit einer literarischen Präzision und Bildkraft, die das ewige Einerlei dieser Märsche vergessen macht. Abgesehen von einzelnen kurzen Reminiszenzen an die zerstörte Heimat oder an die historische Gestalt des schrecklichen Timurs, breitet sich in seinem Romanen eine kahle Ödnis aus. Umso verführerischer schillern die kleinen Episoden, die Kaufner widerfahren. „Samarkand Samarkand“ entfaltet eine suggestive Wirkung, in der alles in ein funkelndes, grelles Irrlicht getaucht wird, über die Grenzen hinweg, schwebend zwischen Erde und Himmel, zwischen Leben und Tod, zwischen Auftrag und Sinnlosigkeit.

In dieser Vision einer Zukunft, die um das Jahr 2026/27 herum spielt, reflektiert Politycki die existentiellen Ängste der europäischen Kultur und Zivilisation. Sie wird – einem Menetekel gleich – von einer anachronistischen Kultur aufgesogen. „Samarkand Samarkand“ ist ein spannendes Abenteuerbuch, zugleich ist es ein Abgesang auf dieses Genre in einer Zeit, in der nichts mehr zu retten und geradezubiegen ist. Detailscharf zeichnet der Roman eine Welt, die im Schein der präzisen Beschreibung irreal wird. Es geht ums Ganze, doch worin besteht dieses Ganze? Die Vorstellung einer möglichen Zukunft evoziert ein komplexes Gewirr von Ahnungen und Ängsten, die für Politycki eine zentrale Frage aufwerfen. Wie bewahren wir das aufgeklärte Fundament der europäischen Kultur? Darum geht es in diesem Buch, nicht um Leitkultur und Nostalgie.

Am Ende erreicht Kaufner sein Ziel. Allein die Welt ist nicht zu retten, und Erlösung gibt es keine. Verloren steht er in der Ruinenstadt am „Leeren Berg“, über den Lesern kreisen die Adler.

Titelbild

Matthias Politycki: Samarkand Samarkand. Roman.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2013.
400 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783455404432

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